Interview mit Rosane Borges  “Rassismus ist eine treibende Kraft des Kapitalismus”

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Welche Rolle spielen ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe und Geschlecht für Marx in seiner Analyse ökonomischer und sozialer Dynamiken?

Sah Karl Marx in rassistischen Kategorien einen Faktor der Ausbeutungsverhältnisse durch Arbeit? Rosane Borges, Postdoktorandin der Kommunikationswissenschaften am Institut für Kommunikation und Kunst der Universität von São Paulo, sagt nein. Die Autorin von zahlreichen Büchern zum Thema sieht es als eine “Schuld” der Marxistischen Theorie an, das Entstehen von Ungleichheiten und Hierarchien auch unter dem Blickwinkel von Rassismus und Sexismus zu betrachten.

Frau Borges, wie fügt sich Rassismus in den Kontext der Ausbeutung von Klassen und die Reproduktionsstruktur des Kapitalismus ein?
 
Rassismus wohnt allen Formen von Ausbeutung inne. Kapitalismus etabliert sich daher über rassiale Hierarchien und benötigt sie, um die ihm zugrundeliegende Expropriation zu vertiefen. Der französische Philosoph Gilles Deleuze sieht unter dem Begriff Rasse den Wahn gären. Rassismus ist das Motiv für unglaubliche und unermessliche physische Verwüstungen, Verbrechen und Massaker. Das Motiv solcher Verbrechen, das lehrt uns die Geschichte, liegt in  Formen der Unterwerfung und der Herrschaft.
 
Der am Institut für Sozial- und Wirtschaftsforschung der Universität Witwatersrand in Südafrika lehrende kamerunische Denker Achille Mbembe erinnert daran, dass am Beginn des Kapitalismus der atlantische Sklavenhandel des 15. bis 19. Jahrhunderts zu Verwerfungen aller Art führte, etwa zum Entzug jeder Selbstbestimmung schwarzer Personen, die zu menschlichen Objekten, menschlicher Handelsware und menschlicher Währung gemacht wurden.
 

In Brasilien nehmen Schwarze weiterhin und ungeachtet der Veränderungen der letzten Jahrzehnte die am wenigsten angesehenen Stellungen im Arbeitsmarkt ein und besetzen weitgehend immer noch die Position derer, die nichts haben.

Rosane Borges


 
Diese gewaltsame Transformation von Körpern und Subjektivitäten ist der entscheidende Beginn eines Kapitalismus unter dem Paradigma der Unterwerfung – ein Modell der Ausbeutung und der Enteignung, über das sich der Mantel der Geschichte gelegt hat. Betrachten wir mit nur einem Mindestmaß an Aufmerksamkeit die Rollen der Nichtweißen in der Welt, erkennen wir die Klassenposition des Unterworfenen, die ihnen der Rassismus in der ausbeuterischen Dynamik des Kapitals zuweist. In Brasilien nehmen Schwarze weiterhin und ungeachtet der Veränderungen der letzten Jahrzehnte die am wenigsten angesehenen Stellungen im Arbeitsmarkt ein und besetzen weitgehend immer noch die Position derer, die nichts haben. Rassismus ist also eine treibende Kraft des Kapitalismus.
 
Wie steht die marxistische Theorie zu dieser Frage?
 
Die marxistische Theorie betreibt einen grundlegenden Bruch: Sie entzieht der Theologie, dem göttlichen Recht und der Biologie die Deutungshoheit über Ungleichheiten und Hierarchien. Die Sozial- und Wirtschaftstheorie, aus der sich die marxistischen Postulate ableiten, hat der Kategorie Klasse, als eines der wichtigsten Merkmale der Moderne, jedwede Verbindung zur Welt des Natürlichen ausgetrieben. All das spiegelt sich in neuen Formen der Konzeption von Subjekt. Der Diskurs von Selbsterkenntnis und Identität entsteht erst im Lauf der Moderne. Unter den alten Verhältnissen stand Ehre direkt in Zusammenhang mit Exklusion und einer notwendigen Ungleichheit: Damit Einigen Ehre erwiesen wird, dürfen nicht alle sie haben. In der Beschreibung der Monarchie durch Montesquieu lässt sich dieser selektive Charakter von Ehre gut erkennen.
 
Der moderne Diskurs untergräbt den Begriff Ehre zugunsten von Würde in einem universalistischen und egalitären Sinn. Im Gegensatz zu Ehre geht Würde von kollektiver Teilhabe aus, was als Wert kompatibel ist mit dem Aufkommen demokratischer Gesellschaften. Unter denselben politischen Vorzeichen entstehen infolge individuelle Identität und Authentizität. In hierarchischen Gesellschaften war das, was wir heute Identität nennen, festgelegt von der sozialen Position des Einzelnen und den dieser Position zugeschriebenen Rollen oder Tätigkeiten. All diese zweifellos tiefgreifenden Veränderungen arbeiten der marxistischen Wahrnehmung zu, dass das kapitalistische Produktionssystem und historische Veränderung Triebfedern der Rolle der Individuen in der Gesellschaft sind. Doch diese von Marx betriebene Umwälzung verstand ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe und Gender, wie angedeutet, weiterhin als natürlich gegeben und keineswegs als Ergebnis sozialer Herausbildungen. Die Religion, daran erinnert der brasilianische Soziologe Antonio Sérgio Guimarães, wurde nicht als Besonderheit des kapitalistischen Systems begriffen, sondern als etwas diesem Vorausgehendes.
 
