Deniz Utlu Die Stadt unter der Stadt. Gedankenkarten

Die Stadt unter der Stadt. Gedankenkarten - Deniz Utlu - The New Cartographers
Illustration: © Ricardo Roa

Wie erzählt man Europa, wenn Utopien zerfallen? Deniz Utlu folgt Spuren von Migration, Erinnerung und Mythos, von Mesopotamien bis Stockholm, von Pergamon bis Södertälje. Ein poetischer Essay über Sprache, Zugehörigkeit und die unsichtbaren Karten des Gedächtnisses.

Die Stadt unter der Stadt. Gedankenkarten - Deniz Utlu - Bild 1 Foto: Deniz Utlu



Europa als Gedächtnisspur.

Um über das Scheitern (einer Utopie) zu erzählen, im Erzählen selbst scheitern. Wahrheitssplitter, was dennoch vermittelt wird.

Man stelle sich einen Text vor über die Notizen zu einem nie geschriebenen Text.

Ich erinnere mich an eine Reise in den Nullerjahren nach Mesopotamien, nach Mardin und Midyat, zusammen mit meiner Mutter, begleitet von einem Journalisten und Familienfreund, der zwei Reportagen geschrieben hatte, eine über Jesiden, die andere über Assyrer. Ich erinnere mich, dass er für die Assyrer nach Schweden gereist war. Er hatte die beiden Texte als junger Journalist, der er in den Achtzigerjahren war, geschrieben, als eine große Auswanderungswelle von Assyrer:innen aus ihrer nordmesopotamischen Heimat in der Türkei in Richtung Schweden, Deutschland und die USA ging, und in einem schmalen Buch veröffentlicht, das er mir dreißig Jahre später auf jener Reise schenkte. Ich krame es heraus: Yezidiler ve Süryaniler [i] von Murat Öztemir – ein hochgewachsener Mann, dem durch die aufgrund einer Empfindlichkeit in den Lidern stets halbgeschlossenen Augen nie etwas entgeht. So erinnere ich mich an ihn. Und dass er verschmitzt lächelt, auch wenn er Schmerzhaftes zu berichten hat. Seine Reportage über Assyrer:innen beginnt mit einer Reise nach Schweden, denn dort hin splitterte ein Stück Mesopotamien ab. Was ist aus diesem Splitter nach fast einem halben Jahrhundert geworden?

Bei Per Olov Enquist gab es ebenfalls einen anderen Autor am Anfang der Bewegung des Absplitterns: Er heißt Geijerstam, ist laut Enquist heute vergessen, er sei gescheitert an der großen schwedischen Erzählung, die mit Blick auf die Auswandernden möglich gewesen wäre; er habe vor allem Tabellen und zahlen hinterlassen, endlos. Und es gab einen anderen Autor, Enquist selbst, der Jahre später, als die ausgewanderte Generation schon alt oder bereits gestorben war, über diese Menschen schreiben wollte.

Enquist schreibt das in seinem Essay Meteorsplitter, veröffentlicht im Band Die Kartenzeichner – Filigrane Utopien, 1992 im Norstedts Förlag Stockholm unter dem Originaltitel Kartritarna. Er erinnert sich, dass er Anfang der Siebzigerjahre über schwedische Auswandernde schreiben wollte, die zwischen 1909 und 1912 eine Kolonie im Grenzgebiet Argentinien und Brasilien gründeten.
 
Ich fuhr dorthin, um die Menschen der ausgewanderten Geburt der Utopie zu besuchen, als sei in den Konvulsionen der Entstehung ein Splitter von einem Planeten herausgeschleudert. - Per Olov Enquist [ii]

Ein Stück Schweden, zu einem bestimmten Zeitpunkt abgesplittert und irgendwo weit weg eingeschlagen: ein Meteorsplitter, der aufgesucht und untersucht werden kann.

Kristalle, Kohlereste, Strukturen, alles würde vielleicht noch da sein und von dem unbekannten Leben des explodierenden Planeten zeugen. – Per Olov Enquist [iii]

In Enquists Vorstellung ist ein Meteorsplitter eine Metapher für einen Lebenszusammenhang in einer bestimmten Zeit, der durch die Entfernung von seinem sich in Veränderungen befindenden Ursprungsort konserviert wurde. Enquist schreibt dieses Buch über die Meteorsplitter niemals. Stattdessen verfasst er einen Essay über die Notizen zu einem Vorhaben, Jahre später.

Meine Bewegung ist der Suche von Enquist entgegengesetzt: Ich beabsichtige nicht in Kristallen, Kohleresten, Strukturen die Ursprünge einer Utopie zu finden. Mein Interesse gilt nicht dem, was konserviert wurde im Gestein, sondern wie die Topografie sich heute zeichnet. Eine Gedächtniskartographie erstellt aus Lektüren, Begegnungen, Notizen und Erinnerungen an die Notizen und an frühere Lektüren und Erinnerungen an Gesprächsfetzen, die Zitate aus den Begegnungen stammen aus dem Gedächtnis, sie entstehen in meiner Sprache. Ich rufe den jungen Journalisten an, der heute ein älterer Mann ist. Ich höre sein Lächeln durchs Telefon. Er bringt mich mit der assyrischen und der kurdischen Diaspora in Schweden in Verbindung.

Auf meine Reise nehme ich Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss mit, jenen dreibändigen, über tausend Seiten umfassenden Roman, von ihm selbst als Hauptwerk bezeichnet, größtenteils in Stockholm geschrieben, wohin er während des Nationalsozialismus mit seiner Familie auswanderte und dort zeitlebens blieb, ein Roman, der die Gestalten des aus der heutigen westtürkischen Stadt Bergama nach Berlin verbrachten Zeus-Altars sprachlich belebt, und der nun aufgeschlagen auf meinem Schoß liegt und aus dem ich Worte hebe, über die ich nachsinne, oder ein Bild – eine im Kampf aufgespannte Wade –, manchmal beben seine langen Sätze in mir, und ich gleite über ihre Bögen, die die Jahrtausende zu umspannen vermögen und sich verzweigen in Geschichte, in Erinnerungen, in Wahrnehmungen, bevor sie wie zu einem Lebensende in einem Punkt kulminieren, und mich dem Summen der Motoren des Flugzeugs zurückgeben, das jetzt, von der Sprache der Ästhetik des Widerstands rhythmisiert, ein Summen ist, das ich im kollektiven Gedächtnis nicht nur meiner, sondern vieler Zeiten und Orte höre, oder vielmehr spüre, wie die zur Hörbarkeit und schließlich zum Beben wachsende, verstärkte Vibration unzähliger Meteorsplitter. Und ich weiß plötzlich, dass meine Reise nach Stockholm und Södertälje weitergehen wird nach Bergama, wo der Zeus-Altar einmal stand, der jetzt in der Sprache dieses Romans archiviert ist.

Kurz vor Landung in Stockholm schreibe ich: Unter mir ein Flickenteppich, karges Grün, endloses Flachland, Äcker, Seen, Windräder, ein wenig Industrie. Ich fliege über die winzigen Inseln vor der schwedischen Küste, die wie Brotkrumen auf einem blauen Teller liegen. Hier sind endlose Wälder, unterbrochen von blauen Klecksen, die sich zum Horizont hin vermehren, und unter der Wolkendecke, am Ende der Landschaft in einer Explosion aus grellem blau-türkisen Licht verschwinden.
So sehen wir im gedämpften Licht die Geschlagenen und Verendenden.
Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands [iv]
Gemeinschaft und Territorium. Gemeinschaft ohne Territorium. Territorium im Kopf. Mesopotamien liegt in Europa. Europa ist afropäisch.[v] Die Moderne ist vorbei. Das europäische Versprechen löst sich selbst ein. Mit der Moderne kam die Nation. Die Nation brachte verfolgte Minderheiten. Die Minderheiten suchten Europa auf wegen des europäischen Versprechens. Was ihre Verfolgung auslöste, war das, was ihnen Frieden bieten sollte. Aber die Reise dauerte hundert Jahre. Bei Ankunft war das verheißene Land verschwunden. Bei Ankunft war das verheißene Land ein Museum.

Die folgenden Notizen ergeben zusammen Gedankenkarten (mind maps), die ihrem Wesen nach assoziativ, fragmentarisch und unvollständig sind, daher in der Zahl verringert oder unendlich erweitert werden können. In ihrer Summe (oder in Teilen) fügen sie sich zu einer unsichtbaren Landkarte des Gedächtnisses, die nicht fixierbar ist. In jedem Augenblick kommen Erinnerungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen, kurz: Gedanken, hinzu, die Landkarte bleibt ewig im Wandel. So verstehe ich meine Kartenzeichnung.

Eine europäische Wirklichkeit verzeichnen im Gedächtnis. Nicht Europa vermessbar als Berg, Tal, Meer, Stadt, Straße, Haus. Europa, denkbar. Eine Gedächtniskartographie. Der Äquator (0°) in der Gedächtniskartographie ist die erlebte Realität, der Alltag. Der Süden ist Mythos. Der Norden ist Utopie. Der Nullmeridian (0°) ist die Gegenwart. Der Westen ist Erinnerung. Der Osten ist Zukunft.

In der Mythologie ist Europa eine phönizische Königstochter. Ihre Sprache ist alt und verwandt mit dem Aramäischen der Assyrer. Ihr Land hat die ältesten Häfen der Menschheitsgeschichte hervorgebracht. Angelockt von seinem glänzenden Fell, nähert sie sich dem Stier. Sie berührt ihn, muss sich festhalten, den Hals oder die Hörner mit aller Kraft umklammern, denn der Stier rast los. Bald sind sie auf Kreta. Sie sieht, wie der Stier sich in einen Gott wandelt, in Zeus. Sie hört, vielleicht schaudernd, wie er ihr seine Liebe offenbart.

