Berit Glanz Setzlinge und Wälder
Wie prägen Pflanzen unsere Kultur und Geschichte? Berit Glanz erzählt von Eichen und Linden, von Schweden, Deutschland und Island und den globalen Wanderungen von Blumen und Bäumen. Eine poetische Reise durch Natur, Erinnerung und Identität.
Eiche (Quercus robur)
Pflanzen interessieren sich nicht für Grenzen, interessieren sich nicht für unsere Geschichten und die Bedeutungen, mit denen wir ihre Blätter und Blüten aufladen. Pflanzen interessieren sich für einen guten Boden, der ihren Bedürfnissen entspricht, für klare Luft, für Wasser und Sonnenschein. Das Lied einer Pflanze muss vielstimmig und lange gesungen werden, bevor sie symbolische Bedeutung erlangen kann. In den USA haben viele einzelne Staaten ihre eigenen Blumen, Gemüse und Desserts, aber wie viele der dort lebenden Menschen wissen wirklich, dass Washington und Vermont sich den Apfel als “State Fruit” teilen oder dass Waffeleis das offizielle Dessert von Missouri ist. Man kann eine nationale Pflanze, eine Blume oder einen Baum festlegen, aber ob sie wirklich relevante Bedeutung innerhalb einer Kultur erlangt, ist damit noch nicht entschieden.Moosglöckchen, die kleinen immergrünen Sträucher mit den blassrosa Zwillingsblüten, sind auf den Inseln des Nordatlantiks nicht heimisch, obwohl das “borealis” in ihrem botanischen Namen Linnaea borealis auf die Herkunft aus dem Norden verweist. Pflanzen haben viele Namen, die bekannten Namen unseres Alltags, die Menschen verwenden, wenn sie beispielsweise im Unterholz des Waldes auf eine dunkelgrüne Fläche mit rosa Blümchen stoßen und den anderen, den akademisch klingenden, der uns weitere Dinge beibringt, zum Beispiel dass das Moosglöckchen aus dem Norden kommt. Sie ist beliebt in Schweden, diese kleine Blume, auch wenn sie sich vor einigen Jahren in einer Abstimmung nicht gegen die rundblättrige Glockenblume (Campanula rotundifolia) durchsetzen konnte – eine violettblaue Blüte, die seit 2021 die Nationalblume Schwedens ist.
Das Land, in dem ich geboren wurde, verzichtet auf eine nationale Blume, dafür nimmt es sich einen Baum – die Stieleiche (Quercus robur) – zum Symbol. Dieser nationale Baum wurde in Deutschland zwar nicht offiziell zum Zeichen erklärt, aber seine historische Bedeutung ist unbestritten und zeigt sich etwa darin, dass Eichenlaub in verschiedenen offiziellen Abzeichen und auf Münzen auftaucht. In meiner Kindheit noch vor der Einführung des Euros gab es ein Geldstück, die 50-Pfennig-Münze, auf dem eine Frau, deren Körperschattierungen sich beinahe verführerisch unter dem Kleid abzeichnen, kniend einen Eichensetzling in den Boden pflanzt. Das Bild auf der Münze habe ich jedoch erst als Erwachsene verstanden. In meiner Kindheit war ich mir sicher, dass auf dem Bild eine Bauersfrau auf dem Feld Mohrrüben aus dem Boden zog.
Die Deutschen haben in ihrer Obsession mit dem Wald schon lange von der Eiche gesungen. Es ist unfreiwillig komisch, dass ein Dichter mit dem Namen Eichendorff vom „Land der Eichen” schrieb. Und noch heute sollten die Kinder deutscher Bürger am besten mit Holzspielzeug spielen, lieber einen Waldspaziergang machen als Fernsehen schauen. Dabei ist die Eiche in Deutschland zahlenmäßig weniger häufig als die Rotbuche und die vom Stammumfang her größte Eiche steht in Schweden – Rumskullaeken ist vermutlich über tausend Jahre alt und steht im Nationalpark Norra Kvill in Småland.
