Diaspora und Exil  3 min Arabische Präsenz in Brasilien – Ein Stück Naher Osten

Schwarz-weiße Leinwandzeichnung einer auf dem Rücken liegenden Frau in traditioneller libanesischer Kleidung.
Cover des Osbah-Magazins, 1951. © Roberto Khatlab/CCAB, USEK Library

Über Literatur, Journalismus und Kultur entwickelte die arabische Diaspora einen hybriden Vorstellungsraum, in dem sich Brasilianer „arabisieren“ und Araber brasilianisch werden. Von der journalistischen Produktion von Einwandererkindern bis hin zur Übernahme von Referenzen in die literarische Erzählung des Landes ist das arabische Erbe essenzieller Bestandteil des Kulturraums Brasiliens.

„Aus unterschiedlichsten Gefilden stammend, dem Sertão, aus Sergipe, Juden, Türken — man nannte sie Türken, es waren Araber, Syrer und Libanesen —, und allesamt Brasilianer“, heißt es in A Descoberta da América pelos turcos (dt.: Die Entdeckung Amerikas durch die Türken) von Jorge Amado (1912–2001). Das Buch erzählt von Raduan Murad und Jamil Bichara, die 1903 als Einwanderer dem Ruf des Wohlstands in der Kakaoproduktion folgend an der Küste Bahias landen.

Amado schrieb den Text 1991 im Auftrag einer italienischen Agentur zur Feier des 500. Jubiläums der „Entdeckung“ Amerikas. Spielerisch überdehnt er bereits im Titel den Begriff der Entdeckung, die er hier den „Türken“ zuschreibt anstatt etwa Italienern oder Portugiesen. Den Begriff „Türke“ in Brasilien auf „arabische“ Menschen anzuwenden ist ein ethnisches Missverständnis, das auf den Beginn der Einwanderung zurückgeht, als Migranten aus dem damaligen Osmanischen Reich mit türkischen Pässen einreisten und fälschlicherweise als solche bezeichnet wurden.

Der arabische Zungenschlag durchzieht das gesamte Werk Jorge Amados. In fast allen seinen Romanen gibt es arabischstämmige Personen wie Fadul Abdala in Tocaia Grande (übers. von Karin von Schweder-Schreiner 1987) oder Nacib in Gabriela, cravo e canela (Gabriela; übers. von Gerhard Lazarus und E.-A. Nicklas 1962). Auch andere Künstler bearbeiteten das aus der Einwanderung hervorgegangene neue kulturelle Gemenge: der Dichter Carlos Drummond de Andrade (1902–1987) schrieb ein Gedicht mit dem Titel „Os turcos“ (dt.: die Türken) über die in den Bundesstaat Minas Gerais Eingewanderten; João Guimarães Rosa (1908–1967) lässt in Grande Sertão: Veredas (Grande Sertão; übers.: Curt Meyer-Clason 1964) den türkischen Händler Assis Wababa in der Trockensteppe des Landesinneren auftreten.

Schon vor der Diaspora beziehen sich brasilianische Autoren wie Machado de Assis (1839–1908) oder Gonçalves Dias (1823–1864) auf arabische Vorstellungswelten. Selbst Peter II., der letzte Kaiser Brasiliens, hegte entsprechend der orientalistischen Mode seiner Zeit eine Leidenschaft für das Thema. Der polyglotte Monarch besaß auch Kenntnisse der arabischen Sprache und wagte sich gar an die Übersetzung von Texten ins Portugiesische. In seinen Aufzeichnungen findet sich eine Übertragung von 84 Episoden (die 36. bis 120.) des Klassikers „Tausend und eine Nacht“, weshalb er als die erste Person gilt, die den Text ohne Umweg ins Portugiesische übersetzte. Die Manuskripte befinden sich heute im Museu Imperial in Petrópolis im Bundesstaat Rio de Janeiro.

Vielgestaltige Gemeinschaft

Im Zusammenhang der Einwanderung nach Brasilien bezeichnet „arabisch“ einen sehr spezifischen Teil einer vielgestaltigen Gemeinschaft, die 22 Herkunftsländer zwischen Nordafrika und dem Mittleren Osten umfasst. Mehrheitlich waren die Einwanderer Christen aus dem Libanon und aus Syrien. Die Zahlenangaben variieren, aber der Höhepunkt dieser Migrationsbewegung datiert auf einen Zeitraum zwischen 1880 und der Mitte des 20. Jahrhunderts. Bis 1920 sollen laut Erhebungen des Brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik offiziell 58.000 Personen aus Syrien und dem Libanon nach Brasilien eingereist sein.

Das Eintreten der arabischen Bevölkerung in die brasilianische Gesellschaft ist von einigen Besonderheiten geprägt. Anders als die europäischen Einwanderer lehnte ein Teil der Migranten die bäuerliche Pacht- oder Lohnknechtschaft ab und machte sich eher in städtischen Zentren selbstständig. Viele betätigten sich als Geschäftsleute oder in freien Berufen und schufen so eine eigene Unternehmerschicht. Die Tradition des Einzelhandels ist bis heute auf den großen Straßenmärkten wie auf der Rua 25 de Março in São Paulo oder dem „Saara“ im Zentrum Rio de Janeiros erlebbar, die beide historisch auf die arabische Präsenz in Brasilien zurückgehen.