Beckmanns Aquarell von 1933 – Raub der Europa – zeigt sie, orientalistisch markiert durch den goldenen Armreif am Arm, halbnackt auf dem Rücken des monströsen Stiers: Sie liegt bäuchlings über dem Rumpf des Tiers, wie geschändet, das Gesicht schmerzverzerrt. Bei Dürer ist es Europa, die den Stier reitet. Ob entführt oder geflohen, Europa kommt aus dem Osten.

Zeus sollte einmal gestürzt werden – von den Giganten. In der Ästhetik des Widerstands beschäftigt mich der Zeus-Altar aus Pergamon, dessen Fries die Gigantomachie zeigt, den Kampf der Giganten gegen die olympischen Götter, um die alte Ordnung der Titanen wieder herzustellen. Die Götter sind den Giganten ausgesetzt, denn nur ein Sterblicher kann sie besiegen, ohne ihn würden die Götter fallen. Ich mische mich in die Gespräche und höre die Erkenntnisse der drei Freunde Heilmann, Coppi und des Ich mit Blick auf den Fries im Pergamonmuseum im Jahr 1937 in Berlin. Was sie am meisten rührt, ist das, was nicht abgebildet ist, nämlich die Figur des Sterblichen, der zur Rettung der Götter eilte: Herakles. Mit Verweis auf die Leerstelle im Fries erklärt Heilmann, dass genau dort der Platz für Utopie sei, die er sich als Aufatmen vorstellt:
 
Jede Ängstlichkeit vor Autoritäten, jede Gefügigkeit, jedes blinde Befolgen der Arbeit, seien hier, sagte er, einem Aufatmen gewichen (…), wo jeder sich nach eigenen Bedürfnissen fortbilden könnte, müßten Selbstbewusstsein, Stolz und Vergnügen zum Merkmal werden. - Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands [vi]

Am Flughafen in Stockholm rede ich mit niemandem, auch beim Abflug war ich allein gewesen – anders als Murat Öztemir in seiner Reportage. Bereits am Abflughafen in Istanbul, Anfang der Achtzigerjahre, kommt er mit einigen Assyrer:innen ins Gespräch, die die Türkei verlassen wollen und mit ihm im Flugzeug sitzen werden. Zu Beginn der Reise hat er schon fast alle Informationen, die er braucht. In seine Reportage flicht er darüber hinaus historische Bezüge ein, die sich um die Dialoge mit den Ausreisenden schmiegen, auch die begriffliche Diskussion fasst er zusammen, einen Streit, ob man sich als Aramäer oder Assyrer oder syrisch-orthodox bezeichnen soll, (in jedem Fall ist in diesem Text mit Assyrer immer Süryani gemeint): Die Assyrer sind das älteste heute noch existierende Volk Mesopotamiens, eines der ersten Völker, die das Christentum annahmen. Nach dem Fall des Assyrischen Reichs 612 v. Chr. (612°M) überleben sie in den verschiedenen Staaten, die in Mesopotamien entstehen. Erst der Nationalismus des 20. Jahrhunderts ändert das. Der Journalist erlebt in Istanbul die letzte große Auswanderungsbewegung der Assyrer – und reist mit ihnen nach Schweden. Er ist damals auf Recherchereise, um eine Bewegung zu beschreiben, die in diesem Augenblick geschieht. Was ich beobachte, ist die ewige Wiederholung der Bewegung im Gedächtnis. Und da ich – in Anlehnung an Enquist – erst Monate später aufschreiben werde, was ich auf meiner Reise erlebe, wird, was ich notiere zur Erinnerung der Erinnerung. In Schweden treffe ich Menschen und Geister.

Vom Flughafen in Stockholm fahre ich direkt zur Universität. Ich bin verabredet mit einem Historiker. Allerdings treffe ich ihn nicht aufgrund seiner Disziplin – er ist spezialisiert auf den kalten Krieg –, ich treffe ihn, weil er Assyrer ist. Der falsche Grund. Ich fürchte, dass auch er das so empfinden muss. Ich rolle meinen Koffer in das Café Bullar & Bröd (Cafénamen eben nochmal in unserem Chat recherchiert) – eine weite Halle mit Glasfront, der Boden aus dunklem Stein, die großen, weißen Tische und abgewetzten Holzstühle wirken wie altes Mobiliar aus Seminarräumen. Es riecht nach Kaffee und frischem Kuchen. Ich rolle den Koffer hinter einen Tisch und drehe mich, um sie im Blick zu haben die Tür, zur Fensterfront. Der Raum und ich mit ihm verschwinden in gleißendem Licht.

Ein Mann, Anfang vierzig, kommt auf mich zu. Er lächelt, der Dreitagebart schimmert grau auf seinen Wangen. Wir können Deutsch reden, sagt er. Wir stehen an der Theke. Er bestellt Kaffee und Kanelbulle. Aryo Makko, als Gaststudent gekommen, geblieben, weil es ihm hier gefiel, ist heute Professor an der Universität in Stockholm, Vater von zwei Kindern. Ich bin also nach Schweden gekommen, und verabrede mich mit einem Deutschen. Ich weiß: Auch in Deutschland gibt es eine große assyrische Gemeinschaft. Man stelle sich den Stier Zeus nicht ortsgebunden vor. Er ist überall zugleich. Er trägt Europa auf dem starken Rücken.

Wir setzen uns an den Tisch, an dem mein Koffer steht. Ich versuche in dem Schatten zu bleiben, den Aryos Körper wirft. Er erzählt, dass es für ihn mit Anfang zwanzig von Bedeutung war, das Erbe der Assyrer nicht zu vergessen. Heute sind ihm andere Dinge wichtiger. Für junge Assyrer, für seine Cousins, sei er sicherlich zu wenig radikal: das Erbe nicht halten, heißt für sie Vollendung des Genozids, des Seyfo; Mardin 1915. Wenn Aryo über Heimat nachdenke, dann einfacher, konkreter, sagt er. Für ihn ist Heimat ein Ort des Seins ohne Hinterfragen, – einfach sein, keine Nachfrage. Für ihn ist das Augsburg. Der Ort ist konkret. Die Nation ist nicht konkret. Eine Stadt, eine Straße, ein Viertel – das Regionale ist konkret. Der Fußballverein ist konkret. Aryo war Trainer beim Mesopotamien Assyrer Fußballverein Augsburg e. V. In der Ästhetik des Widerstands gibt es auch einen Fußball.

Während Heilmanns Eltern nichts vom Vorhaben ihres Sohns erfahren durften und wir ihn nur als Kameraden vom Eichkamper Sportklub besuchten, mit dem Fußball in der Netztasche, gab es in Coppis Familie, wie auch früher bei uns zuhause, Anteilnahme an allen Erörterungen über die Fragwürdigkeiten des politischen Lebens. - Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands [vii]

Schwimmende Inseln im Wasser – zum Horizont hin Licht.

Verstreute Menschen. Weit weg von ihrem Ursprung. Meteorsplitter. Eingeschlagen in fremder Erde.

Man hat mich vor fensterlosen Hotelzimmern gewarnt. Ich wohne in einer Mansarde. Die Fenster öffnen sich in Deckennähe durch die Wandschrägen in den Himmel. Das eine in der geraden Wand, das einen horizontalen Blick hinaus erlaubt, schaut auf eine Mauer. Ich habe zwar Fenster, sehe aber nichts von der Stadt, auch kann ich den Raum nicht voll abdunkeln. Die Fenster sind mir völlig nutzlos. Ich bin wach in der Nacht. Aber ich bin nicht allein. Bücher sind Geister. Ich lese Peter Weiss – Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein. Ein eingeschlagener Meteorit ist ebenfalls Stein. Ich laufe in Berlin mehrmals die Woche an einem Mineralien-Geschäft vorbei, dort verkaufen sie Ketten mit Meteorsplittern für achtzig Euro.

Bei Aryo finde ich eine anarchistische Antwort auf den Zusammenbruch der Systeme des 20. Jahrhunderts im 21., einen Ausgangspunkt für eine Utopie: Die Negation der Nation als Identitätskategorie. Nur das Konkrete ist identitätsstiftend, es befreit sich von der Einbindung in übergeordnete Verhältnisse. Natürlich gehört der Ort, an dem Fußball gespielt wird in eine Jurisdiktion, im Fall von Ayro in Augsburg, in die bayerische und deutsche, der Verein ist staatlich registriert, er ist Teil deutscher Zivilgesellschaft – aber identitätsstiftend ist das Spiel, sind die Freunde. Aryo erzählt, wie er vor Länderspielen die Nationalhymne nicht mitsang. Das ist kein politischer Boykott, es ist nur so: eine Nationalhymne ist abstrakt. Der Fußball im Netz Aryos ist keine Verkleidung, die den politischen Widerstand wie bei Coppi, Heilmann und dem Ich bei Peter Weiss, verheimlichen hilft. Das Fußballnetz wird symbolisch bei Aryo: Es steht für das Hier und Jetzt, die Freude am Spiel, die identitätsstiftend ist – es ist das Symbol für eine Hierarchisierung des Konkreten, eine widerständige Nebenfolge der Lust am konkreten Leben.

Die Lüftung quietscht wie Mäuse in der raskolnikoffschen Dachkammer in Södermalm. Ich liege noch immer wach. In Stockholm, wo Peter Weiss den Zeus-Altar Pergamons, der in Bergama an der Ägäis fehlt, in die Literatur trug. Auch in Berlin, wo der Altar seit fast hundert Jahren steht, kann er aufgrund von Sanierungsarbeiten für mindestens eine Dekade nicht mehr besucht werden. Wer einmal im Pergamon-Museum war, kann auf seine Erinnerung zurückgreifen oder auf Die Ästhetik des Widerstands. In Bergama wächst ein Baum, wo einmal der Altar stand. Berlin ist eine Baustelle. Laut der Anthropologin Banu Karaca, die zu Restitution arbeitet, hatten die Deutschen Ende des 19. Jahrhunderts, was der Archäologe Carl Humann erst heimlich, dann durch diplomatische Erpressung des osmanischen Herrschers Abdülhamit, aus der Türkei schiffte, als „eine Menge wertloses Gestein“ bezeichnet, zur offiziellen Begründung, es nach Berlin schaffen zu dürfen. Haufenweise wertlose Steine – Göttersplitter. Ich erinnere mich an Giganten mit Schlangenleibern als Beine im Altar-Fries. Ist es Zufall, dass eine der wichtigsten mythologischen Figuren Anatoliens, Şahmaran, als halb Schlange halb Mensch dargestellt wird oder ist sie verbunden mit den erdnahen Giganten? Eine Reihe wertloser Steine, versprachlicht, kehrt im Gedächtnis der Zeit Heim zur Bedeutung.

