Mara Lee Die Koordinaten des Scheiterns, oder: „Als ob“ – ein Schiff(bruch) voller Möglichkeiten
Was verrät uns das Scheitern über Literatur und Zeit? Mara Lee liest Per Olov Enquists Die Kartenzeichner als Bruchstelle: zwischen persönlicher Krise, gesellschaftlichem Umbruch und der Frage, wie „als ob“ zur Überlebensstrategie wird.
Es dürfte nicht zu weit hergeholt sein zu behaupten, dass die schwedische Literatur der Moderne von Schaffenskrisen gesäumt wird. Sie beginnt mit Alchemie, religiösen Offenbarungen und literarischer Manie bei Strindberg. Dass er darüber hinaus der erste schwedische Schriftsteller war, der grundlegend die neuen kulturellen Marktbedingungen verstand, die seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts das literarische Feld formten, und sich mit ihnen auseinandersetzte, schmälert nicht die Bedeutung der Krise für sein Werk.[1] Damit entstand eine neue Autorenrolle: Der marginalisierte Bohemien musste lernen, zusammen mit einem medialen, selbstbewussten, inszenierenden literarischen Subjekt zu existieren.[2]Knapp ein Jahrhundert später befindet sich der Schriftsteller P. O. Enquist in Paris in einer riesigen Wohnung an der Champs Elysées. Sein Alkoholismus ist wieder manifest, und sein Schreiben stagniert. Es ist eine Krise, über die er in seiner Autobiografie Ein anderes Leben schreibt und auf die er als „die schwarzen Jahre“ verweist.[3] Doch dann schreibt er Kapitän Nemos Bibliothek (1991), was zu einem Wendepunkt wird. In diesem Roman werden einige der wichtigsten Schmerzpunkte in seinem Werk etabliert: die Mutter, die Schuld und verlassen zu werden. Als 1992 Die Kartenzeichner erscheint, hat er die Krise hinter sich gelassen. Allerdings nur, um in eine neue, möglicherweise noch schwerere Krise einzutreten. Denn diese erschüttert die ganze Gesellschaft; die Finanzkrise der neunziger Jahre, die schlimmste in der schwedischen Geschichte seit dem Konkurs des Kreugerkonzerns 1932, begleitet von der definitiven Demontage des schwedischen Wohlfahrtsstaats.
Die Kartenzeichner ist ein Buch, das sich gleichzeitig am Ende und zu Beginn einer Krise befindet. Deshalb ist es nicht weiter seltsam, dass diese Essaysammlung eine fast schon manische Beschäftigung mit Verortung, mit Punkten auf der Karte aufweist. Wo befinden wir uns, eigentlich? Von welchem Ort aus wird diese Geschichte erzählt? Und wenn man es wagt, ein paar weiterführende Fragen zu stellen; wie kann man sich sowohl am Ende als auch am Anfang befinden, wie kann man an zwei Plätzen gleichzeitig sein? Was ist das für eine Welt, die diese (Un)Möglichkeiten erschafft?
Dieser Essay möchte ein paar Aspekte des Themas aufgreifen, die verdeutlichen, dass Enquists Die Kartenzeichner als eine Bruchstelle betrachtet werden kann, und zwar nicht nur für Enquists literarische Entwicklung, sondern vielleicht auch für die schwedische Literatur als Ganzes. Der Text wird sich mit dem kreativen Scheitern als Phänomen auseinandersetzen und zu beleuchten versuchen, dass der Bedarf an Fantasie oder Vorstellungskraft in der Zeit, die auf die Epoche der Moderne folgt, wichtiger ist als je zuvor. Das Ende der achtziger Jahre bedeutete einen Bruch mit dem Fortschrittsdenken, das diese geprägt hatte. Die lineare Zeitauffassung, die mit Fortschritt und Progression verknüpft wurde, war teilweise zum Erliegen gekommen. In der darauffolgenden ideologischen Kernschmelze wurde ein Raum für Gegenbewegungen geschaffen. Vielleicht ist das der Punkt, an dem der Tropus des Scheiterns als zentrale Figur für das Denken der Zeit auftaucht.