Dass nationale Symbole nicht nur vereinen und Gemeinschaft stiften, sondern immer auch dazu dienen, andere auszugrenzen, zeigte sich auch bei den Deutschen und ihren Eichenwäldern. Schon kurz nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetzen im Jahr 1935 wurden in Wäldern in Deutschland Schilder aufgestellt, die Juden verboten, den „Deutschen Wald” zu betreten. In Deutschland wurden „Hitlereichen” gepflanzt, die längst nicht alle nach Kriegsende gefällt wurden. Erst in den 1990er Jahren wurde in einem Wald in Brandenburg ein Hakenkreuz auf Luftaufnahmen bekannt, das aus Lärchen innerhalb eines Kiefernwaldes gesetzt wurde, sodass sich die Bäume mit ihrem leuchtendgelben Herbstlaub von den immergrünen Kiefern absetzten. Dieses Hakenkreuz aus Bäumen war nicht das einzige in Deutschland. Immer wieder mussten großflächige Hakenkreuzpflanzungen aus den deutschen Wäldern entfernt werden.
Als im Nachkriegsjahr 1948 die Gestaltung für die 50-Pfennig-Münze ausgeschrieben wurde, suchte die Bank deutscher Länder nach einem unpolitischen Bild. Die Baumpflanzerin des Bildhauers Richard Martin Werners überzeugte die Auswahlkommission sofort: Der Eichensetzling sollte als Symbol für den Wiederaufbau des Landes stehen und verwies außerdem auf die Kulturfrauen. Während die Trümmerfrauen in den deutschen Städten den Schutt entfernten, arbeiteten die Kulturfrauen an der Wiederaufforstung der teilweise erheblich beschädigten deutschen Wälder. Doch weder die Eiche, noch der deutsche Wald waren in den vorangegangenen Jahren unpolitisch oder unberührt von der Ideologie der Nazis geblieben, auch wenn die silberne Münze dieses Erbe nicht eingestehen wollte. Als könnte ein Setzling sich von der Geschichte seiner Baumfamilie lösen.
In Island, dem Land in dem ich mittlerweile lebe, gibt es nur wenige Wälder, auch wenn die Wiederaufforstung der Insel im vollen Gang ist. Die Isländer streiten über die Nadelbaumwälder, die zunehmend gepflanzt werden und die Lavalandschaft verändern; über die Lupinen, mit denen die Erosion aufgehalten werden sollte, und über die Balsampappeln, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts auf der Insel angepflanzt werden. Es ist nicht einfach zu entscheiden, welche Pflanzen heimisch sind, welche neuen Pflanzen man gutheißen und welche historische Landschaft man erhalten soll. Vor der Besiedlung durch die Wikinger vor tausend Jahren bedeckte Birkenwald, mit Ebereschen und Woll-Weide knapp die Hälfte der Nordatlantikinsel. Schafhaltung, Erosion und Holznutzung sorgten jedoch rasch für eine völlige Entwaldung der Insel. Heute stellt sich die Frage, ob das wünschenswerte Island der Zukunft, die baumlose Lavainsel ist oder vielleicht doch die bewaldete Insel, aus der Zeit vor der Besiedlung durch die Wikinger.
Linde (Tilia cordata)
Es gibt an vielen Orten Bäume, von denen die Einwohner sagen, dass sie seit über tausend Jahren in ihrer Mitte stehen. Die meisten dieser Bäume befinden sich nicht wirklich schon seit einem Millennium an ihrem Ort, aber an ihnen hängen so viele Geschichten und Erinnerungen, dass sie sich für die Menschen mindestens tausendjährig anfühlen. Lindenblüten duften nach Honig und ziehen Bienen an. Nachts und abends tropft aus den Blüten der klebrige Nektar. Die Linde kann sehr alt werden, deswegen gibt es in Europa einige Exemplare, die so alt sind, dass sie ihren eigenen Namen bekommen haben.In Stegeryd bei Vittaryd in Småland stand in der Nähe des Bauernhauses von Ingemar Bengtsson einst eine alte Linde mit dreigeteiltem Stamm. Als Ingemars Sohn Nils an die Universität in Lund gehen wollte, musste er sich einen neuen Nachnamen wählen, denn sein bisheriger mit einem Patronym gebildeter Name „Nils Ingemarsson” war an der Hochschule nicht zugelassen. Nils dachte an die mächtige Linde seiner Kindheit und wählte den Namen Linnæus, indem er das südschwedische Dialektwort „Linn” für Linde latinisierte. Ein Name als Kompromiss zwischen dem Lindenbaum seiner Herkunft und den Lateinanforderungen seiner Zukunft. Nils war nicht der einzige aus seiner Familie, der seinen Nachnamen von der dreistämmigen Linde inspirieren ließ. Seine Cousins wählten die Nachnamen Tiliander und Lindelius und verwiesen so ebenfalls auf den Baum in ihrer Heimat. Angeblich wurde die dreistämmige Linde gehegt und gepflegt, kein Zweig sollte sterben, da sie eng mit den drei Familien Linnæus, Tiliander und Lindelius verbunden waren. Ob es diese Linde wirklich gab oder sogar noch gibt, weiß ich nicht. Ich habe die Geschichte dieser Linde nur in Büchern gefunden. Zumindest kann ich mir aber sicher sein, dass das Papier, auf dem mir von dem dreistämmigen Baum erzählt wurde, nicht aus Lindenholz bestand. Denn zur Herstellung von Papier eignet sich die Linde nicht sehr gut.