Müssten wir uns nicht auf die Seite jener stellen, heißt es in der Ästhetik des Widerstands, die die Steine der antiken Stadt achtlos für ein kulturelles Erbe als Baumaterial verwendeten?

In einer Nacht in Stockholm verfestigt sich der Wunsch in mir weiter, den Altar zurück nach Bergama zu tragen. Ich führe ihn mit mir als Worte im Buch von Peter Weiss. Diese Beweglichkeit der Dinge im Gedächtnis, ihre emanzipative Unabhängigkeit von Zeit und Territorium bewegt mich. Es geht nicht um Steine, es geht um den Geist der Steine.

Rings um uns – die Gestalten, Giganten im Kampf. Der Fries des Altars, Steine, zum Leben erweckt im Geist, im Text – hoben sich die Leiber aus dem Stein (…) ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, (…) mürbe Bruchstücke, aus denen die Ganzheit sich ablesen ließ. Die Giganten stiegen aus dem Schoß der Erde, um die alte Ordnung wieder herzustellen. Die neuen Götter waren machtlos gegen die alte Gewalt. Allein ein Sterblicher konnte den Widerstand anführen. Herakles aber vermißten wir. Auf dem Fries nur wenige Spuren des Sterblichen, der die neuen Götter gegen die alten Gewalten verteidigt. 

Ein Omen, daß wir uns nun selbst ein Bild dieses Fürsprechers des Handelns zu machen hatten. – Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands [viii]

Herakles, auch Herkules. Ich erinnere mich, dass mein Vater, auch er aus Mesopotamien, ihn liebte – samstags und sonntags, wenn im deutschen Fernsehen alte Filme liefen. Herakles wurde im siebentorigen Theben geboren. Theben war entstanden, weil Kadmos seine Schwester Europa nach ihrem Raub durch den Stier suchte. Kadmos bemühte sich vergeblich. Weinend um seine Schwester gründete er Theben, weinend um Europa.

Meteorsplitter (0° Gegenwart, 5000° Mythos). Zu Fragmenten zersprengt, zu mürben Bruchstücken, aus denen sich die Ganzheit ablesen lässt. Immer wieder. Immer wieder anders.

Tagsüber mit Keya Izol in der Nähe von Centralen in Norrmalm. Keya ist schlank, mittelgroß, er strahlt Ruhe aus. Die Stirn ist breit, das Kinn spitz, der Kopf leicht trapezförmig. Das Haar ist grau, war einmal schwarz; er ist siebzig. Wir trinken Kaffee. Auf meiner Kaffeetasse die Illustration eines Stiers. Er will wissen, welches Ziel ich mit meinen Fragen verfolge. Ich sage gleich, dass es mir nicht darum geht, die Geschichte der kurdischen oder assyrischen Diaspora zu erzählen, sondern über den diasporischen Blick etwas über Europa zu verstehen. Mit Europa meine ich keinen Staatenbund. Ich suche Wahrheitssplitter, die bleiben, wenn alle Utopien gestorben sind.

Keya kam vor fünfzig Jahren nach Schweden. Er beschreibt seine Ankunft in seinen Memoiren: „Von Siverek nach Stockholm – Erinnerungen eines Missionars des Kurdischen". Damals war er ein junger Student. Ein Mitreisender im Flugzeug riet ihm, sich von kurdischen Aktivisten fernzuhalten, gerade in Schweden. Dabei habe es 1974 bei der Ankunft Keyas gar nicht so viele Kurden in Schweden gegeben. Etwas musste der Onkel erkannt haben, was für den jungen Keya noch schleierhaft war; zumal der Freund, dem der Onkel seinen Neffen anvertraute, niemand geringerer war als Necmettin Büyükkaya – genannt Neco –, ein bekannter kurdischer Aktivist, der vor einigen Jahren einen der ersten bedeutenden kurdischen Vereine in der Türkei mit einem starken linken Bildungsauftrag mitbegründet hatte und danach ins Exil musste. Nach seiner Rückkehr in die Türkei würde er in Diyarbakır nach dem Putsch von 1980 zu Tode gefoltert werden. Zu diesem Mann, dessen Aura sichtbar war – wie ein Lichtkegel – führte man Keya, der damals noch gar nicht Keya hieß, sondern Emin, an seinem ersten Tag in Uppsala. Necmettin Büyükkaya saß ruhig in der Mitte der Kantine, voll mit jungen kurdischen Studierenden. Keya war so nervös, dass er stolperte – ich lese das in Keyas Memoir –, als er auf Neco zuging.
 
Ist was mit deinem Fuß?, fragte Neco. Mit dem Fuß ist alles in Ordnung, sagte ich. Gut, hör zu, dein Name lautet ab heute Keya. Vergiss das nicht. Das wirst du auch gleich im Ausländeramt erzählen. Du wirst ihnen von der Wahrheit berichten: dass unser Land belagert ist, unser Volk unterdrückt, von der eigenen Kultur entfremdet. - Keya Izol [ix]

Mit der Ausreise aus der Türkei verließ Keya seine damalige Identität zugunsten einer, die es noch nicht gab, die in Schweden erst entstehen sollte. Aus Emin Izol, der gebrochen kurdisch sprach, wurde Keya Izol, Kurdischlehrer in Stockholm, politischer Funktionär der Idee eines freien kurdischen Lebens. Kurdistan in Schweden: Emanzipation von der Vorstellung, dass Gemeinschaft und Territorium eins sind? Utopie im wortwörtlichen Sinne: Ou-topos, Ort, den es nicht gibt; allerdings: wirkmächtig und wegweisend, gelebt.

Das Weiß des Märzlichts, das den Medborgerplatsen flutet, verdichtet sich an einer winzigen Stelle zum schimmernden, langen silberweißen Haar des Schriftstellers Firat Cewarî, dann tritt aus dem Licht die ganze Gestalt, mit Hemd und Umhängetasche. Wir spazieren durch die Götgatan in die Altstadt, während auch er erzählt, dass die Diaspora in Schweden für die kurdische Sprache und Literatur Großes geleistet habe. In dieser Straße, sagt er, haben die Schriftsteller Mahmut Baksi und Mehmed Uzun gelebt. Gerade Letzterer ist der vielleicht bekannteste kurdischsprachige Schriftsteller der Türkei gewesen – für einige gilt er sogar als Schöpfer einer eigenen kurdischen Romansprache. Hier in der Götgatan haben kurdische Schreibende ihre Sprache konsolidiert. Es ist eine schöne Straße, hügelabwärts für Autos gesperrt, am Ende öffnet sich der Blick auf die Insel Stadsholmen und die mittelalterlichen Dächer von Gamla Stan.

Cewerî hat hier in Schweden seit den Achtzigerjahren Yaşar Kemal, Dostojewski, Tschechow, Astrid Lindgren und Henning Mankell ins Kurdische übersetzt. In Uppsala war es, dass Cewerî in der Bibliothek über die Arbeiten des Forschers Stig Wikander die Zeitschrift Hawar entdeckte. Sig Wikander ein Komparatist, Iranist und Historiker, der sich für Kurdologie interessierte und dessen letzte bekannte Arbeit sich auf die Begegnung von Wikingern und Arabern bezieht, musste in seiner Forschung auf diese kurdische Literaturzeitschrift gestoßen sein und sie in die Bibliothek in Uppsala aufgenommen haben. Hawar, das kurdische Wort für Hilfe, war der Name der Zeitschrift, die von 1932 bis 1943 in Damaskus publiziert wurde. Der Herausgeber war ein im Jahr 1893 in Istanbul geborener kurdischer Aristokrat namens Celadet Ali Bedrihan. Auf den alten Schwarzweißbildern, die ich im Internet von ihm finde, sieht er mit seinem Schnauzbart und Anzug im Profil Rilke ähnlich. Die Nutzung des lateinischen Alphabets als kurdisches Schriftbild geht auf diese Zeitschrift zurück. Cewerî, der junge kurdische Schriftsteller und Übersetzer, erkannte die Bedeutung Hawars für die kurdische Literatur und neuere Kulturgeschichte – er legte alle 57 Ausgaben neu auf.

Später besuche ich die Kurdische Bibliothek Stockholms. Der Leiter Newzad Hirar ist ein schmächtiger, liebenswürdiger Mann, der leise spricht und unter den großen Brillengläsern leicht schielt. Seit mehr als zwanzig Jahren leitet er die Bibliothek. Gegründet hatte sie ein Mann namens Nedim Dağdelen, von dem jetzt ein Bild über der Vitrine mit den wertvollsten Büchern hängt. Die Regale sind aufgeteilt nach Sprachen. Im kleinsten Regal finden sich Bücher auf Zazaki, im größten auf Türkisch. Ich frage ihn nach der Zeitschrift Hawar. Er weiß sofort, wo sie zu finden ist, und ich halte das Original in der Hand, Damaskus, Mai, 1932.
 

