Aris Fioretos Das Hauptquartier der Sehnsucht

Das Hauptquartier der Sehnsucht – Aris Fioretos – The New Cartographers
Illustration: © Ricardo Roa

Was bleibt von Europa, wenn wir es nicht nach Grenzen, sondern nach Sehnsüchten vermessen? Aris Fioretos erkundet in seinem Essay die utopischen Rückzugsorte zweier Sonderlinge – zwischen Schloss Neuschwanstein und der Villa Natur, zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Ein Text über Zugehörigkeit, Isolation und die Frage, wie Architektur zum Hauptquartier der Sehnsucht wird.

Um zwanzig nach zehn am Abend des 6. April 2002 war am süddeutschen Himmel eine Lichtspur zu sehen. Sekunden später folgte eine Explosion, lodernde Splitter fielen zur Erde. Der Meteor, der soeben in einem Winkel von neunundvierzig Grad in die Erdatmosphäre eingetreten war, erwies sich als der erste in der Geschichte des Landes – und der vierte weltweit –, der irl beobachtet wurde.
Zeichnung des Meteoriten Neuschwanstein, 2002

Zeichnung des Meteoriten Neuschwanstein, 2002 | R. und N. Schmidts

Das European Fireball Network berechnet, dass der kosmische Stein ursprünglich etwa dreihundert Kilogramm wog und mit einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometern pro Sekunde unterwegs war. Bei seinem Eintritt in die Atmosphäre verlor er auf Grund der Luftreibung rasch an Tempo. Später bezeugten Einwohner von Garmisch-Partenkirchen im Osten bis zum Allgäu im Westen »eine bombenartige Explosion«, »rollendes Donnern« und »klirrende Fenster«. Die vermutete Bahn der Trümmer wurde von Stationen unter anderem in Augsburg, Přimda in Tschechien und im österreichischen Weyregg am Attersee verfolgt. Dadurch konnte das Niedergangsgebiet präzise trianguliert werden. In den folgenden Monaten zeichneten Amateurastronomen drei Kreuze in ihre Karten ein. Die Splitter gleicher Zahl, die gefunden wurden, wogen insgesamt 6,215 Kilogramm.
Der Meteorit, der sechs Sekunden lang am Himmelsgewölbe zu sehen war, wurde nach dem Schloss im Niedergangsgebiet benannt, zu dem ich an einem eiskalten Morgen im April unterwegs bin.
Neuschwanstein.

Als die Splitter vor zweiundzwanzig Jahren zur Erde fielen, hatte ich gerade begonnen, Material für ein Buch zu sammeln, das niemals vollendet werden sollte. Bericht vom Mars lautete der Arbeitstitel. Texte variierender Art (Prosagedichte, Lexikoneinträge, exzerpiert aus erfundenen Nachschlagewerken, soziopathologische Fallstudien, Abenteuer) sollten ein prismatisches Porträt der Kindheit eines Jungen in dem nordischen Wohlfahrtstaat zeichnen, in den seine Eltern – ein Mediziner und eine Textilkünstlerin – in den fünfziger Jahren aus Süd- beziehungsweise Mitteleuropa eingewandert waren. Eines der Ziele, nicht das unwichtigste, war es zu zeigen, wie Menschen mit gemischter Herkunft die Kunst erlernen, sich in einem fremden Land notwendig zu machen. Oder mit Per Olov Enquists Worten in dem Essay über sein Romanprojekt, das Schiffbruch erlitt: Für die Eltern des Kindes ging es dabei um eine »Einübung ins Schwedischsein«, für ihren Jungen eher um »das Problem der Zugehörigkeit«.
Im Laufe der Arbeit durchlief das Material jedoch Veränderungen. Eine der Erzählungen, maskiert als Lexikonartikel, handelte von einem jungen Griechen, der eines Morgens im März 1966 im Wartezimmer des Krankenhauses in der nahegelegenen Regimentsstadt sitzt, wo der Vater des Jungen seit ein paar Jahren als Chirurg arbeitet. Je mehr ich über diesen arbeitslosen Athleten schrieb, der aus einer früheren Epoche der menschlichen Geschichte zu stammen schien, desto mehr befreite er sich. Sieben Jahre später wurde Jannis Georgiades, wie er letztlich heißen sollte, zur Hauptperson in einem eigenen Roman. Das übrige Material, disparat und unausgereift, wurde weggewischt.
Einer der unfertigen Texte hieß »Die Villa Natur«. Im Fokus stand ein Sonderling auf dem Land nahe Kristianstad, in der Gegend, wo meine Familie einige Jahre gewohnt hatte. Das reale Vorbild für »Mög-Janne«, wie er getauft wurde, war verstorben, als ich das erste Mal von ihm hörte. Besser bekannt als Möga-Jeppa Olsson wurde er 1877 in Degeberga im nordöstlichen Schonen geboren, blieb sein Leben lang ein bibeltreuer Junggeselle sowie Royalist und starb 1960 in Lund. Den Grund für seinen Ruhm gab es jedoch noch, als ich acht Jahre später in unserem Nachbardorf Österslöv in die zweite Klasse kam.
Jeppa Olsson vor der Villa Natur, Postkarte, 1949

