Matthias Nawrat Die Goldstadt

Die Goldstadt - Matthias Nawrat - The New Cartographers
Illustration: © Ricardo Roa

Was bleibt von großen Utopien? Matthias Nawrat reist ins schwedische Skellefteå, wo die Vision einer grünen Zukunft mit Europas größter Batteriefabrik entstand – und scheiterte. Ein literarischer Blick auf Hoffnung, Wandel und die Bruchstellen globaler Träume.

„Inzwischen besteht ein Konsens darüber, daß Utopien immer den Bach runtergehen“, schreibt der im nordschwedischen Dorf Hjoggböle geborene Schriftsteller Per Olov Enquist in seinem 1992 erschienenen Essay Der Meteorsplitter. Der Essay handelt von rund dreitausend 1911 aus Nordschweden in den Norden Argentiniens ausgewanderten Arbeiterinnen und Arbeitern, deren Traum vom besseren Leben im Dschungel durch Armut und Krankheit beendet wurde. „Daß die Utopie nicht nur ein unmöglicher Traum, sondern vielmehr ein schädlicher und naiver Alptraum war“, schreibt Enquist weiter. Dennoch schien die Utopie eines besseren Lebens zu existieren, „wenn auch nicht an den Stellen, an denen man es erwartete. Man musste den Blick vom Fokus abwenden, wie nach einer Sonnenblendung.“

Aus dem Flugzeug schaut die Landschaft kurz vor dem Landeanflug wie das Fell eines Bisons aus. Bis zum Horizont nach Norden und Westen stellt der Wald, obwohl wir Anfang Mai haben, eine graue Fläche mit braunen Fellinseln dar. Dann sinkt das Flugzeug langsam herab. Seen löchern jetzt die Landschaft.
Der Flughafen verfügt über eine einzige Landebahn. Täglich drei Flüge aus und nach Stockholm, einer seltsamerweise ausgerechnet von und nach Gdańsk. Wenn ein Flug sich verspätet, muss der Flughafenbus vor dem Gebäude warten, sonst haben die Ankommenden keine Möglichkeit, in die Stadt zu gelangen.

Ende der 1970er-Jahre arbeitete mein Vater drei Sommer lang in der Fabrik eines Getränke-Großherstellers in Stockholm. Nach nur einem Monat brachte er mehr Geld nach Hause zurück, als sein Vater, der Direktor einer polnischen Textilfabrik war, im ganzen Jahr verdiente. Schweden schien, von Polen aus gesehen, ein Utopia zu sein. Noch heute stelle ich mir, wenn ich an einem polnischen Ostseestrand stehe und übers Meer blicke, hinter dem Horizont ein Paradies vor. Ich kann es nicht verhindern, es scheint in meine geistige DNA eingeschrieben zu sein. An den dunklen Winterabenden in der Plattenbausiedlung am Stadtrand von Opole, Mitte der 1980er-Jahre, in dem einsamen, von einem totalitären Regime geknechteten Teil Europas, ist die Sehnsucht dem Kind wohl durch die Membran, die einen Menschen von der Leere trennt, als Erzählung von einem besseren Leben, die die Eltern in den Nächten nebenan am Küchentisch flüsternd teilten, in die Träume eingesickert.

P. O. Enquist hat seine Kindheit in Hjoggböle verbracht, einem kleinen Dorf zwanzig Autominuten südlich der Stadt Skellefteå, dem Zentrum einer Region der Holzarbeiter und des Bergbaus. Die Region spielt in seinen Romanen immer wieder eine Rolle, genauso wie die kleinen Gemeinden der Erweckungskirche herrnhutischer Prägung, deren bitterarme Mitglieder sich gegen alle Versuche der Organisation wehrten, sowohl durch die Staatskirche als auch durch Agitatoren der Arbeiterbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Enquists Vater, ein Sozialdemokrat, arbeitete im Sommer als Stauer im Hafen von Bureå und im Winter als Holzfäller. Seine Mutter war Dorflehrerin, dazu „erweckt“ und sehr fromm. Skellefteå ist heute auch die Stadt von Northvolt, eines schwedischen Herstellers von Lithium-Ionen-Akkumulatoren für die Elektromobilität und für stationäre Energiespeicher, und damit Stätte einer ganz neuen europäischen Utopie.