Descartes’ Zirbeldrüse und die DNA des Misserfolgs
Zu den poetischsten Misserfolgen der Wissenschaft gehört, als Descartes seine These lancierte, die Zirbeldrüse sei das Organ im menschlichen Körper, das Seele und Körper miteinander verbinde, was er in Die Leidenschaften der Seele untersucht. In Cecilia Sjöholms Essay „Die Zirbeldrüse als zentrale Vermittlungsstelle?“ beschreibt sie, wie diese These gewiss als wissenschaftlicher und philosophischer Misserfolg erscheint, aber ein Misserfolg ist, der den Weg für die Erforschung einerseits des menschlichen Gefühlslebens und andererseits des frühesten psychischen Lebens ebnete.[4] So führt Descartes den Ursprung der Liebe auf die Situation des Stillens zwischen Mutter und Kind zurück und identifiziert, wie das Kleinkind von ursprünglichen Bedürfnissen durchströmt wird, die er „Gedanken“ nennt. Sjöholm betont, dass dieser „denkende Säugling“ nicht als ein kleines Cogito betrachtet werden sollte, sondern als „ein Bündel aus Liebe und Hass, in dem das Körperliche und das Psychische miteinander verflochten sind.“[5]Die Jagd des Philosophen darauf, die Verbindung zwischen Körper und Seele zu verstehen, mag nicht von Erfolg gekrönt gewesen sein, führte ihn aber zu den Gefühlen; ihren Ausdrücken, Zwecken und Ursprüngen. Sjöholm richtet ihr Augenmerk darauf, dass Descartes’ Erforschung von Gefühlen, Begierden, Trieben und Erinnerungen als ein Embryo der Psychoanalyse betrachtet werden kann.
Ich weiß zu wenig über Descartes und sein Leben, um darüber zu spekulieren, inwiefern er selbst sich in einer Krise befand, aber Sjöholms Analyse lässt einen begreifen, dass ein intensives Ringen mit seinen bis dahin erzielten Forschungsergebnissen stattfand. Er rang mit seinem eigenen Dualismus, das heißt der Frage, wie Körper und Seele kommunizieren und interagieren können, obwohl sie ontologisch getrennt sind. Und es ist dieses Ringen, das ihn zur ersten Phase des Lebens führt, zu den Gefühlen, zum Triebleben und zu den Erinnerungen. Es ist dieses Ringen, das den Keim für die Theorien späterer Zeiten über das Unbewusste bildet. Und damit wird Folgendes ermöglicht:
Wenn wir Begierde empfinden, hängt das also mit unserer Geschichte zusammen. Es zieht uns zu den Schatten in unserer eigenen Vorgeschichte. Die Objekte, die unsere Gefühle wecken, tun dies aus spezifischen Gründen – aber wir können niemals wirklich verstehen, wie.[6]
Diese Begierde lässt sich in jedem literarischen Ansatz aufspüren. Es zieht uns zu den Schatten in unserer eigenen Vorgeschichte, wir werden von Gefühlen durchströmt, die wir nicht verstehen können, die uns eventuell sogar ins Verderben stürzen, aber dennoch so stark sind, dass wir ihnen folgen müssen.