Jeppa Olsson vor der Villa Natur, Postkarte, 1949 | Foto: Sven-Gösta Johansson

Einige hundert Meter entfernt, zwischen den Erlen und Birken am Råbelövssee, erhob sich eine eigensinnige Schöpfung, die schnell so bekannt wurde, dass Jeppa anfing, von neugierigen Besuchern Eintritt zu verlangen – anfangs fünfundzwanzig Öre, später das doppelte. Laut dem, was auf dem Schulhof erzählt wurde, hatte er davon geträumt, ein Ferienhaus für die Kinder und Jugendlichen der Umgebung zu errichten – eine Monumentalhütte mit Spielzimmern aus Masonit, Aussichtsturm und Veranden. Da die Kommune einen Bauplan verlangte, um eine Baugenehmigung zu erteilen, sah er sich jedoch gezwungen umzudenken. Schon bald wuchs der Bau einer Logik folgend, die ebenso sehr von der Umgebung wie vom vorhandenen Material geprägt wurde. »Seine Lebensphilosophie«, teilte Åke Hjelm, ausgesandter Reporter der illustrierten Zeitung Se mit, »läuft darauf hinaus, dass wir uns der Natur und ihren verborgenen, heimlichen Kräften nähern sowie vermeiden sollen, so viel Aufhebens von unseren Handlungen zu machen, denn was bedeutet das, was ein Mensch vollbracht hat?« Mit der Zeit erhoben sich zwei Hausblöcke gen Himmel, geformt aus Restbeständen von Holzhandlungen, Ästen, hunderten Metern Dachpappe, alten Fensterrahmen und Beschlägen, Maschendraht und Weiteres mehr. Zum Teil errichtet mit Bäumen als tragende Teile, waren die Gebäude durch einen schmalen, Seufzerbrücke genannten Steg miteinander verbunden. Das Brückengeländer bestand aus betongefüllten Neonröhren; in kalten Wintern war das Glas gefroren und gesprungen, übrig war allein der Beton, als sich kühne Schuljungen auf ihn wagten.
Jeppa, der dreißig Jahre zuvor die ersten Spatenstiche ausgeführt hatte, im Sommer 1938, wurde von der Furcht vor einem nahenden Krieg angetrieben. Er arbeitete als Hausknecht beim Truppenarzt in Kristianstad, Andreas Bruzelius, auf dessen Dachboden er wohnte. Er hatte Asthma und litt wahrscheinlich an Diabetes. Bruzelius, der noch den Hof der Familie in Österslöv besaß, wusste, dass Landwirt Svensson auf dem Nachbarhof ein Seegrundstück besaß, das nicht genutzt wurde, weil die Vegetation zu üppig und die Erde sumpfig war. Bei einem Besuch wurde vereinbart, dass Jeppa es für dreißig Kronen im Jahr pachten durfte. Danach fuhr er so gut wie jeden Tag mit dem Zug dorthin. Er fällte Bäume und legte trocken, anfangs assistiert von Bruzelius’ Sohn und einem von dessen Kameraden. Im Herbst war ein rudimentärer Wohnsitz fertiggestellt. Jetzt eilte es. Ehe der Krieg Schonen erreichte, musste für die gütigsten Seelen auf Erden ein Schutzraum gebaut werden – die Schwestern, die sich im Krankenhaus von Kristianstad um ihn gekümmert hatten. Jeppa war überzeugt, dass mit den Deutschen der Untergang der Welt nahte.