Neben Arbeiterinnen und Arbeitern war auch eine intellektuelle Elite zur Migration gezwungen. „Es kamen Menschen in prekären Verhältnissen, aber es gab auch die Einwanderung von Intellektuellen: Personen die in der Region des früheren Groß-Syrien maßgeblich journalistisch oder verlegerisch tätig gewesen waren“, erklärt Christina Queiroz, an der Universität von São Paulo (USP) promovierte Historikern und eine der Leiterinnen des Instituts für Arabische Kultur (Instituto de Cultura Árabe). „Sie betätigten sich in Brasilien weiter intensiv in der Veröffentlichung von Büchern, belegt und erforscht ist dies aber vor allem im Pressewesen”, führt sie weiter aus.

Hunderte Periodika

Gab die Aktivität im Geschäftsleben der Städte der arabischen Gemeinschaft eine gewisse Sichtbarkeit, so war es die Presse, die ihrer Stimme Gestalt verlieh. Im Zusammenspiel von wirtschaftlicher und intellektueller Elite kam es in Brasilien zu einer Blüte arabischer Presseerzeugnisse. Eine der langlebigsten Publikationen in diesem Zusammenhang ist die Zeitschrift O Oriente (dt.: Der Orient), von 1927 bis 1974 herausgegeben von Mussa Kuraiem (1894–1974), Journalist und als Sohn libanesischer Einwanderer in São Paulo geboren. „Unzählige Werbeanzeigen für die Textilindustrie zeugen in O Oriente von der Unterstützung der Publikation durch die Unternehmerschaft. Auch in Artikeln und Editorials wird dies gern dankend hervorgehoben“, erklärt Queiroz. Zwischen 1890 und 1940 erschienen um die 400 unterschiedliche Periodika in brasilianischen Bundesstaaten von Amazonien bis Rio de Janeiro und São Paulo. Viele davon ausschließlich auf Arabisch, andere auf Portugiesisch oder zweisprachig.

Literarisches Schreiben

Das rührige Pressewesen dieser Zeit bot auch die Bühne für eine neue Bewegung. „Die auf amerikanischem Boden entstandene Diaspora war geprägt vom Mahjar, der literarischen und intellektuellen Produktion auf Arabisch außerhalb der arabischen Welt“, schildert Matheus Menezes, der als Doktorand an der Universität von São Paulo (USP) über die Zeitschrift der „Liga Andaluza de Letras Árabes“ forscht. Diese Liga ist nur eine von mehreren wichtigen literarischen Zirkeln der arabischen Gemeinschaft in Brasilien. Ihre Zeitschrift erschien zwischen 1935 und 1954. „Mahjar [übersetzt etwa “Ort der Einwanderung”] ist ein Ausläufer auf amerikanischem Boden der Nahda, einer Bewegung der arabischen „Renaissance“ aus dem Kontakt zwischen genuin arabischem Denken und europäischem“, erklärt er.

Der Mahjar in Brasilien bringt wichtige Namen der arabischen Dichtung hervor, wie etwa Chafic Maluf (1905–1976) mit Büchern wie Abqar (1936). Auch Autorinnen veröffentlichten in der Zeitschrift, etwa die Libanesin Salma Sayegh (1889–1953) mit einem Text über die Frau in der brasilianischen Literatur und insbesondere die Journalistin und Schriftstellerin Helena Silveira (1911–1984), die wiederum mit einem weiteren prominenten arabischstämmigen Intellektuellen verheiratet war: dem Übersetzer, Literaturkritiker und Arzt Jamil Almansur Haddad (1914–1988). Haddad war der Erste, der Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal komplett ins Portugiesische übersetzte.

Brasilianische Erzählung

Die Akkulturation in das Universum der portugiesischen Sprache intensivierte sich nach dem Verbot fremdsprachiger Publikationen 1938 unter der Regierung Getúlio Vargas. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die arabische Präsenz dann durch arabischstämmige Autoren eine weitere neue Gestalt an. Deren bekanntesten Namen sind Milton Hatoum und Raduan Nassar. Ihr Schreiben konsolidiert eine neue Etappe: den Eintritt spezifisch arabischer Erfahrung in die brasilianische Nationalliteratur. In seinen zwei ersten Romanen „Relato de um certo oriente“ (Emilie oder Tod in Manaus; übers.: Karin von Schweder-Schreiner, 1992) und „Dois irmãos“ (Zwei Brüder; übers.: Karin von Schweder-Schreiner, 2002), die auch verfilmt wurden, versetzt Hatoum Protagonistinnen und Protagonisten libanesischer Abstammung ins Herz Amazoniens und bearbeitet vor dem Hintergrund der in den Norden Brasiliens eingewanderten Gemeinschaft zentrale Themen wie Erinnerung, Familie und Identität.

In „Lavoura Arcaica“ (Das Brot des Patriarchen; übers.: Berthold Zilly, 2004) wiederum bespielt Raduan Nassar das arabische Erbe diffuser und lässt es unterschwellig in seine Version der Parabel vom verlorenen Sohn einfließen: in der Anspielung auf den libanesischen Volkstanz dabke, den sprichwörtlichen „Maktub“ aus der Rede des Großvaters, in den Predigten des Patriarchen. Genau wie Hatum bearbeitet aber auch Nassar das Universum der libanesischen Familien in Brasilen aus einer Innensicht heraus und mit einer Vielzahl an biblischen Anspielungen und kulturellen Bezügen auf den semitischen Mittelmeerraum. Anders als noch bei Amado oder Drummond fremde und „Türken“ in fremdem Land sind die Araber bei Nassar und Hatoum längst — auf ihre ganz eigene Weise — Brasilianer.

Der Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Humboldt, dem Regionalmagazin des Goethe-Instituts in Südamerika produziert.