Ein gutes Thema, oder: mit dem zu ringen, was „interessant“ ist
Enquist hatte ein gutes Thema, als er beschloss, über die sozialistischen nordschwedischen Arbeiter zu schreiben, die zu einer Zeit nach Südamerika auswanderten, in der die meisten emigrierenden Schweden in die USA gingen. Sein Projekt erlitt Schiffbruch. In seinem Essay „Der Meteorsplitter“ schreibt er über diesen Schiffbruch. Der Essay ist fantastisch und unmöglich. Er hat weder Anfang noch Ende und was er will, spricht er nicht aus. Denn er will etwas, aber es ist schwer zu ergründen, was. Der Druck ist jedoch konstant hoch, man spürt jedes Wort. Einer der Vektoren des Essays erstreckt sich von Geijerstams Reportagereise durch Stockholms arme Arbeiterwelt bis zu Enquists havariertem Projekt über die Brasilienemigranten. Ein anderer Vektor verläuft von Heisenbergs Unschärferelation über das Dorf in der nordschwedischen Region Västerbotten, in dem Enquist aufwuchs, und landet schließlich in der Forschungsreise, die Enquist im Juni 1974 unternimmt, als er nach Brasilien reist, um die Orte zu besuchen, an denen sich die Brasilienemigranten niedergelassen hatten. Dort endet der Weg. Er sieht eine Wirklichkeit, der es nicht gelungen ist, die Utopie zu tragen. Der Schriftsteller verrät seine Gefühle nicht, weder den Menschen, denen er dort begegnet, also den Nachfahren der Siedler, noch dem Leser. Aber ich wette, dass er eine Leere in der Brust verspürte, eine Leere, die richtig, richtig unangenehm war und jeden Augenblick Gefahr lief, in Verachtung umzuschlagen.Nichts wurde so, wie man glaubte. Das ist das Mantra der havarierten Utopie und vielleicht auch des gescheiterten Romans. Nichts davon ließ sich vorhersehen. Aber ich glaube, das Problem ist größer. Ich glaube, es geht bei diesem Problem um „Interesse“.
Literatur wird nicht von Interesse, sondern von Passion getragen – daher die Schaffenskrisen. Sie wird nicht von einem interessanten Thema getragen, sondern von Notwendigkeit. Notwendigkeit innerhalb des Schreibens und der Literatur lässt sich auf mehrere Arten deuten. Die bekannteste literarische Notwendigkeit ist die aristotelische. In seiner Poetik wird sie mehrfach angesprochen. Diese Notwendigkeit bezieht sich auf die innere Logik eines Werks, häufig in Kombination mit dem Wahrscheinlichen:
Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.[7]
Eine ähnliche Logik gilt auch für die Charaktere:
Man muss auch bei den Charakteren – wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse – stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d. h. darauf, dass es notwendig oder wahrscheinlich ist, dass eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und dass das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt.[8]
Dies basiert auf einer Art Gesetzmäßigkeit, einer Logik, die eine innere Kohärenz von einer solchen Magnitude zu erschaffen vermag, dass der Dichter nicht bloß abbildet, sondern fähig ist, sich das Werdende, das Kommende auf plausible und angemessene Weise vorzustellen. Der Schritt hiervon zu seiner Aussage, dass das Gedicht philosophischer und seriöser ist als die Geschichte, ist zwar groß, wird aber vielleicht verständlicher. Laut Aristoteles handelt die Dichtung davon, was in Übereinstimmung mit Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit geschehen kann: Sie ist allgemein, während die Geschichte nur über das Spezifische und das spricht, was tatsächlich passiert ist. Damit würde die Literatur eine größere Reichweite haben und die Fähigkeit besitzen, auf Weisen zu gestalten, die das Universelle einfangen können.
Der Vergleich ist natürlich ungerecht und schief, da Literatur und Geschichte unterschiedliche Ziele verfolgen. Aber die Betonung darauf, dass der Dichter sagt, was passiert sein könnte, erscheint dennoch relevant: Der Dichter befindet sich teilweise im Raum des Potentiellen. Das Potentielle bewegt sich jenseits dessen, was interessant und gut ist, denn es ist ein Ort, der sich auf die Notwendigkeit berufen muss.
Und wenn der Schriftsteller sich weigert, auf diese Stimme zu hören, ist die Havarie eine Tatsache. Das bedeutet allerdings nicht, dass man nicht auch so scheitern kann.