Zeitschrift Hawar Foto: Deniz Utlu

Ich telefoniere mit Vildan Tanrıkulu, Lehrer für kurdische und türkische Muttersprache, alter Freund von Murat Öztermir, seine schmalen Lippen gehen nach innen, was ihm einen Anschein von Zerbrechlichkeit und Liebenswürdigkeit gibt. Aufgrund der Enkelkinder, sagt er, hat er wenig Zeit, aber es würde ihn freuen, wenn ich zur Newroz-Feier einer neugegründeten Partei käme, dort könnten wir uns unterhalten. Das Treffen findet in einer Halle irgendwo in einem Industriegebiet statt. Ein Mann spielt Keyboard und singt. Menschen aus dem Publikum stehen auf, greifen nach dem Mikrofon und übernehmen den Gesang zeitweilig. Viele Frauen tragen bunte, weite Kleider: violett, grün, goldgelb. Zwischen zwei Liedern hält ein älterer Mann eine Rede auf Kurdisch. Immer wieder kommen Freunde oder Bekannte von Vildan und umarmen ihn. So geht es an vielen Tischen zu. Ein Mann setzt sich zu uns, er sagt, er sei Journalist und schreibe für viele Zeitungen. Er und Vildan geraten in ein freundschaftliches Streitgespräch. Es geht um die willkürliche Festnahme des Bürgermeisters von Istanbul Ekrem İmamoğlu. Der Journalist sagt, die türkische Politik sollte ihnen gleichgültig sein, die kurdische Kultur blühe in der Diaspora. Vildan sagt: Wir haben unsere Werte, zu denen müssen wir auch jetzt stehen. Wir schlagen uns auf die Seite des Rechts, da das Recht unser Prinzip ist – auf unsere eigene Seite also.

Vildan und ich gehen an die frische Luft. Unter den hohen Bauklötzen, die durch Brücken über unseren Köpfen verbunden sind, steckt er eine Zigarette in die nach innen gehenden Lippen. Eine Frau tritt aus dem Saal zu uns. Vildan stellt sie vor, sagt, das sei die Dichterin Nesrîn Rojkan, sie schreibe auf kurdisch und sitze der Kurdischen Schriftstellervereinigung in Schweden vor. Die Frau sagt: Wir werden Vildan und den Lehrern und Lehrerinnen seiner Generation gegenüber ewig dankbar sein. Sie haben unsere Zunge gerettet. Da Vildans Lippen nach innen gehen, lächelt er mit den Augen, sie werden feucht. Bei der nächsten Zigarette, die er sich ansteckt, frage ich: Warum Schweden? Vildans Antwort ist klar, so wie Keyas es gewesen war: Schweden war eine Utopie. Natürlich habe es eine intellektuelle, ambitionierte kurdische Szene hier gegeben, aber das alles, die Sanierung eines ganzen Volkes, hätte niemals möglich sein können, ohne die schwedische Sozial-, Bildungs- und Migrationspolitik der Siebziger- und Achtzigerjahre. Für alle Eingewanderten hätte der Staat sofort Sprachkurse eingerichtet, Muttersprachenunterricht und Schwedisch. Für Kurdisch, eine unterdrückte Sprache, habe es zuvor kein Lehrmaterial gegeben. Das sei alles erst hier entstanden: Wir haben unsere Wörterbücher selbst geschrieben. Und der Staat hat das gefördert. Nicht nur finanziell. Sondern auch utopisch.

Ich erwähne nicht, dass mir die Schriftstellerin und Bibliotheksmitarbeiterin Şermin Bozarslan erzählt hat, die Mittel würden gekürzt werden. Sie fürchteten, dass sie die Bibliothek verlieren könnten. Sie träfen auf weniger Akzeptanz.

Die Ermordung von Olof Palme 1986 war ein Wendepunkt, sagt Keya. Man habe damals die PKK beschuldigt, sie hätten den schwedischen Ministerpräsidenten getötet. Bei Per Olov Enquist lese ich darüber. In Kartritarna folgt gleich auf das Kapitel Meteorsplitter das Kapitel Ein Wintermord. Darin zitiert Enquist die Zeugenaussage eines Privatermittlers, wonach sich Syrien, Iran und PKK bei einem Geheimtreffen in Damaskus 1985 geeinigt hätten, Olof Palme hinzurichten. Enquist kommentiert das mit: "Viele hatten Hypothesen". Ob das Geheimtreffen stattgefunden habe oder nicht, sei irrelevant, es sei zeitlich nicht in Zusammenhang mit dem Mord zu bringen. Keya sagt, dass keine Kurden in die Ermordung von Olof Palme involviert gewesen waren, sei indes klar. Aber die Folgen für die Kurden seien verheerend gewesen. Man sei beäugt worden. Kurdischen Kindern hätten die Mitschüler zugerufen: Ihr habt unseren Ministerpräsidenten ermordet.
 
Es war die Zeit für die neuentdeckte schwedische Rechtsfäulnis. Es war heiß und feucht, und alles schien sich zu einem Beweis zusammenzufügen: dem Bild der Verlogenheit des angeblichen Idylls. / Was konnte man eigentlich sehen, ja, das wahre Gesicht der Utopie, mit widerlichen kleinen Löchern. - Per Olov Enquist [x]
 

Die Stadt unter der Stadt. Gedankenkarten - Deniz Utlu - Bild 3 Foto: Deniz Utlu

Enquist schreibt über Schweden. Was er meint, ist europäisch, auch wenn es – das löchrige Gesicht der Utopie – für ihn sichtbar wird im angeblichen Idyll. Wir sind alle Sozialdemokraten. Wir sind Menschenfreunde, aber wir können freundlich hassen. Wir brauchen einen Schuldigen, um selbst unschuldig zu sein. Denn wir sind unschuldig und verantwortungsbewusst. Die alten Geschichten immer wieder neu. Ihr habt unseren Ministerpräsidenten getötet.

***

Jetzt schieben die Giganten, geboren aus dem Blut des Urgottes Uranos, das auf die Erde Gaias fiel, als Kronos, der Titan, ihn entmannte, die Steine zur Seite und steigen hervor, um die olympischen Götter zu stürzen, die Ordnung des Zeus zu zerbrechen und die Herrschaft der Titanen zurückzuholen. Der Zeus-Altar feiert den Sieg über die Giganten, die für eine reaktionäre alte Macht stehen, die nicht restlos von der neuen olympischen Ordnung ersetzt werden konnte. Ein Muster, das sich seit jeher wiederholt: Kräfte, die als besiegt gelten, sammeln sich im Dunklen, in Gedanken, in Herzen, schließlich in Aktion. Übertragen auf das Europa heute können die Giganten für nationalistisches, archaisches Machtstreben stehen, das nichts von universalistischen Werten wissen will. Und niemand ist geblieben, um die neue Ordnung gegen die alte zu verteidigen. Wo ist Herakles? Er fehlt ja sogar auf dem Fries des Pergamonaltars.

Auch war die neue Ordnung – der Menschenrechte und Vernunft – vielleicht nie ganz in Kraft getreten, sondern Utopie geblieben? Gezwungen, was Utopie ist, als gelebte Wirklichkeit zu behaupten, um das Selbstbild zu bewahren, wurde Europa notgedrungen scheinheilig.
 
Schweden war so ruhig, die Demokratie war intakt, der Nationalstaat war nie in Frage gestellt, der Traum vom permanenten Wachstum noch immer tief und ruhevoll. Wir hatten keine Probleme mit unserem Selbstverständnis. Wir waren nicht verschlungen worden, alles war im Gleichgewicht; und warum sollten wir nur eine einzige Sekunde glauben, daß ein Schuß fallen würde, ein erstes kleines Zeichen, daß eine Epoche angefangen hatte, zu Ende zu gehen. - Per Olov Enquist
 
Einige Wochen vor meiner Reise nach Schweden erschießt am 04. Februar 2025 ein Mann elf Menschen in einer Bildungseinrichtung für Erwachsene in Örebro – die Ermordeten stammen aus Syrien, Iran, Eritrea, Somalia.
Nach dem Sieg über Frankreich, der Krönung des preußischen Königs zum Kaiser und der Gründung des Deutschen Reichs und nachdem in Paris die Gefährdung des Kapitals, die Commune, zerschlagen worden war, stand eine Zeit der industriellen Expansion, der Kontrolle über Kontinente bevor, und die Hauptstadt, Sitz des Hofs, verlangte nach Schätzen, die den musischen Sinn des Monarchen und Kolonialherrn hervorheben konnten. Deshalb wurden, ungestört vom Krieg, der zwischen der Türkei und Rußland ausgebrochen war, die Grabungen auf Pergamons Berg fortgesetzt. - Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands [xi]

Nach der Zerschlagung der Pariser Kommune, des ersten Arbeiterrats, der nach der Macht griff, hieß die neue Ordnung Industrie und Kontrolle. Die Bedeutung des Altars für Deutschland hatte etwas mit der Entwicklung des eigenen Nationalismus zu tun.

Das Herstellen von Ordnung kippt so leicht: Per Olov Enquist trifft auf seiner Reise Anfang der Siebzigerjahre auf zwei Deutsche an einer Busstation, auf ein Paar – „Kolonialisten dritter Generation“. Deutsche Meteorsplitter, ähnlich wie die Schwedischen, die Enquist eigentlich besucht hatte. Sie sprechen ein älteres Bibeldeutsch. Dem Mann ist es wichtig zu betonen: Hier herrscht jetzt Ordnung. Enquist hält ihn für arm, denn seine Schuhe sind kaputt, er hat Zahnlücken. Doch der Mann ist Landwirt, besitzt einen Traktor und beschäftigt „Peónes“, unterbezahlte Bauern, die nicht frei über ihre Zeit verfügen dürfen – ein System, das man heute als moderne Sklaverei bezeichnen würde. Die „Ordnung“, von der der Deutsche spricht, ist die „politische Ordnung“, es geht ihm allein darum, dass die Kommunisten verschwinden.
 