Eine halbe Stunde fährt der Bus durch Wald. Einzelne Holzhäuser schimmern zwischen den Baumstämmen hindurch. Es folgt eine abgeholzte Fläche, Baumstümpfe ragen aus der Erde. Der Frühling ist noch nicht bis hierher vorgedrungen, an den Zweigen der Birken erahnt man nur mit gutem Willen einen grünen Hauch. Nach einer Viertelstunde taucht zwischen den Stämmen ein Kieswerk auf. Langsam baut sich Industrie vor uns auf – BAUHAUS, Scania, Volkswagen, McDonald‘s. Dann passieren wir die erste Kreuzung, einen Kreisverkehr. Eine Person auf einem E-Scooter schwebt auf einem Fahrradweg vorbei. Als der Bus auf die Brücke über den Fluss Skellefteälven fährt, ragt plötzlich über den Dächern auf der anderen Flussseite das neue Wahrzeichen der Stadt in den noch winterlich blauen Himmel. Das zwanzig Stockwerke hohe Wood Hotel. Eines der weltweit höchsten Hochhäuser aus nachwachsenden Rohstoffen, das ausgerechnet hier, in einer Kleinstadt im dünn besiedelten Norden Schwedens, entstanden ist, ein Wolkenkratzer fast ganz aus Holz, ein Symbol für die grüne Transformation Europas. Die hier gebaute Gigafabrik für E-Autobatterien des Konzerns Northvolt sollte die EU von China unabhängig machen und den endgültigen Aufbruch Europas in die grüne Zukunft einleiten.

Kurz darauf stehe ich in der Hotellobby, neben mir ragen Kiefernäste aus einem Steinbottich. Im hölzernen Aufzug duftet es wie auf einem Spaziergang in einem Kiefernwald. Mein Zimmer liegt im 15. Stock. Die Wände bestehen aus heller Birke, neben dem Bett steht anstelle eines Nachtschränkchens ein glattgebeizter Baumstumpf. Und auch hier erfüllt ein nur erahnbarer, aber den Raum öffnender Geruch nach einem Stapel gerade gefällter Baumstämme die Luft. Durch die verglaste Wand blicke ich über die östliche Hälfte der Stadt bis zu ihrem Rand, wo der Wald beginnt, ich blicke über den Fluss, unter mir liegen das Zentrum und ein Lidl.

Zeichnet sich die Provinz durch eine besonders hohe Dichte an Burgerimbissen und asiatischen Restaurants in der Fußgängerzone aus? Kann man das vielleicht über ganz Europa so sagen? Ich esse im Restaurant „Bastard Burger" zu Abend, in der Hauptgeschäftsstraße etwa hundert Meter vom Hotel entfernt. Die Bestellung gibt man auf einem Touchpad-Screen ein. Vor dem Fenster draußen ist die Fußgängerzone leer, die Geschäfte sind bereits geschlossen. Auf dem Rückweg surrt in einer Straße ein Tesla an mir vorbei.

In der ersten Nacht fällt es mir schwer, einzuschlafen. Noch bis Mitternacht zieht sich über den Himmel vor meinem Fenster eine türkise Helligkeit. Gegen drei Uhr nachts bin ich wieder wach. Im ersten Moment halte ich das Licht, das durch die Gardinen auf den Boden fällt, für einen Scheinwerfer, den Fensterputzende dort draußen auf ihrem Aufzug aufgestellt und auf mein Zimmer gerichtet haben. Ich ziehe die Vorhänge auseinander und stelle mich an die Glaswand. Die Stadt unter mir ist nächtlich leer, aber seltsam künstlich ausgeleuchtet, die Gebäude scheinen keine Schatten zu werfen. Auf der Hauptdurchfahrtsstraße von Süden nach Norden fährt ein Sattelschlepper mit Baumstämmen vorbei. Kurz darauf ein gelber Doppel-LKW von DHL, sonst kein Auto, kein Mensch geht unter mir auf den Straßen, alles schläft.

Müsste nicht jede Utopie eine globale sein? Die Arbeits- und Lebensbedingungen für alle Menschen weltweit neu und besser denken, aber anders als die gescheiterte kommunistische Utopie des 20. Jahrhunderts oder der westlichen Linken, die sich heute nur noch in Identitätskämpfen verliert und die Klasse der Arbeitenden vielleicht etwas aus den Augen verloren hat? Und haben wir es nicht heute auf der Welt in Wahrheit mit zwei konkurrierenden Utopien zu tun? Die eine umfasst die totale Isolation der Kulturen und einer nationalen Arbeiterklasse, was auch immer die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Arbeiterklasse‘ heute bedeuten mögen, aber jedenfalls eine Abgrenzung der Länder und Imperien. Und auf der anderen Seite die vollständige Durchmischung der Arbeiterklassen und Kulturen, eine Welt ganz ohne Grenzen, die vollständige Fluidität von Menschen und Produktion.