An jedem Schnittpunkt: Krise
Ich habe keine Ahnung, ob Enquist von Notwendigkeit oder Interesse angetrieben wurde, als er beschloss, über die schwedischen Arbeiter zu schreiben, die nach Brasilien auswanderten. Das Einzige, was ich weiß, steht in „Der Meteorsplitter“ in seinem Buch Die Kartenzeichner. Wenn man sich diesem Essay sowohl auf zeitliche als auch auf räumliche Weise nähert, scheint er an einem Schnittpunkt zu liegen, an dem sich eine Menge unterschiedliche Richtungen kreuzen. Aber der Tropus, der bei jedem Schnittpunkt vervielfältigt zu werden scheint, ist die Krise. Der Tropus der Krise wird ausgehend von drei zentralen Perspektiven aktualisiert. Teils aus einer schwedischen literaturhistorischen Perspektive, die ich eingangs erwähnt habe, das heißt, wie die schwedische Moderne von Schaffenskrisen eingerahmt wird; teils ausgehend von Enquists persönlicher Biografie – das heißt, dass Enquist nun seine Schaffenskrise überwunden und nach seinem Roman Kapitän Nemos Bibliothek, der eine Art Wendepunkt der Krise bildet, schrittweise begonnen hat, neue Themen zu untersuchen, zum Beispiel die Schuld, die Verlassenheit und die Mutter, die alle in Die Kartenzeichner relevant sind; und schließlich die Krise, die sich in der schwedischen Gesellschaft abspielt.Ein paar Worte zur letztgenannten, der großen Krise, die die neunziger Jahre mit sich brachten. Denn das ist möglicherweise am markantesten, vielleicht sogar das, was im Hinblick auf das Buch als Ganzes am bedeutsamsten ist. Denn in der Beziehung zu ihr erkenne ich die auffälligste Schicht, nämlich die Zeit, und was diese auszeichnet.
Einige Anmerkungen dazu, wie sich die Zeit Anfang der neunziger Jahre bewegt
Was zeichnet eine Zeit aus? Wie wird ein Zeitgefühl erschaffen? Eine Möglichkeit, sich historischen Epochen zu nähern, besteht darin zu beobachten, wie sich die Zeit und die Bewegungen des Raums begegnen. So könnte man die Renaissance zum Beispiel anhand von Linien beschreiben, die teilweise in der Zeit zurückgehen, indem sie Wissen und Ideale aus der Antike schöpfen, sich räumlich aber auch nach außen bewegen; eine Bewegung, die in den Willen expandiert, die Welt zu entdecken. Will sagen, in der Renaissance kreuzt sich ein zurückblickender Ansatz mit einem globalen, was für die Epoche charakteristisch sein dürfte.Das Schweden der frühen neunziger Jahre, die Zeit, in der Die Kartenzeichner erschien, ist geprägt von Krise, Reform und Abwicklung. Am entscheidendsten ist der Punkt, an dem die Schwedische Zentralbank den Leitzins auf 500% erhöht, um die schwedische Krone zu schützen, was nicht nur einen Bruch mit der Stabilität bedeutet, sondern die Krise als Normallage etabliert. Die Krise ist mit anderen Worten keine Unterbrechung in der historischen Zeit mehr, sondern deren neues Tempo – eine Art Temporalisierung der Unsicherheit. Und nun, 1990/91, wird zudem eine der größten Steuerreformen in moderner Zeit durchgeführt, eine Reform, die auf neoliberalen Ideen von Effektivität basiert. Die Veränderungen geschehen schnell, und die Zeit bewegt sich in einem beschleunigten Jetzt voran. Der Wohlfahrtsstaat, der auf der Idee von Kontinuität aufbaut, scheint wie gesagt zu zersplittern, und damit dürfte auch der Glaube an eine sichere, lineare Entwicklung in seinen Grundfesten erschüttert worden sein. Das hat auch Konsequenzen für den Glauben an die Zukunft.