Ich hätte an seinem Gesicht sehen sollen, dass er (…) einer von denen war, der die Ordnung verteidigte gegen die, die die Ordnung zu stören versuchten. - Per Olov Enquist [xii]

Als die drei Freunde in der Ästhetik des Widerstands später getrennt sind, erhält das Ich einen Brief von Heilmann, der sich von Herakles distanziert. Er kommt auf die leere Stelle im Fries zu sprechen, in das sie denkend an Herakles, den Sterblichen, ihre Utopie hineinsetzen wollten. Genau an dieser Stelle am Fries, unterhalb der Leerstelle, sei der Kopf eines Menschen zu sehen, der von den Blitzen Zeus‘ niedergeworfen worden war, und vielleicht würde Herakles gleich mit der Keule ausholen, um jenen Kopf zu zerschmettern. Nein, Heilmann wolle ihn nicht ganz aufgeben, sich nicht überzeugen lassen von den Darstellungen der Herrschenden. Aber er zweifelte jetzt: Für wen kämpfte Herakles eigentlich?

Und doch kann in dem, was grausam ist, nie Schönheit enthalten sein, sagte Coppis Mutter. - Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands [xiii]

Die Herrschaft von Kronos, die wieder hergestellt worden wäre, wenn die Giganten gesiegt hätten, beschreibt Hesiod als ein Zeitalter des Friedens unter den Menschen, in dem keine Gesetze nötig waren, keine Knappheit herrschte, die Tage heiter waren und das Sterben wie ein Schlaf.

Waren die Giganten also nicht im Einsatz für die alte Macht, sondern für eine Freiheit von einer Ordnung, die sie nie gewollt hatten? Sie, die Kinder der Erde, die Kinder des Himmels, die Naturverbundenen. Und war Herakles, der Sterbliche, nicht zu ruhmsüchtig, um die Götterwelt abzulehnen und zu würdelos, um auf der Seite der Sterblichen zu bleiben? Er akzeptierte die Aufnahme in den Olymp. Was war mit den Grubenarbeitern, die er doch einmal hinter sich versammelt hatte? Einen Helden zu küren ist kein Widerstand. Die Ästhetik des Widerstands ist eine Suchbewegung, ein Protokoll des eigenen Lernens im Gespräch mit Freunden, misstrauisch allen Darstellungen, da sie stets die Perspektive der Herrschenden widerspiegeln. Die Auseinandersetzung mit der Mythologie bezweckt keine Allegorien für die Gegenwart, sondern soll die Herkunft der Gewalt und die Möglichkeiten, sich gegen sie zu stellen sichtbar machen. Mythen sind nicht äußerlich, sie sind in den Menschen gewachsen. Das Lernen ist eine Notwendigkeit des Widerstands. Die Rastlosigkeit der Zeit kann die Suchbewegung nicht unterbrechen. Keine Suche nach einem Fürsprecher. Suche nach einer Sprache.

Ich sitze in einem Café, es ist ein großer halbdunkler Saal in der Drottninggata. Diagonal von mir aus auf der anderen Seite des Saals schreibt eine junge Frau in ein Heft. Und ich auf meiner Seite des Saals schreibe auch ins Heft. Ich bin in diese Straße gekommen, weil es heißt, dass hier das Alma Schedings Pensionat gewesen ist, wo Peter Weiss, als er nach Stockholm kam, seine erste Bleibe fand. Er wurde in der Nähe von Potsdam geboren, verbrachte einen Teil seiner Kindheit in einem Industriegebiet in Bremen an der Weser. Als er 13 Jahre alt war, zog er mit der Familie nach Berlin. Er war 17, als seine geliebte Schwester Margit starb. Wie Kadmos nach seiner Schwester Europa suchte er ein Leben lang nach ihr – in seinen Bildern und Texten. Mit 19 Jahren endete sein Leben in Deutschland, wo er nie deutscher Staatsbürger, sondern Tscheche über den Vater geblieben war, für immer. Er sollte nie wieder an einem Ort leben, an dem seine Muttersprache gesprochen wurde. Da dem Vater aufgrund der jüdischen Herkunft die Staatsbürgerschaft in Deutschland verweigert wurde, reiste die Familie 1935 nach England aus. Nach einem kurzen Versuch in Warnsdorf in Tschechien zu leben – bis sich Hitlers Annexionsinteressen allzu deutlich abzeichneten – migrierte die Familie 1937 endgültig nach Schweden. Peter Weiss war 21 Jahre alt. Vermutlich sprach er nur im Haus seiner Eltern deutsch, zu denen er ein distanziertes Verhältnis hatte. Er sucht nach Ausdrucksmitteln, will vor allem Maler werden, findet jedoch kaum Anerkennung in Schweden. Er schreibt, verfasst die ersten veröffentlichten Texte auf schwedisch.
Ich hatte kaum Deutsch gesprochen, hatte mich von der deutschen Sprache und allem, was mit Deutschland zusammenhing, völlig abgewandt (…). Die deutsche Sprache hatte dann überhaupt nichts mehr zu tun mit dem deutschen Hintergrund: ‚mein‘ Deutsch war nur noch eine Fremdsprache, die ich mir mühsam zurückerobern mußte. - Peter Weiss [xiv]

Die kurdischen Schriftsteller in der Götgatan hatten eine Sprache zurückerobert für die Literatur des 20. Jahrhunderts, indem sie Romane in der in ihrer Heimat lange Zeit geleugneten und verbotenen kurdischen Muttersprache verfassten. Sie retteten die kurdische Sprache als Ausdrucksmittel schriftlichen Erzählens und Dichtens. Aber sie mussten die Sprache zunächst für sich selbst retten, um schreiben zu können, ebenso wie Peter Weiss seine Sprache rettete, dessen schwedischen Texte zwar Lob fanden, aber von denen er sagte: „das waren nicht meine Ausdrucksmittel.“ Er kehrte zurück zum Deutschen, das ihm fremd geworden war. Er kehrte allerdings nur zur Sprache zurück, zu seinem Ausdrucksmittel, nicht zum Deutschen als Nation, nicht zum „deutschen Hintergrund.“ Die kurdischen Schreibenden schufen den Hintergrund erst, mit dem sie etwas zu tun haben wollten.
Der Verlust der Muttersprache entspricht dem Zusammenbruch der ureigensten Persönlichkeit.
Tezer Özlü [xv]
Tezer Özlü. Sie veröffentlichte auf Türkisch, schrieb und dachte aber oft auf Deutsch. Erlernt von autoritären Nonnen auf dem katholischen Gymnasium in Istanbul: ihr Deutsch. Sie musste auf Türkisch schreiben, nicht aufgrund eines Hintergrunds, sie lehnte jeden Hintergrund ab. Sondern damit ihre ureigenste Persönlichkeit nicht in sich zusammenfiel. Sie verehrte Peter Weiss.

Wissen Sie, als junger Mann habe ich angefangen, ganz aus meinen eigenen Erfahrungen heraus genau das zu machen, was in mir war, ohne zu fragen, wo es hineinpaßt, ob es überhaupt jemanden gibt, der sich dafür interessiert. (…) Ein Bild ist eine geschlossene Einheit, und ich selbst war so zerfetzt von dieser ganzen Situation, daß ein einziges geschlossenes Bild mir nicht mehr genügte. - Peter Weiss [xvi]

Ich habe Die Ästhetik des Widerstands mit nach Schweden genommen, weil ich Variationen auf Peter Weiss schreiben wollte – angeregt von Tezer Özlü, die das einmal mit Cesare Pavese gemacht hat: Reisen, körperlich in die Stadt des Schriftstellers; reisen, geistig in die Worte. Doch für mich wurden seine Worte zu Orten und ich lief durch seine Sätze, wie durch die Straßen Stockholms. Und überallhin begleiteten mich von seinen Worten getragen die Figuren des Frieses aus Pergamon. Der Widerstandsblick auf die Figuren aus Stein heißt, sie immer wieder anders zu sehen, zu begreifen, zum Leben zu erwecken: Herakles, ein Held, der Grubenarbeiter und Sklaven befreit. Oder Herakles, der Brutale, dem es um den eigenen Ruhm geht. Die Götter des Olymp Symbole für eine gerechte Ordnung oder Wahrzeichen des Kapitalismus. Die Giganten: Mächte der Befreiung oder der Zerstörung?

Ich schaue von einer anderen Seite auf den Fries in meiner Vorstellung: Gaia, Mutter der Erde, ruft die Giganten zum Widerstand gegen einen Zeus auf, der tyrannisch geworden ist, wie seine Ahnen. Er ist das löchrige Gesicht der Utopie. So gewendet, steigen aus der Erde nicht die faschistischen alten Kräfte, die verdrängt waren. Der neuen Ordnung selbst ist die Gewalt inhärent und sie aktiviert die sterblichen, in ihrem Stolz verletzten Kräfte zur Zerstörung.

1982 – treffen Tezer Özlü und Peter Weiss in Bremen aufeinander, wo Weiss eben den Literaturpreis der Stadt verliehen bekommen hat. Sie spricht ihn auf die schwierige Erzählweise in Die Ästhetik des Widerstands an – denn ein Schreiben gegen die Regeln des Erzählens ist auch das, was sie in ihrem vor zwei Jahren erschienen ersten Roman Die kalten Nächte der Kindheit versucht hat.
 
Schwierig vielleicht, aber nicht unmöglich zu verstehen. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch so geschaffen ist, dass er alles begreifen kann. (…) Dieser Roman ist meine eigene Entwicklung. Es ist wichtig von neuem zu beginnen. Nicht nur inhaltlich. Auch die Form muss von neuem beginnen. - Peter Weiss im Gespräch mit Tezer Özlü [xvii]

Das Neue beginnt in der Sprache.
 
Einmal hatten wir uns wütend davon losgesagt, daß die Lektüre eines Buchs, der Besuch einer Kunstgalerie, eines Konzertsaals, eines Theaters für uns mit zusätzlichem Schweiß und Kopfzerbrechen verbunden wäre. Inzwischen gehörten die Versuche der Sprachlosigkeit zu entkommen, zu den Funktionen unseres Daseins, was wir dabei fanden, waren erste Artikulationen, es waren Grundmuster, von denen aus das Verstummen überwunden“ werden konnte. - Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands [xviii]

Wie war das Lesen? Auf Turoyo: Toxu Qorena. Turoyo: Das Aramäisch der Region Tur Abdin bei Mardin. In Södertälje, unweit von Stockholm haben Einwanderer ein lateinisches Schriftbild für ihren Dialekt des Aramäischen entwickelt, damit ihre Kinder die Sprache der Ahnen lernen. Das selbst verfasste Schulbuch, gedruckt im Jahr 1983 für den Muttersprachenunterricht, heißt Toxu Qorena. Wie bei Özlü, Weiss und den kurdischen Autor:innen ist die Sprache auch hier der Weg der Emanzipation.