Ich frühstücke Sauermilch mit gelben Beeren, die Hjortron heißen, auf Deutsch Moltebeere, Torfbeere, Sumpfbrombeere. Am Nebentisch sitzen ein Mann und eine Frau in Anzügen, die sich auf Finnisch unterhalten. Von einem anderen Tisch belausche ich ein Gespräch auf Deutsch. Zwei Männer sprechen über einen Geschäftsauftrag für ihr Unternehmen, über die Herstellung von Karosserien, und dass irgendein anderes Unternehmen viel mehr verlange. Wir sind viel billiger, sagt einer der Männer. Sie sind hier offenbar zu Verhandlungen angereist. Der Frühstücksraum brummt von Gesprächen, fast alle Tische sind besetzt, zum Teil auch von Familien mit Kindern. An einem Tisch höre ich beim Verlassen des Frühstücksraums eine Sprache, die ich für eine der indischen Sprachen halte.

An meinem ersten Tag suche ich das Stadtmuseum von Skellefteå auf. Ich lerne, dass in der Region drei samische Sprachen existieren. Das Wort árnnie, das eine traditionelle Feuerstelle in einer Hütte bezeichnet, einen geheiligten Bereich, ist ein Wort aus dem Umesamischen. Das südsamische Wort lautet aernie und das nordsamische árran. Ich lerne außerdem über die Kolonisierung Nordskandinaviens aus dem Süden, die Tätigkeiten der christlichen Missionare. Dann über die Erschließung der Goldminen und den Holzbau. Auf einem Schwarzweißfoto ist die Belegschaft eines Sägewerks von Skellefteå zu sehen, schmutzige, ausgemergelte Gesichter, in der untersten Reihe auch Jungen, nicht älter als zwölf. Dann der Einzug des Telekommunikationswesens, die ersten bürgerlichen Villen. Ein Streik der Angestellten einer Sägerei im Jahr 1932. Der soziale Wohnungsbau der 1940er-Jahre unter den Sozialdemokraten. Das Farbfoto einer Familie vor einem VW-Bus aus den 1960er-Jahren: Vater, Mutter und zwei Kinder an einem Campingtisch an einem See. Die Entstehung des IT-Unternehmens Norrdata, mit einem ersten Computer im Keller des Firmensitzes, der den ganzen Raum ausfüllt, die Gründung des Skellefteå Campus mit einer Institutsabteilung der Technischen Universität von Umeå. Die Ausstellung endet mit einem kurzen Film, in dem die geplanten Fabrikhallen von Northvolt als Animation visualisiert werden. Die begrünten Dächer bilden eine Wellenform, die sich auf natürliche Weise mit dem umliegenden Wald verbindet und wie eine aus der Ostsee an Land steigende Welle vor dem großen Industriehafen in Skelleftehamm aussieht. Roboterarme bewegen sich in einer Halle durch die Luft, bedient von Menschen in weißen Kitteln, die vor Displays stehen und sich angeregt miteinander unterhalten.