Der Name Linnæus wurde als Familienname an die nächste Generation weitergegeben, als erstes erhielt ihn der älteste Sohn Carl, der auch das Patronym Nilsson hinzubekam. Carl Nilsson Linnæus wuchs in einem Jahrhundert heran, in dem die Welt erschließbar und ausmessbar erschien. Eine Zeit, in der die Magie noch mit Begriffen einzufangen war. In dieser Epoche der Vermessung begann Carl die belebte Welt zu sortieren, die Kästen und Boxen, Abstammungspfade und Familienähnlichkeiten der modernen Taxonomie zu entwickeln. Benennen, beschreiben und klassifizieren – und sobald die eigene Natur geordnet war, sollten auch die abgelegenen Regionen der Welt sortiert werden. Es war das Jahrhundert, in dem im Sommer 1739 in Stockholm die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften gegründet wurde. England, Frankreich und Preußen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits ihre wissenschaftlichen Akademien gegründet. Es war Zeit für eine schwedische Version und Carl engagierte sich als Gründungsmitglied.
Seine älteste Tochter Elisabeth Christina hatte sich schon früh für die Pflanzen interessiert, die ihr Vater so gründlich sortierte. Vielleicht war sie seine beste Studentin, mit Sicherheit war sie besser als ihr Bruder Carl, der nicht nur den Namen des Vaters erbte, sondern auch sein akademisches Erbe in Uppsala antreten sollte. Als ihr Vater die Kapuzinerkresse in seinem Buch Species Plantarum benannte, mit dem er die moderne binäre Nomenklatur für Pflanzen etablierte, hieß er noch Carl Nilsson Linnæus. Erst 1761 wurde er offiziell vom schwedischen König in eine andere Gattung eingeordnet und nannte sich von da an Linné. Das Wappen der neuen Adelsfamilie war von der Natur inspiriert und symbolisierte in seiner Dreiteilung das Reich der Mineralien, Pflanzen und Tiere, das Linné in seiner Systema Naturae ausgeführt hatte. In der Mitte des Wappens befand sich ein Ei und darüber das nach Linné benannte Moosglöckchen.
Nirgendwo im Wappen taucht die Kapuzinerkresse auf, obwohl sie eine entscheidende Rolle in der Pflanzenforschung der Familie spielen sollte. Tropaeolum hatte Carl von Linné die Gattung der Kapuzinerkressen getauft, die schon zweihundert Jahre zuvor aus Südamerika nach Europa gebracht worden waren. In der binären Nomenklatur wird der großgeschriebene Gattungsname mit dem kleingeschriebenen Artnamen kombiniert. Die große Kapuzinerkresse trägt deswegen den Namen Tropaeolum majus. Hinter der botanischen Bezeichnung der Pflanze steht noch heute das Autorenkürzel L., ein Verweis auf den Namensgeber.
Die Kapuzinerkresse kam vermutlich im 16. Jahrhundert nach Europa, als die isländischen Weiten bereits entwaldet waren und viele Eichenwälder auf dem Festland über Jahrhunderte hinweg gewachsen waren. Immer wieder finden sich ihre Spuren in den Aufzeichnungen von Naturforschern. Sie bekam verschiedene Namen und wurde regelmäßig verkostet, ihr Geschmack und Geruch beschrieben, ihr Porträt gezeichnet. Aber erst Elisabeth Christina stand in den Abendstunden auf Hammarby, dem Gutshof ihres Vaters, und beobachtete die Blüten in der Sommerdämmerung.