Auf dem Weg nach Södertälje: Birken. Manchmal Felsen.

Seit Tagen bin ich mit einem Mann namens Ilhami Çelebioğlu via Sprachnachrichten in Kontakt. Er spricht ein älteres, sehr höfliches Türkisch, wie ich es aus den Filmen der Sechzigerjahre kenne. Gehoben siezend, gleichzeitig herzlich nah. Deniz Bey, sollten Sie es einrichten können, so belieben Sie bitte, den Zug um 14.02 Uhr ab Stockholm Centralen nach Södertälje zu nehmen, allerdings – Vorsicht! – fahren Sie doch bitte nicht bis zur Endstation, sondern seien Sie so freundlich, an der vorletzten Haltestelle, namentlich Södertälje Syd, auszusteigen. Dort werde ich Sie in Empfang nehmen – in der Hoffnung, Sie bei bester Gesundheit und in friedlicher Verfassung anzutreffen.

Ich folge den Anweisungen von Ilhami Çelebioğlu, bis ich den Parkplatz vor dem Bahnhof erreicht habe, wo er bereits vor dem Wagen stehend auf mich wartet. Er ist groß, schlank, gefärbter schwarzer Bart am Kinn, Sonnenbrille, der haarlose Kopf glänzt im Licht, er lächelt. Wir steigen in den Wagen. Ich finde es aufregend in Södertälje zu sein – einige nennen diese Stadt, das habe ich bei Murat Öztemir gelesen, das Midyat Europas. Midyat ist eine Kleinstadt in der Provinz Mardins, auch dort wie in Mardin selbst sind die Häuser aus gelbem Kalkstein; die Menschen schlafen im Sommer auf den Dächern. Der Name der Stadt, heißt es, geht auf das altassyrische Wort Matiate zurück – die Stadt der Höhlen. Vor einiger Zeit haben Archäologen unter Midyat ein weiteres Matiate gefunden, eine Höhlenstadt aus dem 3. oder 4. Jahrhundert, groß genug für siebzigtausend Einwohner. Christen, heißt es, auf der Flucht vor Römischer Herrschaft haben sich in Höhlen zurückgezogen. Auch Şahmaran, die Schlangenkönigin mit ihrem Volk der Schlangen floh unter die Erde, verfolgt von Menschen, trachtend nach ewigem Leben, wofür Şahmaran das Mittel kannte. Unter der Erde lebte das Volk der Schlangen Jahrhunderte lang sicher versteckt in einem paradiesischen Garten.

Von der Stadt Södertälje ist nichts zu sehen. Rings um uns weites Land. Nadelbäume in der Ferne, gelbe Gräser. Ilhami Çelebioğlu fährt von einer Landstraße in die nächste. Schließlich ist ein Viereck in der Landschaft zu sehen, ein Einzelhandelsgeschäft. Wir fahren auf den Parkplatz und halten davor. Ilhami Çelebioğlu sagt: Wir sind da. Biltema ist eine schwedische Einzelhandelskette für Autozubehör, Werkzeuge, Haushaltsbedarf und gilt aufgrund der Geschäftsidee, direkt beim Hersteller einzukaufen als besonders günstig. Das Logo ist der Name in Blau und Großbuchstaben. Wir sind da, frage ich.

Wir betreten das Geschäft. Gegenüber von uns viele Kassen, die parallel zueinander stehen. Dahinter Korridore aus Produktregalen, soweit das Auge reicht. Die Decke: Fünf Meter hoch, womöglich höher. Wir gehen nicht zu den Kassen, sondern in die Cafeteria rechts, vorbei an der Theke mit dem in Plastik abgepackten Garnelensalat und den Kuchenstücken und dem Kaffeeautomaten, zu den Tischen, zwischen denen Kästen stehen, in die man die Tabletts nach dem Essen zurückstellt. Die Fenster gehen zum Parkplatz und zur Landstraße hinaus, dahinter wieder Felder, Bäume, Gräser. An zwei Tischen sitzen zehn Männer. Sie trinken Kaffee. Keiner hat die Jacke ausgezogen. Man erwartet uns.

Die Männer sind alt. Ihre Stimmen sind tief. Sie sprechen die älteste Sprache der Welt. Wir begrüßen uns, danach bin ich still und lausche zwischen ihnen sitzend den Stimmen. Sie unterhalten sich seit fünftausend Jahren. Irgendwann werden Landesgrenzen gezogen, sie unterhalten sich weiter, hocken vor der Kirche in Matiate, in Midyat, in ihrem Reich, im Reich der Osmanen später, sie unterhalten sich weiter. Sie werden verfolgt, vertrieben, getötet, sie unterhalten sich weiter. Als Arbeitende ziehen sie nach Deutschland, Schweden und überall in die Welt, unterhalten sich weiter in der Cafeteria einer Filiale des Einzelhandels für Autoteile und Haushaltswaren Biltema. Auch bei uns ist Jesus nicht Gott, sondern Menschen. – Was erzählst du da, beginnst du denn sonntags in der Kirche nicht das Gebet im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. – Ach, den habe ich schon lange nicht mehr in der Kirche gesehen. – Jetzt lasst mich doch mal ausreden. Die Dreifaltigkeit ungebrochen gilt erst seit dem Konzil von Nicäa im Jahr 325. Und unsere Freunde, die Nestorianer sind, was ist mit denen? Die reden immer noch davon, dass die heilige Mutter ein Menschenwesen gebärt hat. – Jetzt hör aber auf, seit 1700 Jahren immer die gleiche Leier.

Die meiste Zeit reden sie assyrisch oder arabisch und Ilhami übersetzt für mich, wenn sie ins Türkische wechseln, brauche ich keine Übersetzung. Ich frage, welche Sprache sie zuhause sprechen. Meistens arabisch, sagt einer. Assyrisch natürlich, sagt ein anderer. Türkisch spreche ich im Urlaub, sagt ein dritter, er hat vom Alter her schattige Falten im Gesicht, trägt einen weißen Bart, seine Stimme ein tiefer, runder Bariton, das Organ eines Opernsängers, aber nie eingesetzt für Gesang, sondern immer für Gespräche unter Freunden. Und früher, frage ich. – Ach, früher gab es doch gar kein Türkisch, sagt jemand. – Was meinst du mit früher gab es kein Türkisch, was soll das heißen, man muss doch irgendwie mal erklären, was man so einfach in den Raum wirft, harscht ihn einer an, aber er bleibt ruhig, sagt: – Seit wann gibt es Türkisch? Seit vierzig, fünfzig Jahren? – Meinst du die Sprachreform Atatürks, die war vor hundert Jahren, aber Türkisch gibt es seit mehr als tausend Jahren, zumindest meines Wissens. – Hundert Jahre, tausend Jahre, das ist doch nichts. – Ach so meinst du das, sag das doch gleich.

Einige der Männer verabschieden sich. Einer sagt, beim Aufstehen, wir würden uns kennen. Ob ich vor zwanzig Jahren mit meiner Mutter die Kirche in Ainwardo bei Midyat besucht hätte? Ich war tatsächlich dort mit meiner Mutter und dem Journalisten, dessen Verbindungen mich hierher, nach Södertälje, an diesen Tisch geführt haben. Der Mann nickt mir lächelnd und verschwörerisch zu. Dann dreht er sich um und verlässt rasch an den Kassen vorbei die Cafeteria.

Der Mann mit der Baritonstimme bleibt. Er erinnert mich an meine Onkel mütterlicherseits und mir wird warm ums Herz, wenn er spricht. Er hat in Ankara studiert, an der Middle Eastern Technical University. Ich kenne den Campus, einige Male sind meine Mutter und ich mit meiner Tante, die als Alumni Zugang hat und uns mitnehmen durfte, dorthin gefahren. Der Man heißt Aydın Aydoğan, er ist der Schwager von Ilhami Çelebioğlu. Er ist einer der Autoren des Buchs Toxu Qorena. 1982 suchte man in Schweden, zumindest in Södertälje nach Lehrpersonal. Als er der Schulleiterin eines Gymnasiums – Siv Nordell – sein Diplom in Mathematik zeigte, stellte sie ihn sofort als Lehrer ein. Sie war es, die zu Aydın sagte: Die Kinder brauchen Muttersprachenunterricht. Aber es gibt keinen Unterricht in ihrer Muttersprache. Ab jetzt schon. Daraufhin entwickelten Aydın Aydoğan und einige andere Lehrmaterial und gaben Muttersprachenunterricht. Aydın Aydoğans Lachen ist ein kurz angeschlagenes rundes E-Moll: Die Kirche war damit nicht sehr glücklich. Sie wollten nicht, dass wir eine Schriftsprache verwendeten und einen Dialekt lehrten, der von der Liturgie abwich. Aber ich sagte, wir reden doch nicht so wie wir beten. Und warum sollen wir den Kindern mit einer komplizierten uralten Schriftsprache das Leben schwer machen.