Als ich vor drei Jahren aus Stockholm zurückkam, habe ich diese Stadt nicht wiedererkannt, sagt Challa. In den 1990er-Jahren, als ich in Skellefteå aufs Gymnasium ging, wollte ich nur weg. Hier bei einem Bier in angenehmer Atmosphäre zu sitzen, so wie wir das gerade tun, das wäre damals nicht möglich gewesen, es gab keine schönen Bars, nur Arbeiterkneipen, in die ich nicht gerne ging.
Ich treffe Challa am Mittwochnachmittag, wir sitzen im Restaurant „Paolo“ des Wood Hotel. Challa leitet seit drei Jahren das Västerbotten-Theater im nach der Dichterin Sara Lidman benannten Kulturhaus, das sich im Hochhaus des Wood Hotels befindet. Auch Lidman stammte aus der Region und hat Romane unter anderem über die Arbeiterbewegung Nordschwedens geschrieben. Das Kulturhaus umfasst neben dem Theater Musiksäle, die immer gut gefüllte Stadtbibliothek im Erdgeschoss, drei Restaurants und einen Spa auf dem Dach des Gebäudes. Es wird, das habe ich inzwischen festgestellt, von vielen Menschen genutzt, die sich auf den Sitzflächen der großen Holztreppe ausruhen, Konzerte und Theatervorführungen besuchen oder einfach in einer der Sofaecken der Bibliothek sitzen und Zeitung lesen.
Challa zog nach der Schule nach Umeå, die etwa hundert Kilometer südlich von Skellefteå gelegene Universitätsstadt, dann weiter nach Stockholm, wo sie zuletzt ein Tanztheater leitete.
Und nun leite ich dieses Theater, das sich heute mit anderen großen Theatern messen kann, sagt sie. Und die Stadt ist voll von kleinen Geschäften, auf den Straßen und hier im Haus werden verschiedene Sprachen gesprochen, man merkt, dass sich in den letzten Jahren etwas verändert hat. Es ist so schade, wie es sich nun entwickelt.

Am nächsten Morgen fahre ich mit dem Mietauto, das ich in einem Industriegebiet am Stadtrand abgeholt habe, kilometerlang an den verwaisten Hallen des Konzerns Northvolt entlang. Riesige Flächen mitten im Wald sind planiert und mit Schotter ausgelegt. Eigentlich sollten sie asphaltiert und zu Parkplätzen ausgebaut werden, aber die Zufahrten enden im Nirgendwo. Rund zweitausend Menschen, darunter ausländische Facharbeiterinnen und -arbeiter aus Pakistan, Indien, Venezuela, Senegal sowie Angestellte aus den EU-Ländern, etwa aus Polen, wo in der Nähe von Gdańsk ein weiteres Northvolt-Werk entstehen sollte, wurde von einem Tag auf den anderen die Kündigung ausgehändigt.
Eine Familie aus Venezuela zum Beispiel, erzählt Lena, eine Mitarbeiterin der Industriegewerkschaft IF Metall für Nordschweden in ihrem Büro neben dem Eishockey-Stadion am Stadtrand, ein Fall, der mir besonders das Herz gebrochen hat, hatte zu Hause alles verkauft, um sich hier eine Wohnung leisten zu können. Sie haben die Kinder in der Schule ab- und hier bereits wieder neu angemeldet. Sie kamen zu viert an einem Freitag im März an, in ihrem neuen Leben, für das sie zu Hause alles aufgegeben hatten. Am Montagmorgen fand in der Fabrik eine Willkommensparty für die neu eingetroffenen Angestellten statt. Noch während der Feier betrat eine Person aus der Finanzabteilung den Raum und händigte ihnen die Kündigungen aus.
Es ist fast unglaubwürdig, sagt Lena. Niemand konnte verstehen, warum Northvolt so lange noch immer mehr neue Fachkräfte einstellte. Vielleicht glaubte man bis zuletzt daran, dass es nur ein paar Anfangsschwierigkeiten zu überwinden gäbe. Some little humps in the road, sagt Lena und wirkt für einen Moment selbst überrascht.

Seit die rechte Partei der Schwedendemokraten einen Einfluss auf die konservative Minderheitenregierung des Landes ausübt, ist in Schweden ein neues Aufenthaltsgesetz in Kraft getreten. Menschen aus dem Nicht-EU-Ausland müssen innerhalb von drei Monaten einen Arbeitsvertrag nachweisen können, um im Land bleiben zu dürfen. Das Monatsgehalt muss dabei mindestens 28.000 Schwedische Kronen, umgerechnet also ungefähr 2.500 Euro brutto betragen, was bedeutet, dass es nicht ausreicht, in einem Hilfsjob zu arbeiten. Die Angestellten von Northvolt aus den Nicht-EU-Ländern, die nach ihrer Kündigung bei der Gewerkschaft um Hilfe angefragt haben, sind hervorragend ausgebildet, haben aber nur wenig Zeit, eine neue Stelle zu finden, und die meisten von ihnen sprechen noch kein Schwedisch. Viele von ihnen sind mit ihren Familien nach Schweden gezogen. Für ihr Erspartes haben sie in Skellefteå Wohnungen gekauft, die nach dem Bankrott des Konzerns nur noch die Hälfte wert sind. Die aufgenommenen Kredite müssen aber weiter abbezahlt werden.