Als 1940 die neue Schule von Österslöv fertiggestellt war, expandierten die Pläne. Er erhielt das übriggebliebene Bauholz und wurde gesehen, als er es den ganzen Sommer über zum See hinunter trug. Mittlerweile gab es in der ersten Wohnung nicht nur eine Küche mit einem Petroleumherd, sondern auch Kammern und einen Abort. Im Unterschied zu dem schmalen Bett, das Jeppa umsetzte, während Zimmer und Stockwerke entstanden, wurden die Möbel, die ihm die Bewohner der Umgebung schenkten, häufig aufgestellt, bevor neue Zwischenwände an Ort und Stelle waren, was es schwierig machte, später umzumöblieren. Gesellschaft leisteten ihm seine Bibel und die Filmstars an den Wänden. Er umgab sich mit praktischen Dingen wie Axt, Kautabak und Schnaps – sowie mit allem möglichen Gerümpel, das darauf wartete, eine neue Bestimmung zu finden. Nahrungsaufnahme genoss keine Priorität: Eier, Heringe und drei bis vier Tage altes Brot reichten ihm. In der Küche hingen weise Sprüche (unter anderem Bedenke die Kürze des Lebens, die Gewissheit des Todes, die Länge der Sehnsucht!) sowie eine gerahmte Lithografie von Oscar II. Der Abort lag in der zweiten Etage, aber ein ausgeklügeltes Abflusssystem machte es möglich, seine Notdurft auch auf unteren Ebenen zu verrichten. Wichtig war nur, dass sämtliche Luken geöffnet waren, so dass auch dann freier Fall herrschte, wenn er sich ganz oben zurückzog.
Die Treppe, die ein paar Jahre später in das zweite Gebäude führte, dessen höchster Punkt fünfzehn Meter über der Erde lag und von einem Aussichtsplatz mit Zügen eines Pferchs oder einer Skirampe gekrönt wurde, diese Treppe schlängelte sich durch das Gebäude, vorbei an etwa zwanzig kleineren Zimmern, verteilt auf wechselnde Stockwerke, ehe sie zu dem Absatz zurückkehrte, wo der Besucher seine ersten Schritte gemacht hatte. Die Zimmer waren sowohl mit Namen als auch mit geliehener Geschichte versehen. Neben Räumlichkeiten für Gäste gab es unter anderem den »Blauen Salon« und das »grüne Gemach«, das mit Reproduktionen von berühmten Kunstwerken (Könige, Landschaften, der Leichenzug von Karl XII.) geschmückt war. »Das Turmzimmer« direkt unter dem Verschlag auf dem Dach bot eine Aussicht auf Balsberget auf der anderen Seite des Sees, während »Das Liebesnest« mit Zeitungsausschnitten und Plakaten von den Stars der damaligen Zeit tapeziert war – Vivien Leigh und Clark Gable, Greta Garbo, Edvard Persson … Ganz unten lag ein Becken (oder manchen Reportern zufolge ein »Schlammbad«; der Status war ein wenig unklar), dessen Wasser aus dem See hochgepumpt und dadurch erwärmt wurde, dass die Sonne auf die mit Dachpappe verkleideten Wände schien. Im Herbst 1968 war der Zement rissig, rostige Rohre standen heraus. Von den Schildern, die mit Ermahnungen an die Bäume genagelt waren, deren verdrehte Buchstaben es schwierig machten, die Botschaft zu deuten – keine Spur.
Jeppa Olsson in seinem Nachen, 1949