Im Internet finde ich die Todesanzeige von Siv Nordell: Wir erinnern uns an Mama als eine moderne und unkonventionelle Frau mit einem unstillbaren Wissensdurst, der ihr ganzes Leben lang anhielt. [xix]

Dr. Edward Tanrıverdi – Edward dayı, wie Aydın Aydoğan sagt – wurde am 18. Dezember 1994 vor seiner Haustür in Midyat erschossen. Er galt als letzter christlicher Arzt der Region. Der Mord blieb unaufgeklärt. Von islamistischen kurdischen Gruppen bis zum türkischen Staat gibt es verschiedene Spekulationen in assyrischen Foren im Internet. In einer sechshundert Seiten langen Dissertationsschrift mit dem Titel Hostages in the Homeland Orphans in the Diaspora [xx] heißt es, dass der Mord zur Auswanderung weiterer Assyrer aus ihrer Heimat geführt hätte und zu gegenseitigen Schuldzuweisungen der Gebliebenen und der Ausgewanderten: Warum seid ihr auch dort geblieben? Wie konntet ihr uns hier zurücklassen?

Ilhami fährt mich durch Södertälje. Wir kommen an enormen Lagerhallen vorbei und riesigen Parkanlagen mit tausenden Autos. Ilhami sagt, jetzt arbeite auch er hier, wo viele aus der alten Heimat ihr Leben verbracht hätten: bei Scania. Sein Herz gehöre der Musik. Er spiele kein Instrument, aber das erste Musikgeschäft in Midyat habe er betrieben: Magnolia. Verliebte ließen dort Mix-Tapes machen, eingeleitet von seiner Stimme mit Worten für die Geliebte. Ilhami strahlt. Das sei lange her.

Auf meine Bitte hin zeigt er mir die Kirche seiner Gemeinde. Hoher Saal, bemalte Decken, Kinder, die den Katechismus lernen. Vor der Kirche ein Denkmal eingedenk des Seyfo – die Inschrift lautet: Niemals vergessen, immer ehren / 100. Jahrestag des Seyfo / Das Jahr des Schwertes 1915 / In Gedenken an / die syrischen (aramäischen) Opfer / von denen mehr als 500.000 / ihr Leben verloren haben während / des Völkermords / im Osmanischen Reich 1915. [xxi]

Die Stadt unter der Stadt. Gedankenkarten - Deniz Utlu - Bild 4 Foto: Deniz Utlu

Ilhami fährt mich zurück nach Stockholm, wo ich mit Keya auf dem offiziellen Newroz Fest verabredet bin, um mich zu verabschieden. Auf dem Weg erzählt Ilhami, er lebe allein. Die Kinder seien aus dem Haus. Er und seine Frau hätten sich scheiden lassen, aber seien noch gut befreundet. Beides schwer zu vermitteln in seinen Kreisen: Scheidung, Freundschaft nach Scheidung. Dabei gehe es doch darum, dass wir Menschen einander zugewandt seien in der Zeit, die auf Erden uns gegeben sei. Wir umarmen uns beim Abschied. Er sagt: Komm bald wieder.

Die Feier zum kurdischen Neujahr, Newroz, findet in der Historika Museet statt. Ich sehe dort Cewerî mit dem silberschimmernden Haar. Ich schüttele Poliker:innen die Hand. Kurd:innen aus der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration, die ins schwedische Parlament gewählt wurden. Ältere Männer in traditioneller Kleidung, von denen es heißt, sie seien Helden im Befreiungskampf gewesen. Dann wird im historischen Museum Stockholms Halay getanzt. Ich frage mich, was es bedeutet, dass kurdische Bräuche im Museum gelebt werden. Dass sie Teil der Vergangenheit der gegenwärtigen schwedischen Gesellschaft sind? Oder dass sie Teil der Gegenwart einer neu entstehenden schwedischen Gesellschaft sind? Was sind die Koordinaten der kurdischen Neujahrsfeier in Stockholm in der Gedächtniskartographie? 5000 Grad Mythos (5000°M) oder 100 Grad Utopie (100°U)?

Ich laufe müde zurück in meine raskolnikoffsche Dachkammer in Södermalm. Ich notiere: Eine zeitgemäße Kartographierung verzichtet auf den Zuordnungszwang von Kultur (Sprache), Volk und Territorium. Eine Kartographie ist keine Ethnographie. Der Kartenzeichner unserer Zeit ist Poet. Er verzeichnet Geschichten. Die Geschichten liegen in den Menschen und Büchern.
Jetzt konnten wir miteinander reden. Da, damals, konnten wir das nicht. Und jetzt war es zu spät. Das war vielleicht das Eigentliche.
Per Olov Enquist [xxii]
Zitate, Erinnerungen, Geschichten (der Begegnungen und der Landschaften). Das Europäische: der zufällige oder zu gefallene Ort der Geschichten, Erinnerungen, Zitate.

Gegen Morgen ging ich in der schrägen Sonne. – Per Olov Enquist [xxiii]

Ich laufe durch die Straßen Stockholms, den ganzen Tag lang.

In der Götgatan überrascht mich, an der Hügelspitze bergab blickend, am Horizont, wo alle Straßen aufhören, in der untergehenden Sonne rosafarben, glühend, glänzend, ein enormes – erst glaube ich, es ist eine Einbildung und reibe mir die Augen – weißes, rundes Gebäude, das sich prall, wie eine Praline mit weißer Schokoladenschicht unwirklichen Ausmaßes in den Himmel wölbt, als hätte man sich hier gegen Phallussymbole als Wahrzeichen, wie sie in großen Städten üblich sind, und stattdessen für einen Busen entschieden, auf dem bei Sonnenuntergang ein rotes Licht fällt, sodass ihm eine kandierte Kirsche aufsitzt; der aufkommende Abendwind weht uns winzigen Passanten um die Köpfe.

1947 arbeitete eine achtzehnjährige Frau in der Buchhandlung in Götgatan. All die Jungs, die für ihre Schulbücher kamen, verliebten sich in sie. Einer dieser Jungs schrieb ihr Gedichte. Die junge Buchhändlerin bewahrte die Verse nicht auf, nahm sie nicht ernst. Der Junge schrieb weiter. Viele Jahre später erhielt er den Literaturnobelpreis. Er heißt Thomas Tranströmer. Ich kaufe einen Band mit seinen Gedichten. Und einen aus dem Schwedischen ins Englische übersetzten Roman von Balsam Karam – The Singularity.

Es gibt keine tektonische Grenze, die Europa und Asien trennt. Beide sind Teil der eurasischen Kontinentalplatte. Das macht die Grenze zwischen Europa und Asien fiktiv. Der ursprüngliche Superkontinent hieß Pangäa. Aus ihm brachen sich die Kontinentalplatten los. Nach hunderten Millionen Jahren kehren sie jetzt in der Gedächtniskartographie zurück zu ihrer Einheit Pangäa. Es sind nicht die Steine, die zurückkehren. Die Menschen tragen mit ihren Körpern Mythen und Utopien auf alle Kontinente – geistige Nähte: jeder Mensch eine Nadel, seine Vergangenheit der Faden, die Kontinente zusammengenäht zur Einheit, Gedächtnispangäa.

Während unsrer Kindheit hatten unaufhörlich Bemühungen stattgefunden um die Errichtung der Einheitsfront, sie waren dann, ein halbes Jahrzehnt lang, bis in die offne Macht des Faschismus hinein, festgefahren, versperrt, um jetzt noch einmal zu einer Lösung, der Überwindung begangner Fehler zu drängen. – Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands [xxiv]

Die Mauer teilt die Stadt in Kanalnähe in Ost und West. An manchen Abschnitten auf der Westseite öffnet sich eine schmale Gasse zwischen der Mauer und verfallenen Altbauten – hier leben Türken. So umfasst die Stadt nicht nur Ost und West, sondern auch die Dritte Welt. – Tezer Özlü, Die kalten Nächte der Kindheit [xxv]

Der Begriff der „Dritten Welt“ irritiert heute. Umso wahrer ist die Feststellung geblieben, dass geopolitische Einteilungen der Erde in unterschiedliche Kultur- und Identitätsräume die Lebenswirklichkeit der Menschen unserer Zeit kartografisch verfehlen.

Mesopotamien liegt in Schweden.

Es existiert eine vornationale Verbindung von Territorium und Gemeinschaft. Paradoxerweise wurde diese Verbindung durch die Nationenbildung eher gelockert und durch den Nationalismus ab dem ersten Weltkrieg schließlich zerfasert. Was Jahrhunderte lang konkret war, nämlich das tägliche Leben von Menschen an einem Ort, etwa die Assyrer im Tur Abdin, verlor an Bedeutung zugunsten von abstrakten Vorstellungen von Zugehörigkeit. Territorium und Gemeinschaft, entkoppelt durch Verfolgung, Vertreibung, Genozid und später durch die Operationen multinationaler Unternehmen. Nun ist das Territorium im Geist. Södertälje das Midyat Europas. Kurdistan als Idee. Aber die Überlegungen sind unvollständig.

So umfasst die Stadt nicht nur Ost und West, sondern auch die Dritte Welt. Ich passe diesen Satz von Tezer Özlü dem Koordinatensystem der Gedächtniskartographie an. So umfasst die Stadt nicht nur Ost und West, sondern auch den Dritten Raum. Oder: So umfasst die Stadt nicht nur Zukunft und Erinnerung, sondern auch den Dritten Raum.

Ich treffe Patricia Fjellgren, eine indigene Autorin aus Schweden, in Medborgerplatsen, wo ich sie vor dem Ausgang der Metrostation erwartet habe. Sie ist als Sámi Teil der Wahrheitskommission, die die koloniale Unterdrückung in Schweden aufarbeitet. Ihre hohen Wangen heben sich jedes Mal, wenn sie lächelt, sie strahlt. Obwohl wir uns zum ersten Mal sehen, erkennen wir uns sofort, wie alte Bekannte. Wir laufen los, als wäre das unser gemeinsamer Schulweg: bestimmt, schnellschrittig.

Sie sagt, eine Entkopplung von Geist und Territorium ist undenkbar. Das Territorium ist der Geist. Wir müssen in Zeitschichten denken. Wir können in verschiedenen Zeiten sein, simultan. Das Territorium ist immer da. Selbst wenn es zerstört wird, geschieht diese Zerstörung nur in einer einzigen Zeitschicht von Unendlich.

Wir suchen in allen Straßen nach Licht.