Hassan arbeitet noch bis zum Ende des Monats bei Northvolt, denn eine einzige Produktionslinie, ein Auftrag für Scania, läuft noch. Ich treffe ihn auf einer After-Work-Party für neu nach Skellefteå Gezogene im großen Musiksaal des Sara Kulturhus.
Ich hoffe, bald einen neuen Job zu finden, sagt er in perfektem Englisch. Er trinkt ein Glas Wasser mit Kohlensäure und Zitrone.
Und wo suchst du?, frage ich ihn. Überall auf der Welt?
Ich konzentriere mich vorerst auf Schweden, sagt Hassan.
Sei man als Facharbeiter für die E-Auto-Batterieproduktion nicht sehr spezialisiert? Könne er auch an ganz anderen Maschinen arbeiten?
Er könne ohne Probleme ziemlich schnell auch an völlig anderen Maschinen arbeiten, man lerne das schnell, sagt er.
Ich frage ihn, ob er Kinder und Familie habe, und er verneint, was ich als möglichen Vorteil ins Spiel bringe. Man müsse nicht eine ganze Familie ernähren, habe vorerst nur an sich selbst zu denken, könne, wenn nötig, schnell umziehen.
Ja, sagt Hassan und nickt, es ist einerseits ein Vorteil. Andererseits helfe einem niemand, fange einen emotional auf. Man sei ja ganz allein.
Ich frage ihn, ob man wenigstens mit den anderen Angestellten über seine Sorgen rede, unterstütze man sich gegenseitig?
Natürlich, sagt Hassan. Wir reden seit Wochen darüber. Er schaut mich etwas verwundert an, als käme ich von einem anderen Planeten, ein Schriftsteller, der das Leben nur aus der Beobachtung kennt. Wir sprechen seit Wochen über nichts anderes, sagt er.

Es scheint fast, als sei die Entstehung der Gigafabrik von Northvolt ein moderner Turmbau zu Babel gewesen.
So erzählt es mir kurz darauf auch Petra, die jetzt ebenfalls auf Arbeitssuche ist, als Schwedin aber immerhin etwas besser abgesichert ist als die ausländischen Fachkräfte. All diese tausenden Menschen, die aus der ganzen Welt hierhergekommen sind, gut ausgebildet, intelligent, aber aus all diesen verschiedenen Erfahrungszusammenhängen, sagt sie. Es habe viele Konflikte gegeben. Zum Beispiel seien schwedische Arbeiterinnen und Arbeiter flache Hierarchien gewöhnt, Vorgesetzte aus dem Ausland hätten aber manchmal andere Vorstellungen von Teamarbeit gehabt. Außerdem sei die Arbeitssprache in der Fabrik Englisch gewesen, was aber nicht alle gleich gut gesprochen hätten.
Einige Maschinen hatte Northvolt außerdem in China gekauft. Wenn etwas kaputt war, sagt Petra und zieht ein Handy aus ihrer Jeans, hält mir das Display entgegen, mussten wir uns mit den Sachverständigen manchmal per Google Translate verständigen. Ständig habe es Missverständnisse gegeben, die Arbeit habe gestockt, Produktionslinien mussten angehalten werden.

Dass bei der großen utopischen Vision Northvolts, die ja auch von weiteren europäischen Firmen wie BMW, Volkswagen oder Scania unterstützt wurde, zu global, zu riesig geplant worden sei, lässt sich vielleicht nicht ganz von der Hand weisen.
Das stimmt, sagt Lena, die Gewerkschafterin. Andererseits konnte man, wie die Verantwortlichen immer wieder zu erklären versuchten, auch nicht kleiner und langsamer planen. Die Vision musste groß sein. Die Konkurrenzsituation auf dem Weltmarkt mit Chinas wirtschaftlicher Übermacht habe eine von Anfang an massenhafte Produktion, einen Zusammenschluss verschiedener europäischer Firmen, die Einstellung einer großen Anzahl von Fachkräften notwendig gemacht, um die Stückpreise niedrig zu halten.