1762 veröffentlichte Elisabeth Christina ihren Aufsatz „Om Indianska krassens blickande” bei der Königlich Schwedischen Akademie, in dem sie ihre Entdeckung schilderte, dass es in den orangeroten Blüten der Kapuzinerkresse zu Blitzphänomenen kommt. Nach der Veröffentlichung kamen auf Elisabeth Christina schwere Zeiten zu. Ihr Ehemann, Major Bergencrantz, war so gewalttätig, dass sie nach einigen Jahren zum Hof ihrer Eltern zurückfliehen musste. Zumindest blitzten dort in der Dunkelheit noch immer die Blüten der Kapuzinerkresse. Zumindest gab es dort die Natur und den Garten, den Bau der Blüte und die Gestalt der Pflanze.
Mit dem Namen „Indianska krassen” wurde die nicht-europäische Herkunft der Pflanze kommentiert, die sich rasch in Europa ausgebreitet hatte. Auch andere Forscher griffen das beobachtete Phänomen auf. Besonders den Schriftstellern der Romantik in Deutschland und England gefiel das Bild der blitzenden Blüten. Elisabeth selbst schrieb, dass die Blitze vermutlich im Blick des Betrachters entstehen würden und nicht in der Blüte – eine Theorie, die erst sehr viel später verifiziert wurde. Das menschliche Auge passt sich an die Graustufen der Dämmerung an, wofür die auf Hell und Dunkel spezialisierten Stäbchen der Netzhaut zuständig sind. Das leuchtende Orange der Blüten aktiviert die für die Farbwahrnehmung zuständigen Zapfen so plötzlich, dass es wie Blitze erscheint. Die Überraschung wird zu Blütenblitzen.
Als meine Großmutter vor Jahren schon sehr dement geworden war, saßen wir einmal mit ihrer Wohngruppe zusammen. Einmal im Monat wurden Angehörige eingeladen, gemeinsam in großer Gruppe mit den alten Leuten zu essen. Der Koch hatte sich dieses Mal besonders viel Mühe gegeben, die Teller waren mit Blüten der Kapuzinerkresse dekoriert. Viele der alten Leute wunderten sich über die Blüten, die nicht nur zur Dekoration auf dem Teller lagen. Wir mussten meine Großmutter eine ganze Weile überzeugen, bis sie sich die Kapuzinerkresse in den Mund steckte. Seitdem muss ich bei den orangefarbenen Blüten an diesen Abend denken. Umso mehr freute ich mich, als mein Kind aus der Schule eine selbstgepflanzte Kapuzinerkresse mitbrachte. Doch der Sommer in Island war zu hell für das Blitzen der Blüten: Wir schliefen in der Mitternachtssonne und vergaßen die kurze Dämmerungsphase mitten in der Nacht, die für das Blitzen der Kapuzinerkresse nötig gewesen wäre.
Edelkastanie (Castania sativa)
Der weiße Silberwurz (Dryas octopetala) blitzt nicht im Dunkeln. Seine kleinen, weißen Blüten bilden Teppiche in karger Landschaft. Die langen Triebe des Strauches wachsen im Spalier über den Boden. Wenn im arktischen Raum die Sonne kaum noch untergeht und die Nachtstunden keine Dunkelheit, sondern nur Dämmerung bringen, dann blüht der weiße Silberwurz. Die genügsame Pflanze klettert in Island über Lavafelder und Schotterflächen. 2004 wählten die Isländer sie deshalb zur nationalen Blume und auch in Lappland und den kanadischen Northwest Territories wurde sie zum lokalen Symbol bestimmt. Der kleine Strauch und seine Blütenpracht scheinen etwas zu berühren, in den Herzen der Menschen, die unter und am Polarkreis nur so kurze Zeit die Blumen blühen sehen. Es braucht ein widerständiges Gewächs, um dort zu überleben. Am besten geht man zudem eine Symbiose mit einem Pilz ein, der für regelmäßige Feuchtigkeit sorgt. So kann man hundert Jahre alt werden.Die älteste Blume in Europa ist vielleicht eine Hundsrose (Rosa canina). Mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen, denn vielleicht steht irgendwo ganz unscheinbar in einem Hinterhof einer weit entfernten Stadt eine noch ältere Pflanze und sowieso können sich manche Pflanzen immer wieder mit Trieben erneuern und behalten dabei dennoch das gleiche Erbgut. Die Hundsrose von Hildesheim ist aber schon seit Jahrhunderten mit Legenden vom Rosenwunder verknüpft. Deswegen sagt man, sie sei tausendjährig, obwohl sie vielleicht nur achthundert Jahre zählt. Zumindest ist sie sehr alt. Als die Rose bei einem Bombenangriff 1945 zuerst verbrannte und dann unter Schutt begraben wurde, war es für viele ein Wunder, dass die Pflanze einige Zeit später viele neue Triebe hervorbrachte. Vielleicht wäre die Hundsrose von Hildesheim ein besseres Symbol für den Neuanfang nach dem Krieg gewesen als die Eichensetzlinge auf der 50-Pfennig-Münze?
