Politische Systeme  Demokratie: Wer gehört dazu?

Bürger*innen in Österreich stellen sich gegen Rechtsextremismus: Demonstranten und Demonstrantinnen in Linz 2023
Bürger*innen in Österreich stellen sich gegen Rechtsextremismus: Demonstranten und Demonstrantinnen in Linz 2023 Foto (Detail): © picture alliance/Tobias Steinmaurer/picturedesk

Die meisten Länder der Welt sind heute zumindest auf dem Papier demokratisch verfasst. Aber wie demokratisch sind die Demokratien von heute? Und was bedeutet das überhaupt: Demokratie?
 

Internationale Politik verhält sich oft wie eine große Familie – tauchen Probleme und Krisen auf, werden die (Familien-)Vertreter*innen zusammengetrommelt und an einen Tisch gebeten: Lasst uns treffen, wir müssen reden. So finden wegen des Klimawandels regelmäßig internationale Treffen statt, und auch bei der Finanzkrise 2008 jagte ein Sondergipfel den anderen. Im Dezember 2021, während der weltweiten Corona-Pandemie, lud US-Präsident Joe Biden sogar zu einem virtuellen Demokratiegipfel ein. Von 195 Ländern auf der Welt wurden 110 gebeten teilzunehmen – all die Länder, die die USA für demokratisch etabliert halten.

Diese Auswahl verursachte einigen Ärger: Warum war Polen dabei, das Land, das damals von der EU-Kommission wegen einer Justizreform, die die richterliche Unabhängigkeit schwinden ließ, scharf kritisiert wurde? Und Brasilien mit seinem damaligen rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro? Warum gehörte der NATO-Partner Türkei nicht zu den teilnehmenden Staaten? China hatte akzeptiert, dass es selbst nicht eingeladen war, aber dass Taiwan mitmachte – das ging zu weit.

Es erweist sich als Konfliktpunkt, wer wen für wie demokratisch hält. So war es von Anfang an, und so ist es bis heute. Demokratie, das ist ein Prozess, kein Produkt – und dieser Prozess ist immer in Entwicklung.

Eine Regierung des Volkes – aber wer ist das Volk?

Demokratie ist ein Prozess – wer zum wahlberechtigten Volk gehört, wurde über die Jahrhunderte immer wieder neu ausgehandelt: March on Washington for Jobs and Freedom 1963 in den USA, dessen Teilnehmer*innen unter anderem gleiches Wahlrecht für alle forderten. Demokratie ist ein Prozess – wer zum wahlberechtigten Volk gehört, wurde über die Jahrhunderte immer wieder neu ausgehandelt: March on Washington for Jobs and Freedom 1963 in den USA, dessen Teilnehmer*innen unter anderem gleiches Wahlrecht für alle forderten. | Foto (Detail): © Unseen Histories/Unsplash Den ersten Schritt – aus heutiger westlicher Sicht – wagte der griechische Staatsmann und Adlige Solon vor rund 2600 Jahren, als er den Athener Adel entmachtete und stattdessen den Vermögenden im „Rat der 400“ Rechte übertrug, darunter auch Nichtadligen. Von der heutigen Definition der Demokratie als einer Herrschaft, die vom Volk ausgeht, war das zwar noch weit entfernt – Ärmere, Frauen und Sklaven waren hier nicht beteiligt. Und Solons Idee, zumindest einem Teil des Volkes mehr Macht zu geben, existierte auch schon woanders: Die westgermanischen Stämme hatten zur gleichen Zeit bereits als wichtige politische Instanz eine Volksversammlung der waffentragenden Männer.

Dennoch gilt Griechenland seitdem als Wiege der Demokratie, die als politische Herrschaftsform mittlerweile weit verbreitet ist. US-Präsident Abraham Lincoln beschrieb sie im 19. Jahrhundert so: „Demokratie ist die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk.“ Zum Volk rechnete er aber nicht die Frauen – die bekamen erst im 20. Jahrhundert ein Wahlrecht.

Die Essenz sind die Werte

In Form und Inhalt hat sich die Demokratie stetig ausdifferenziert: Wie der Wille des Volkes ermittelt wird, kann weltweit ganz unterschiedlich aussehen. Die häufigste Form ist die repräsentative Demokratie – das Volk wählt, wer die Macht übertragen bekommt und die Regierung bilden soll. Das kann ein parlamentarisches Regierungssystem sein, wie in Deutschland mit seinen Parteien und dem mächtigen Bundestag, oder ein präsidentielles System wie in den USA, wo ein*e gewählte*r Präsident*in die meiste Macht innehat. Daneben existieren diverse Mischformen.

Die Form allein macht ein Land aber noch lange nicht zu einem demokratischen Staat. Wählt das Volk auf diesem Wege einen Autokraten oder eine Autokratin, welche*r danach wesentliche Rechte des Volkes beschneidet, dann ist das Ergebnis keine Demokratie, sondern stattdessen eine Wahldiktatur. Denn die Essenz einer Demokratie sind ihre Werte, ihre Prinzipien.