Sie würden dem also zustimmen, dass Marx und Engels die Komplexität des Rassismus innerhalb der Widersprüche des Klassenkampfes nicht wahrgenommen haben?
 
Ich würde nicht sagen, dass sie es nicht wahrnehmen, aber wie gesagt, wurden ethnische Zugehörigkeit, Rassismus, Gender und Religion als etwas mit der Natur in Verbindung Stehendes betrachtet und von daher als unerheblich für die Analyse der kapitalistischen Dynamik. Selbstverständlich gab es, wie in jeder Theorie auf dem Prüfstand der historischen Erfahrung, einen sozusagen außerplanmäßigen Einfluss des politischen antirassistischen und antisexistischen Kampfes auf die Weiterentwicklungen des Marxismus. Ein vollständiges Begreifen der Ungleichheiten, der Armut, der Exklusion geht nur über das unlösbare Band zwischen „Rasse“, Klasse und Gender.
 
Wie können wir diese Komplexität unter Berücksichtigung dessen begreifen, dass beider Theorien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formuliert wurden?
 
Sklaverei wurde im Kontext des 19. Jahrhunderts als ein Zivilisationshindernis begriffen. Doch nur in Westeuropa mit England und Frankreich als Vorreiter einer neuen Form der politischen Organisation europäischer Länder. Genau diese bürgerliche Welt erweitert die Ausbeutung des Kapitals um die Verschärfung der Sklaverei dort, wo sich im Westen bereits verschwundene Produktionsformen wie Sklaverei oder Leibeigenschaft von Indigenen oder Afrikanern erhalten hatten - in Afrika oder Asien. Indem sie neue Ausprägungen und Dynamiken annahmen, erhielten sich ethnische Archaismen in den modernen Gesellschaften - eine historische Finte: Den “neuen Menschen” erschaffen, ohne die Absage an Archaismen vergangener Zeiten. In dieser Koexistenz der zwei Welten blieb die Rolle von Gender, ethnischer Zugehörigkeit oder Hautfarbe im Spiel um den Erhalt von Ungleichheit und Hierarchien sowohl in der Sozialtheorie als auch auf dem Gebiet des politischen Handelns weiter unbearbeitet. Dies ist eines der Postulate, das definitiv zum Entstehen des schwarzen Feminismus führte.
 
In „Schwarzer Feminismus und Marxismus. Wer schuldet wem was?“ schließen Sie damit, dass wir der marxistischen Theorie in Rechnung stellen müssen, dass sie die Errichtung von Ungleichheiten und Hierarchien nicht zugleich in Zusammenhang mit Rassismus und Sexismus gesehen hat. Welche Verpflichtung entsteht daraus und wie ist diese Rechnung zu begleichen?
 
Ich habe von offenen Rechnungen gesprochen in Erwiderung auf angeblich marxistische, unbegründete Kritik, die nicht berücksichtigt, dass die Logik des Kapitals sich, wie eine der wichtigsten schwarzen Feministinnen Brasiliens, die Anthropologin Lélia Gonzalez, sehr zutreffend festgestellt hat, aus einer unumstößlichen historischen Wirklichkeit speist: Ausbeutung von Klassen und rassistische Diskriminierung sind Grundelemente im Kampf von Männern und Frauen einer unterworfenen Hautfarbe.

Um bei dem Begriff ‘Schulden’ zu bleiben und in Bezug auf Reduktionen und Missverständnisse, schuldet uns die marxistische Theorie, das Entstehen von Ungleichheiten und Hierarchien auch unter dem Blickwinkel von Rassismus und Sexismus zu betrachten, zweier Varianten, die permanent in den Dienst des Triumphes des Kapitalismus gestellt werden. Da wir aber proaktiv denken, wagen wir zu behaupten, dass schwarze Feminismen in der Lage sind, Einfluss außer der Reihe auszuüben, sich in den vom marxistischen Repertoire geschlagenen Breschen zu bewegen [wie große Werke der Literatur] und Werkzeuge für eine Diagnose der Stratifikation von Klassen zu schaffen, die das Ausgangsmaterial (Rassismen und Sexismen) stärker berücksichtigen - Realitäten, die das Leben von mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung bestimmen.
 

Rosane Borges

ist Journalistin, Professorin und Postdoktorin der Kommunikationswissenschaften am Institut für Kommunikation und Kunst der Universität von São Paulo. Sie veröffentlichte unter anderem: Esboços de um tempo presente (dt. etwa: Skizzen einer gegenwärtigen Zeit; 2016), Espelho infiel: o negro no jornalismo brasileiro (etwa: Trügerischer Spiegel: Schwarze im brasilianischen Journalismus; 2004) und Mídia e Racismo (Medien und Rassismus; 2012)]

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