Eine Heckenrose lässt sich viel schwerer umarmen als ein Baum. Das Alter einer Rose lässt sich nicht in Armlängen messen. Kaum eine Pflanze zeigt ihre Jahrhunderte stolzer als ein Baum, doch auch Bäume können uns täuschen, so wie die Hundsrose von Hildesheim. Viele Bäume lassen aus ihrem uralten Wurzelstock einfach einen neuen Trieb entstehen, sodass der kleine Baum an der Oberfläche oft nicht das uralte Netzwerk im Boden widerspiegelt. Einer der ältesten Bäume Europas ist Old Tjikko, eine gemeine Fichte (Picea abies) in Schweden. Der sichtbare Baum in Dalarna ist mehr als ein halbes Jahrtausend alt, doch das Wurzelsystem, aus dem er entspringt, hat ein Alter von knapp zehntausend Jahren – eine Fichte aus der Jungsteinzeit.
Manche Pflanzen sehen jung aus, obwohl sie sehr alt sind. Andere Pflanzen kommen uns alt vor, als wären sie schon immer Teil unserer Landschaft, sind aber eigentlich neue Gewächse in den europäischen Breitengeraden. Die Kapuzinerkresse wird von vielen als heimische Blume betrachtet, dabei ist sie noch nicht einmal seit 500 Jahren in Europa. Sie ist ein sogenannter Neophyt, das bedeutet, dass sie von Menschen in ein Gebiet gebracht wurde, in dem sie zuvor nicht heimisch war. Sind diese Pflanzen in Europa vor 1500 – vor den ersten Reisen der Europäter nach Amerika – durch Menschen verbreitet worden, nennt man sie Archäophyten. Die Edelkastanie (Castania sativa) ist ein Beispiel dafür. Sie wurde aus dem Mittelmeerraum von den Römern in Europa verbreitet. Menschen bringen nämlich nicht nur sich selbst und ihre Gewohnheiten mit in neue Regionen, oft nehmen sie auch ihre Pflanzen mit. Sie gestalten neue Landschaften und erzählen einander neue Geschichten von den Pflanzen, die sie umgeben.
Der Hallormsstaðaskógur ist Islands größter Wald. Seit 1903 wird dort erforscht, welche Bäume im Nordatlantik wachsen können. Mittlerweile sind es fünfundsechzig Baumsorten aus sechshundert Regionen der Welt. Manche dieser Baumarten sind Neophyten, die erst in den letzten Jahrhunderten eingeführt wurden, andere sind Archäophyten, die schon seit langer Zeit Teil der europäischen Landschaft sind. Allerdings ergibt diese Einteilung vermutlich wenig Sinn auf einer Insel, die an der Grenze der Kontinentalplatten zwischen Amerika und Europa liegt. Gemeinsam bilden all diese Bäume – neue und alte Pflanzen – den größten Wald der ehemals waldlosen Insel. Das globale Netzwerk der Pflanzen und Bäume, die grenzüberschreitende Fürsorge für Gewächse, das Interesse an der Aufzucht von Neuem in fremdem oder eigenem Boden – all das, das Jahrhundertprojekt eines Gartens oder Waldes – sind sicher die größten umgesetzten Utopien der Menschheitsgeschichte.