Und für den Raum. Der Raum verändert sich. Er scheint knapper zu werden, wird einwärts zu den inneren Grenzen der Nation gezogen, als die Ausbreitung des Wohlfahrtsstaats durch ein neues territoriales Raster ersetzt wird. Staatliche Unternehmen und Dienstleistungen werden privatisiert. Aus der staatlichen Telefongesellschaft wird Telia, das Apothekenmonopol wird in Frage gestellt und die Schwedische Staatsbahn zerschlagen. Die Kommunalisierung der Schule verschiebt die Verantwortung für sie vom Staat zu den Kommunen vor Ort. Der Staat zieht sich teilweise aus zentralen Positionen im Raum zurück. Das Zentrum wird von staatlicher Autorität entleert und soll mit etwas anderem, etwas Neuem gefüllt werden: Die Mitgliedschaft in der „EG“ mit ihren offenen Grenzen wird mit hoher Geschwindigkeit vorbereitet. Der bis dahin stabile Raum scheint anders ausgedrückt neue Konturen bekommen zu haben, die sowohl begrenzter als auch durchlässiger sind, aber vor allem anderen vielleicht: unsicher.
Es handelt sich um eine Zeit und einen Raum, in denen die Utopie nicht mehr möglich ist. Enquists Die Kartenzeichner muss vor dem Hintergrund dieser Gegenwart gelesen werden, fast wie eine Abrechnung. In seinem Essay „Der Meteorsplitter“ wird diese Abrechnung am deutlichsten. Darin ringt Enquist mit der verlorenen Utopie und verwebt sie mit seinem eigenen Buchprojekt das Schiffbruch erlitten hat. Aber auch der Essay bewegt sich auf eine neue Art. Er folgt weder den ausgetretenen Pfaden der Narrativität noch denen der linearen Zeit. Er bewegt sich in Kreisen, er ist abgehackt, er unterbricht sich und geht zurück, springt dann wieder nach vorn. Das Muster, dem er folgt, ist nicht erkennbar. Und obgleich das Buch nicht postmodern ist, wird sein Rhythmus von einem neuen Zerfall diktiert, und obwohl die Stimme stark ist, bleibt es eine Stimme, die zweifelt, zögert, zurücknimmt.
In all dem, im Scheitern, der Krise und dem Zerfall, gibt es jedoch einen Kniff, zu dem der Schriftsteller greifen kann, nämlich „Als ob“.
Als ob – ein Schiff(bruch) voller Möglichkeiten
Als ob, „die einzige Hypothese, mit der wir leben können“, sagt Enquist in „Der Meteorsplitter“. Man könnte jedoch auch den Abgrund in den Worten betonen, den Schwindel, den „als ob“ einem in die Brust einpflanzt. „Als ob“ beherbergt sowohl Möglichkeit als auch Misserfolg, Fortsetzung und Fall. Aber „als ob“ kann nicht mit einer Fantasie im alltäglichen Sinn gleichgestellt werden. Es ist aktiver und schöpferischer. Ohne die Kunstsicht oder den Unterschied zwischen „fantasy“ und „imagination“ zu unterschreiben, wie Iris Murdoch ihn formulierte, kann es dennoch erhellend sein, einige der wesentlichen Eigenschaften zu erwähnen, die sie hervorhebt. Im Unterschied zur Fantasie, die Murdoch als ichbezogen und Wolke aus phantasmatischer Tagträumerei beschreibt – man denke an Emma Bovary –, ist Imagination nach außen gerichtet und dient dazu, die Wirklichkeit über sich selbst hinausgehend zu sehen, und das mit klarem Blick. Imagination ist an eine bewusste Aufmerksamkeit gekoppelt und kann als eine Art Werkstatt verstanden werden, in der wir unsere Sicht der Welt schmieden und formen. In Murdochs Augen erscheint Fantasie