Fundamental dafür sind freie und gerechte Wahlen. Weiterhin essenziell ist die Gewaltenteilung, denn die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative soll Machtmissbrauch verhindern. Ein funktionierender Rechtsstaat gehört ebenfalls dazu – Gesetze, an die sich alle halten müssen, auch die Politik. Unabdingbar sind zudem freie Medien, die so genannte „Vierte Gewalt“. Einen hohen Stellenwert nehmen die Menschenrechte ein – und die Achtung derselben.

Aber auch hier gibt es kein allgemeingültiges Standardrezept. Wenn, wie in Belgien und in der Schweiz, Medien staatlich unterstützt werden – sind sie dann unabhängig? Wenn ein Land foltern lässt, verletzt es Menschenrechte – sind die USA mit ihren Guantanamo-Gefängnissen also wirklich demokratisch? Oder nehmen wir das Prinzip, dass es eine Verfassung gibt, wie das Grundgesetz in Deutschland, und damit einen verbindlichen Rahmen für Staat und Bürger*innen. Da lässt sich konstatieren, dass Großbritannien zwar keine kodifizierte Verfassung wie fast alle anderen Demokratien hat, aber dennoch laut Demokratieindex zum Kreis der Demokratien zählt – wie übrigens auch die USA, wie Belgien, wie die Schweiz.

Das demokratischste Land der Welt

Wahlen allein machen noch keine Demokratie: Die USA gelten seit der Trump-Ära im Demokratie-Index als „unvollständige Demokratie“. Wahlen allein machen noch keine Demokratie: Die USA gelten seit der Trump-Ära im Demokratie-Index als „unvollständige Demokratie“. | Foto (Detail): © Samantha Sophia/Unsplash Einen solchen Index, der eine Orientierung zur Einordnung politischer Systeme gibt, hat das britische Magazin The Economist 2006 erstmals entworfen. Es ist nicht der einzige Index dieser Art, aber er ist weit verbreitet und wird jedes Jahr veröffentlicht. Anhand von 60 Fragen werden 167 Länder auf zahlreiche demokratische Prinzipien hin geprüft: Gibt es freie und gerechte Wahlen? Gibt es freie Medien? Gibt es ein unabhängiges Rechtssystem? Je nach Anzahl der gesammelten Punkte erfolgt die Unterteilung in eine vollständige Demokratie, eine unvollständige, eine Hybridform und harte Autokratien.

Ganz vorne bei diesem – und anderen Indizes – steht Norwegen. Es gilt damit als das demokratischste Land der Welt. Norwegen hat aber auch einen König, und ist demnach eine parlamentarische Monarchie. Im Ranking für 2021 folgen auf Norwegen Neuseeland und Island. Deutschland steht auf Platz 14, den letzten Platz nimmt Afghanistan ein.

Dieser Index beobachtet auch, welches Land sich bezüglich der demokratischen Werte verbessert oder verschlechtert hat. Der Befund ist ernüchternd: Zwar lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung in einer Demokratie (45,3 Prozent) – aber nur acht Prozent in einer als vollständig definierten Demokratie. Fast 40 Prozent der Menschen auf der Erde leben in einer Autokratie. Die Entwicklung stagniere, beklagt die Economist Intelligence Unit, die den Index erstellt.

Nicht weniger, sondern mehr Demokratie

Tatsächlich beobachten Expertinnen und Experten auch in Deutschland mit Sorge, dass der Glauben und das Vertrauen in die Demokratie als Herrschaftsform schwinden. Anfang der 1970er-Jahre lag die Wahlbeteiligung hierzulande noch bei 91 Prozent, bei der letzten Bundestagswahl waren es rund 77 Prozent. Die steigende Zahl der gewalttätigen Anschläge besonders von rechts, die neue Popularität rechtslastiger Parteien, das mangelnde Vertrauen in die klassischen Medien sind Indikatoren für diese Erosion und Alarmsignale für die Politik. Laut einer Studie der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung sind weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland damit zufrieden, wie die Demokratie hier funktioniert. Das fehlende Vertrauen sei besonders ausgeprägt bei finanziell benachteiligten Menschen.

Wer allerdings glaubt, dass die Befragten als Ersatz eine Autokratie bevorzugen würden, der irrt. Sie wollen eher das Gegenteil: mehr Demokratie, mehr direkte Mitbestimmung in der Politik. Es ist die repräsentative Form, die in der Kritik steht – die Idee der direkten Demokratie, ob über Volksentscheide, Bürgerräte oder Bürgerhaushalte, steht bei vielen Menschen dagegen hoch im Kurs.

Diese Krise der Demokratie findet nicht nur in Deutschland statt. In Europa kämpfen mehrere etablierte Demokratien mit dem Aufblühen rechter Parteien – Beispiele dafür sind Frankreich und Italien. Die USA haben mit der Trump-Ära im Demokratie-Index deutlich verloren, sie gelten als „unvollständige Demokratie“.

Aber die Demokratie deswegen aufgeben? Auf keinen Fall. Zum Abschluss des Demokratiegipfels von US-Präsident Biden 2021 haben mehrere Staaten in Vereinbarungen festgehalten, dass sie sich mehr für demokratische Institutionen engagieren wollen. Die USA selbst wollen in ihrem Land mit Millionen Dollar entsprechende Initiativen unterstützen. Und im März 2023 ist der nächste Demokratiegipfel geplant.

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