Moose, Flechten, Beeren – Findlinge aus der letzten Eiszeit, Spuren des Gletschers in der Landschaft. Dazu die niedrigen Kiefern, undurchdringlicher Bodenbewuchs, umgefallene Bäume in verschiedenen Stadien ihres Zerfalls, kilometerweit in alle Richtungen. In einem Waldstück steige ich aus dem Auto. Unter meinen Sohlen knirschen die Zapfen. Im Gebüsch sehe ich zwei Eichelhäher auffliegen.
Hier saß P. O. immer und las Zeitung, erzählt mir Magdalena kurz darauf. Bis auf die Bibel das Einzige, das er als Kind im Haus fand. Oder er schaute über das Tal und den See und über Hjoggböle.
Sie hat die Tür eines verfallenen Holzschuppens geöffnet, dahinter liegt ein winziger Raum mit einem Plumpsklo auf einem Brett. Sie führt mich zurück zum „Grünen Haus“, wie Enquist das Haus seiner Kindheit im Buch „Ein anderes Leben“ nennt. Das Haus ist heute von Pilz befallen, eine Seite scheint leicht abgesunken zu sein.
An dem Giebel dort oben – Magdalena zeigt zu einem Fenster im ersten Stock hinauf – befand sich die berühmte „Himmelsharfe“. Dort lag das Kind im Schlafzimmer und horchte auf die neu gelegten Telefondrähte, die gegen das Dach und die Giebelwand streiften, und stellte sich vor, wie es mit dem verstorbenen Vater im Himmel sprach.
Wir stehen auf einem Hügel, direkt vor dem grün gestrichenen Holzhaus, neben dem sich die heutigen Besitzer ein neues Wohnhaus gebaut haben. Sie wollen das „Grüne Haus“ nicht abreißen, sagt Magdalena, die mir auch das kleine Museum im gelben Bethaus direkt nebenan aufschließt, wo einst die Versammlungen der Frommen, zu denen P. O.s Mutter gehörte, stattfanden, und das heute als Treffpunkt für die sonntägliche Fika, die schwedische Variante von Kaffee und Kuchen, genutzt wird. Magdalena arbeitet in einer Kirche in Skellefteå, sie ist vor Kurzem mit den Kindern und ihrem Mann, der Pastor ist, in das Haus ihrer Eltern zurückgezogen, gleich unten am See.
Es ist ein seltsames Gefühl, festzustellen, dass etwas, das man aus Büchern kennt, an einem konkreten Ort wirklich existiert. In den Raum im Bethaus, in dem wir sitzen, fällt grünliches und rosa Licht. Durch die Fenster aus gelbem und rosa Glas schimmert der Wald, und auf der anderen Seite eine Wiese mit einer Birke. Es ist still. Ich versuche mir vorzustellen, wie all diese Figuren aus den Romanen sich hier versammelt haben. Verarmte Holzarbeiter, Bäuerinnen und Bauern, die starr an ihrem Erweckungsglauben festhielten, wie Enquists alleinerziehende Mutter, die dem Kind einbläute, nicht „in den Tanz und den Alkohol zu geraten“, in die Sünde, was den späteren Schriftsteller für immer prägte, der dann leider doch in den Alkohol geriet, oder vielleicht gerade deshalb.

Am Ende unseres Gesprächs fragte ich die Gewerkschafterin Lena, ob sie glaube, dass das gesamte Projekt Northvolt umsonst gewesen sei. Sie dachte kurz nach und sagte: Nein, es haben sich hier in Skellefteå dadurch ja trotzdem Dinge verändert, die Menschen sind optimistischer geworden, das Kulturhaus entstand. Es gab außerdem schon vor Northvolt zukunftsweisende Entwicklungen. Und wer weiß, vielleicht findet sich doch noch ein Käufer für die Fabrik, der die Produktion in kleinerem Umfang neu aufnimmt.

„Die Utopie gab es jedenfalls nicht in den großen revolutionären Ideologien“, schreibt Enquist in seinem Essay. „Vielleicht war es so, dass man die Utopie, wenn sie existierte, erblicken konnte, wenn man da suchte, wo man sie nicht zu finden erwartete.“ Ich muss, während ich zum Flughafen aufbreche, an meine Eltern denken, an ihre Freunde aus Opole in den 1980er-Jahren, als in Polen zunächst die Menschen der Solidarność-Bewegung die Danziger Werft besetzten, und dann, nach einem Jahr „Karneval der Freiheit“ in den polnischen Städten, von den erschrockenen Kommunisten das Kriegsrecht ausgerufen wurde, sodass es fast noch zehn Jahre dauerte, bis die Partei gestürzt war.