Bis in die Sechzigerjahre hinein verheimlichten samische Menschen ihren indigenen Hintergrund. Dabei hatten sie im Rahmen der politischen Maßnahmen für den ersten Einwanderungsstrom auch einige Rechte bekommen: zum Beispiel Muttersprachenunterricht. Doch ausschlaggebend sei der Sámi-Widerstand gewesen. Patricia spricht vom Sámi-Awakening durch den Widerstand gegen den Staudamm Alta in Norwegen. Den Staudamm konnten sie nicht verhindern, aber sie hatten sich vernetzt – untereinander und international – waren zu einer Widerstandskraft geworden.

Die diasporischen und indigenen Gemeinschaften in Schweden haben bisher wenige Schnittmengen. Ein literarisches Projekt gab es. Das samische Literaturzentrum Tjállegoahte und das kurdische Literaturhaus in Diyarbakir Wêjegeh Amed haben zehn samische und kurdische Schreibende zusammengebracht, die füreinander Texte über Zugehörigkeit und Sprache verfassten.

Die verdrängten Geschichten blieben als Staub auf der Sprache zurück, sagt Patricia.

…the dirt of the language – Patricia Fjellgren


Am Tag meiner Abreise wird der festgenommene Bürgermeister Istanbuls verhaftet. Millionen Menschen gehen auf die Straßen in Istanbul.

Monate später bin auch ich in Istanbul. Ich folge der Idee, die mir im Flugzeug nach Stockholm gekommen ist: den Zeus-Altar zurück nach Bergama tragen.

***

Wir reisen nicht über Izmir, was näher an Bergama liegt, sondern verbringen einige Tage in Istanbul. Der alte Name des Viertels, indem wir unterkommen, lautet Tatavla. Seit dem großen Feuer vom 13. April 1929 lautet der Name Kurtuluş. Hier wohnten beinah ausschließlich Armenier und griechisch-Orthodoxe. Wenige sind geblieben.

Die Cathedrale dello Spirito – Saint Esprit Klisesi – steht noch, hundert Meter Luftlinie von dieser Wohnung, in der wir untergekommen sind. Die Wohnung befindet sich in einem von vielen Häusern auf einem Hügel. Das Tal, etwa 40 Meter unter mir ist eine Straße, die Dolapdere Caddesi, wo vor einem Geschäft meterhoch gestapelte Autoreifen liegen. Dahinter wächst der uns gegenüberliegende Hügel an mit unzähligen Häusern. Meist spitze Dächer, oft schmale Häuser, sodass gerade Raum für ein Zimmer pro Stockwerk ist. Viele Häuser verfallen. Einst waren sie hier aus Holz gebaut oder aus Stein mit Erkern und Ornamenten, wie man sie heute nur noch vereinzelt findet. Obwohl die meisten Häuser, die ich von diesem Fenster aus sehe, in den Sechziger- oder Siebzigerjahren gebaut wurden, dürften ihre Maße mit den zerstörten Häusern der armenischen und griechisch-orthodoxen Bevölkerung übereinstimmen, zumindest der Breite nach, wenn auch nicht der Höhe. Vielleicht weil die alten Kataster galten. Spuren im Gedächtnis der Stadt.

Niemand unter jenen, die die Macht dazu gehabt hätten, wollte das Alte erhalten. Und doch überträgt sich die alte Form in die neue. Eine Schattenstadt wohnt in der Stadt aus Häusern und Straßen. Etwas bleibt unzerstörbar. In der Erinnerung einiger Menschen, ihren Sehnsüchten und Anekdoten, also Inhalt, und in der Anordnung und den Maßen der Häuser, also in der Form.

Selbst die neuen Namen, die die alten auslöschen sollten, werden zu Verweisen auf das, was einmal war und nie ganz aufhört: Kurtuluş (Befreiung, gemeint ist die Befreiung der Türkei), Talat Paşa Caddesi, Kuvai Milli Okulu; man hat versucht, die griechischen Namen mit republikanisch-nationalistischen zu ersetzen. Aber gerade diese Entscheidung zeigt, dass jeder Name hier eine Reaktion auf die vertilgten Namen ist. Und so bleibt das, was verschwinden sollte, stärker als das, was es ersetzt hat.

Die Menschen waren die abwesenden Zeichen. – Per Olov Enquist [xxvi]

Wir machen uns auf den Weg nach Bergama, um den Altar zurück nach Pergamon zu tragen. Der junge Mann, der im Bus arbeitet – er ist durchtrainiert, hat starke Arme –, beugt sich über meinen Sitz, sagt, er lese auch so ein dickes Buch, wie jenes das ich gerade in der Hand halte. Er holt es, um es mir zu zeigen. Er liest die Brüder Karamasow auf Türkisch. Darin steht: Europa sei ein wunderschöner Friedhof.

Beim Sonnenuntergang bekommt das Land am Horizont eine raue Oberfläche, die vielen stachelartigen Wipfel schwarzer Nadelbäume. Über ihrem Schwarz hat der Himmel die Haut eines leuchtenden reifen Pfirsichs.

Zwischen Enquists Kartritarna und diesem Schreibheft liegen 33 Jahre. Als Enquist seine Essays veröffentlichte war Olof Palme seit 6 Jahren tot, war der Sozialismus vor drei Jahren zusammengebrochen. In Deutschland brannten die Wohnungen von migrantischen Menschen. In Jugoslawien herrschte Bürgerkrieg. In der Türkei Gefechte zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK. Die Utopien zerfielen.

Wenn etwas zerfällt, entsteht daraus Neues. Das gilt nicht für Utopien.

Das worüber man nie schreibt, ist oft noch da, als Fragment.  – Per Olov Enquist [xxvii]

Die Straße führt an Olivenhainen vorbei. Sanfte Berge in der Ferne. Wir sinken in ein Tal herab. Vor uns die wolkigen Wipfel niedriger Olivenbäume. Am Ende des Tals leuchten die Lilablüten mannhoher Oleandersträuche, die am Wegesrand wachsen. Auf das Tal der Oliven folgt ein Meer der Schirmkiefern. Hoch und stark und trotzdem liebenswürdig, lustige gigantische grüne Pilze. Das Orchester der Grillen lauter als Fahrtwind und Motor.

Bei Einfahrt sehen wir linksseitig auf dem Berggipfel einen Teil der Burg. Wir fahren in Bergama ein. Wir verfahren uns in kleine Straßen. In Hauswänden fremde Steine, mit anderer Farbe, anderer Form. Monolithische Säulen vor einem Eingang. Wir fahren wieder hinaus aus der Stadt, finden den Weg hoch zur Burg auf dem Gipfel des Berges.

Wir erfahren, dass das antike Pergamon sich einmal mit Athen messen wollte, dass in ihr einmal hundertfünfzigtausend Menschen lebten und die Stadt berühmt gewesen sei für Pergamentpapier. Das heutige Bergama sei auf das alte Pergamon drauf gebaut worden. Das neue Bergama ist eine dicke Schicht Pergamentpapier, das auf dem alten Pergamon liegt, einige alte Säulen und Steine scheinen durchs Papier durch.

Gleich links vom Eingang zur Akropolis findet sich das Fundament des Zeus-Altars. Da der Altar hier nicht mehr steht und in Berlin nicht besucht werden kann, ist dieses bedeutendste erhaltene Kunstwerk der griechischen Antike mit dem Gigantenfries, verschwunden.
 
Heilmann gab die Ausmaße und die Lage des Tempels an, wie er sich gezeigt hatte, als er noch unversehrt war von Sandstürmen, Erdbeben, Plünderungen und Brandschatzungen, auf der terrassenförmig gegliederten Anhöhe der Residenz, oberhalb der Stadt, die heute den Namen Bergama trägt, auf vorgeschobner Plattform, hundertzehn Kilometer nördlich von Smyrna, zwischen den schmalen, zumeist ausgetrockneten Flüssen Keteios und Selinos, nach Westen blickend, über die Kaikosebene in Richtung des Meers und der Insel Lesbos, eine Architektur von fast quadratischem Grundriß, sechsunddreißig zu vierunddreißig Meter im Umfang, zwanzig Meter breit die Freitreppe, gestiftet von Eumenes dem Zweiten, den Göttern zum Dank für gewährte Kriegshilfe, einhundertachtzig Jahre vor unsrer Zeitrechnung begonnen und während zwanzig Jahren erbaut, weithin sichtbar, im zweiten Jahrhundert nach Christi von Lucius Ampelius in seinem Buch der Denkwürdigkeiten zu den Weltwundern gezählt, ehe sie im Schutt eines Jahrtausends versank. – Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands [xxviii]

Vor dem Fundament des Altars richte ich den Blick nach Westen. Die Pergamentstadt füllt das weite Tal beinah bis zu den Bergen am Horizont. Ich wende den Blick in den Norden, wo noch weiße Säulen des Altars für Athena in den blauen Himmel aufragen. Darunter das Amphitheater, rundlich in den Bergrock eingehauen. Ich drehe mich in den Osten, stehe jetzt vor den Gräsern, die aus dem Fundament wachsen. Wo einmal der Altar stand, den das Johannis-Evangelium als Thron des Satans beschreibt, stehen noch die umzäunten Steine des Fundaments, es wächst dort eine Aleppo-Kiefer mit grünen, locker und schirmartig wachsendem Geäst.

Ich ziehe Die Ästhetik des Widerstands aus dem Rucksack. Der Altar kehrt zurück – nicht als Stein, sondern als Geist des Steins. Ich schiebe das Buch durch den Zaun, der den wilden Garten umgibt, der Zeus noch geblieben ist. Dort, wo einst der Altar stand, jetzt trockenes gelbes Gras. Ich lege das Buch auf ein Büschel davon, vor die grauen Steine des Fundaments. Sofort blättert der Wind in den Seiten. Ich habe ihn zurückgetragen: den Altar, als Wort.
 

Die Ästhetik des Widerstands vor dem alten Zeus Altar in Bergama Foto: Deniz Utlu