als etwas, das einen daran hindert, sich in der Welt zu engagieren, und fast immer zu Mittelmaß führt, sowohl in Bezug auf die Kunst als auch auf den persönlichen Charakter. Imagination umfasst dagegen eine Anstrengung, der Wirklichkeit zu begegnen. Nicht passiv, sondern in einer disziplinierten Übung.Ich glaube allerdings, dass sich Enquists „als ob“ weder als das eine noch das andere definieren lässt. Ich glaube, dass der Alltag des Schriftstellers randvoll mit beidem gefüllt ist. Denn das Einzigartige am „als ob“ des Schriftstellers besteht darin, dass es mit dem Leben verschweißt ist. Dass es sich schwerlich auf die Momente begrenzen lässt, in denen er an seinem Schreibtisch sitzt. Denn dazwischen steht, sitzt, geht, isst und träumt der Schriftsteller „als ob“. Es ist ein Modus, der riskiert, das ganze Dasein zu schlucken. Erst recht, wenn nichts zu Papier gebracht wird, wenn die Worte dort nicht haften bleiben wollen. Dann sucht „als ob“ den Weg zu anderen Stellen. Irrt im Gehirnlappen umher, dringt in den Hypothalamus ein. Die Vorstellungskraft lässt sich nicht abstellen. Sie wird zusätzlich zur Arbeitsbeschreibung mitgeliefert.
Aber was will Enquist sagen, wenn er mit seinem „als ob“ ankommt? Ist das nicht für jeden Schriftsteller vollkommen selbstverständlich?
Der Kontext ist wichtig. Der Satz steht am Anfang von „Der Meteorsplitter“, als Enquist zu erkennen versucht, warum es so kam, wie es kam. Was? Ist die havarierte Utopie der ausgewanderten schwedischen Arbeiter in Brasilien gemeint? Oder Enquists havariertes Buch über sie? Bezieht er sich auf Geijerstam, der Schiffbruch erlitt, als er versuchte, das, was er auf seiner Reportagereise durch Schweden gesehen hatte, aufzuschreiben? Oder geht es tatsächlich um die gescheiterte Utopie ganz Schwedens?
Am verblüffendsten ist möglicherweise das Gedicht, das Enquist eingangs zitiert. Das Gedicht wurde wahrscheinlich von Heisenberg geschrieben – er nennt ihn nicht beim Namen. Hier ist es:
Willst du die Geschwindigkeit verstehen,
kannst du den Punkt nicht verstehen,
von dem er flieht.
Willst du den Punkt bestimmen,
von dem er flieht,
kannst du die Geschwindigkeit nicht verstehen,
mit der er flieht.
Anschließend kommentiert Enquist das Gedicht:
Und das ist ja wahr.
Aber man kann auch fortfahren zu messen, Punkte zu bestimmen und Geschwindigkeiten, als ob das möglich sei. Als ob: das ist ja auch die einzige Hypothese, mit der wir leben können.
Was hält Enquist hier für wahr? Es erscheint unklar, aber ich glaube, dass er das Gedicht wörtlich deutet. Dass er es als Erklärungsgrundlage, basierend auf Gesetzen der Physik, gerade für das Scheitern liest. Wer in dem Gedicht flieht, wird dann zum Untersuchungsobjekt des Schriftstellers (der Auswanderer etc.), und das Du des Gedichts ist der Schriftsteller selbst. Das Gedicht erinnert uns daran, dass es in der Welt der Physik Punkt und Geschwindigkeit nicht gleichzeitig gibt, und dass wir diese Größen nicht im selben scharfen Bild einfangen können. Es scheint zu sagen: Wir müssen eine Perspektive wählen. Doch dann kontert Enquist mit „als ob“ als Alternative zu den Begrenzungen in den Gesetzen der Physik, als eine Art, diese zu überflügeln.
