Antonio Ungar  Vom Glück, ein Axolotl zu sein

“Sangue de caatingueiro”, 2024. Acrylfarbe und Permanentmarker auf Rohleinen.
“Sangue de caatingueiro”, 2024. Acrylfarbe und Permanentmarker auf Rohleinen. © Aislan Pankararu. Foto: Ricardo Prado

Der kolumbianische Schriftsteller Antonio Ungar glaubt, dass es große Herausforderungen und Risiken birgt, anders – fremd, seltsam – zu sein. Es versetzt uns aber auch in die Position des „privilegierten Beobachters“ in einer Welt, die zunehmend versucht, uns einander anzupassen und Unterschiede zu eliminieren.

Dem Wörterbuch darf man nicht alles glauben, aber es hat auch recht, wenn es sagt, dass fremd [Spanisch: „extraño“] „nicht dem eigenen Land oder Volk angehörend, eine andere Herkunft aufweisend“ bedeutet. Und wenn es als Synonym anders oder seltsam [Spanisch: „raro“] nennt. Und wenn es die Bedeutungsnuancen von anders angibt: „nicht gleich“, „abweichend“, „verschieden“, „ungewohnt“.

Ich bin in Bogotá geboren, meine Mutter war eine katholische Kolumbianerin, mein Vater ein Nachkomme österreichischer Juden, mein Stiefvater Atheist, und ich bin mit einer muslimischen Palästinenserin verheiratet, die in einer arabischen Gemeinde auf israelischem Staatsgebiet aufwuchs. Wohin meine Kinder auch gehen, sie werden als „anders“, fast außergewöhnlich wahrgenommen. Zu allem Überfluss leben wir auch noch in Deutschland, das manchmal nichts aus seiner Vergangenheit gelernt zu haben scheint und wo immer größere Bevölkerungsgruppen sich für die Ausweisung der „Anderen“ aussprechen.

In unserer Familie sind wir alle wie Gregor Samsa, gefangen in unserer Andersartigkeit, gequält vom Erwachen in dieser Welt, die durch den Kapitalismus, durch Mehrheitsdiktaturen uniformiert wurde. Und dennoch, davon bin ich überzeugt, ist unser Leben durch das, was wir sind, viel komplexer, viel intensiver. Anderssein bedeutet, was Kafka beschrieben hat, ja, aber es bedeutet auch, einen privilegierten Beobachtungsstandpunkt zu haben und auswählen zu können, nach welchen Traditionen man lebt.

Manchmal denke ich, dass sich unsere Position mit der eines Reisenden in Kolumbien vergleichen lässt. Während man in Europa monatelang auf den Sommer oder den Winter wartet, braucht man in Kolumbien nur ein paar Kilometer weiterzufahren, um sich je nach Höhe über dem Meeresspiegel wie in Sibirien oder im Kongo zu fühlen. Und das entspricht mehr oder weniger dem Aufwachsen in einer Familie „ohne kulturelle Identität“, oder vielmehr mit mehreren Identitäten, die Hand in Hand koexistieren und voneinander profitieren können.

Aber wie werden wir von der Mehrheit gesehen? Vielleicht lässt es sich am besten mit Julio Cortázars Erzählung „Axolotl“ veranschaulichen. In meinem Gebäude leben, wie so oft in Berlin, nur wenige Deutsche. Wir sind alle auf die eine oder andere Art und in unterschiedlicher Ausprägung Ausländer, Fremde. Damit meine ich, dass wir anders sind als die Mehrheit. Meine Nachbarn bekommen alle ein bis zwei Jahre Besuch von

Verwandten. Cousins aus dem Sudan, Geschwister aus der Ukraine, Onkel und Tante aus Paraguay. Die Deutschen – Berliner Deutsche, die weder rechts noch extrem rechts wählen – sind an uns Ausländer gewöhnt und beäugen uns mit einer Mischung aus Neugier und der für sie typischen arglosen Ironie.

Allerdings liegen in diesem Blick, ebenso wie im Blick des Mannes, der in Cortázars Erzählung Axolotl beobachtet, auch Bewunderung und Angst. Bewunderung für unsere außerordentlichen Unterschiede, für unsere offensichtliche Fähigkeit, verantwortungslos dem Leben zu frönen – vor allem, wenn wir aus dem „Globalen Süden“ kommen: Partys unter der Woche, stark gewürzte Gerichte, laut sprechen, Küssen in der Öffentlichkeit, kurz sämtliche Klischees, die zur „Dritten Welt“ passen und die sich in einigen Situationen bewahrheiten und so unser Anderssein untermauern.

Cortázars Erzähler, der Cortázar selbst zu sein scheint, ist davon besessen, Axolotl in einem Aquarium zu beobachten. Nach und nach, beinahe unmerklich, verschiebt sich sein Blickwinkel, bis die Veränderung unumkehrbar wird: Er ist kein Mensch mehr, sondern befindet sich hinter der Glasscheibe, ebenso wie die anderen Axolotl, und wir stellen überrascht fest, dass er von dort aus, als Axolotl, der immer noch über seine Verwandlung entsetzt ist, die Geschichte erzählt.

Die Angst einiger Deutscher vor dem Ausländer, dem Fremden ist, davon bin ich überzeugt, auch die Angst, sich ebenfalls in einen Axolotl zu verwandeln, so wie Cortázar in seiner Erzählung. Die Angst, ihre Komfortzone zu verlassen, ihre Geschichte, ihre Traditionen zu verlieren und als Individuum oder Gruppe ein wenig „anders“ zu werden. Diese Angst, so scheint es, äußert sich auf zwei Arten: durch einen Blick, der zwischen Bewunderung und Neid changiert, oder durch eine immer deutlichere und schamlosere Xenophobie.

In Zeiten, in denen das unerbittliche Gesetz des Stärkeren gilt, setzen sich in Bezug auf das Anderssein offenbar leider die Schläger gegen die Neugierigen durch, also gegen diejenigen, die anfällig sind, der Versuchung zu erliegen.

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