Vielleicht könnte man es eine poetische Lesart der Unschärferelation nennen. Poetisch, aber möglicherweise exzessiv, ja unnötig, auf gut Deutsch. Denn „als ob“, also das einzige Prinzip, von dem Enquist sagt, dass er damit leben kann, ist schon vollkommen eingelassen in das Gedicht, als dessen Prämisse. Enquist muss weder kämpfen noch etwas verteidigen, zumindest wenn man bereit ist, bei der Quantenmechanik etwas zu schummeln. Im Universum der Quanten wird das Unmögliche möglich, jedenfalls wenn man nicht allzu genau schaut (misst). Das hat Schrödingers Katze gezeigt, die sowohl tot als auch lebendig ist, bis wir die Kiste öffnen, will sagen, bis wir sie observieren. Mit einer schiefen Analogie kann sich auch ein poetischer Partikel in mehreren Zuständen gleichzeitig befinden, in Superposition, bis jemand ihn observiert, denn dann „wählt“ er einen Zustand.
Enquist weiß das natürlich. Er weiß, dass das Schreiben die Aktualisierung einer bestimmten Möglichkeit ist, und indem man genau diesen Partikel, diesen kleinen Meteorsplitter beobachtet, kristallisiert sich dessen Raum und Platz und Existenz in einem bestimmten Maße heraus. Vorher war dort nur ein Meer aus potentieller Gegenwart. Aber Enquist dreht sich um, bemerkt einen bestimmten Splitter, einen Partikel, und siehe da, jetzt existiert er.
Die neuen Entdeckungen der Quantenmechanik bildeten einen technischen Sprung, den große Teile von Literatur und Kunst immer noch nicht eingeholt haben. Und die Kluft scheint auch nicht kleiner geworden zu sein. Über die Krise, die sich Anfang der schwedischen neunziger Jahre verstetigte, lässt sich zwar nicht sagen, dass sie noch weitergeht. Dagegen scheint sie in etwas anderes übergegangen zu sein, eine andere Art Zeit, die sehr wenig mit der linearen historischen Progression der Modernität zu tun hat. Statt die Zeit zu verstehen, die eine gerade Linie von Vergangenheit zu Zukunft ist, und in der die Krise ein abgeschlossenes Kapitel gebildet hätte, kann man nun einen Zustand wahrnehmen, in dem die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Krise gemeinsam existieren (in Wahrscheinlichkeitsverteilungen). So wie die Wellenfunktion der Quantenmechanik nicht kollabiert, bis die Observation geschieht, könnte man sich vielleicht vorstellen, dass die wirkliche Bedeutung (und Konsequenz) der Krise in den Neunzigern noch nicht entschieden ist. Und dass sie außerdem unterschiedlich auftritt, je nachdem, wer sie beobachtet. Bis zu einem gewissen Grad heißt dies, dass wir uns nicht mehr in einem Post-Krisen-Zustand befinden, sondern eher in einem Zustand temporaler Nicht-Kohärenz, in dem sich alle unterschiedlichen Zeiten – vor der Krise, mitten im Trauma und Post-Krise – in der Gegenwart laufend kreuzen.
Vielleicht wirkt Enquists Aufforderung deshalb so kühn – „fortfahren zu messen … als ob das möglich sei“ – und aktueller als je zuvor. Denn in der Welt der Quantenmechanik bildet „als ob“ das innerste Gewebe der Wirklichkeit. Und was heute auf dem Spiel steht, ist nicht nur die Fantasie des Schriftstellers oder sein potentielles Scheitern. Nein, messen oder nicht messen ist von einer eleganten Metapher zu scharfer Buchstäblichkeit geworden. Das Messen ist unser kleines Zwinkern in die Tiefe: Dann erst antwortet uns die Welt, dann erst entsteht etwas. Es beginnt. Also, wie sieht es aus; möchte jemand die Herausforderung annehmen. Wollen wir anfangen zu messen. Wie wäre es mit jetzt.