Jeppa Olsson in seinem Nachen, 1949 | Foto: Sven-Gösta Johansson

Das eingezäunte Grundstück war mit einem breiten Gattertor versehen worden, neben dem Jeppa auf einem der Fotos posiert, die in Se auftauchten und seither in unterschiedlichen Zusammenhängen wiederverwendet wurden. Als wir auf dem Gelände spielten, lag es im Unterholz, es war morsch, aber es ließ sich durchaus darauf springen, so dass Wasser auf andere Kinder spritzte. Früher hatte ein Kanal in das dazugehörige Bootshaus geführt, das außer einem Fischkasten, der Jeppa mit Seeaalen versorgte, auch einen Waschraum enthielt, der den Namen »Schrubbe mir den Rücken« erhielt. Die in eine Badewanne umgewandelte Schlafbank, die wie das Becken mit Dachpappe ausgekleidet worden war, fanden wir nie. Dort soll auch eine Tonne gestanden haben, in die Jeppa einen Holzpropeller montiert hatte, der mit der Kette und den Pedalen eines Fahrrads verbunden war – die perfekte Waschmaschine für ein Heim ohne Elektrizität. Im Schilf lag allerdings noch der Nachen, in dem er auf einem anderen Foto sitzt. Das Dach, das er für dieses Boot gebaut hatte, war eingestürzt.
Als wir in der Villa Natur spielten, war der Bauherr seit acht Jahren tot und seit weitaus mehr ausgeflogen. Mitte der fünfziger Jahre – zur gleichen Zeit, als ein unverheiratetes, noch kinderloses ausländisches Paar in Lund seine »Einübung ins Schwedischsein« begann – wurde er in ein Altenheim in Kristianstad eingeliefert, später jedoch nach Sankt Lars verlegt, in jene Nervenheilanstalt, die ursprünglich den Namen Lunds Asyl trug. Es ist schwer zu glauben, dass sich die Schöpfung, die er am Råbelövssee verlassen hatte, ihm aber knapp zwei Jahrzehnten lang eine andere Art Freistatt geboten hatte, hätte vollenden lassen, selbst wenn Jeppa hundert Jahre alt geworden wäre. Das Unabschließbare war ihre Grundbedingung.

Wenn ich die Bilder studiere – die meisten, die man in den Archiven findet, wurden im Frühjahr 1949 von dem Se-Fotografen Sven-Gösta Johansson gemacht, ein Jahrzehnt nach dem Beginn von Jeppas fortlaufender Schöpfung und zweieinhalb, bevor die Behörden den Bau abreißen ließen –, erscheint die Villa Natur wie eine Kreuzung aus Sommerhaus und Strandgut. Bekleidet mit dunklem Anzug und hellem Filzhut, rasiert aber hager, gleicht er einem Statisten im eigenen Leben. (Hjelm: Der Bauherr »ist ein seltsamer Kauz, gar nicht die Wachsfigur, die seine Maske einen glauben lässt. Er handelt in allem nach seinem eigenen Kopf.«) Die Atmosphäre der Bilder deutet sowohl Unternehmungsgeist als auch Schwermut an – so als wäre er ein entfernter Verwandter des Briefträgers Cheval in Auvergne-Rhône-Alpes. Zusammengestaucht von der Existenz, aber resolut, führt er durch seine schonische Version eines palais idéal.
Auf einem Foto schreitet Jeppa mit buschigem Schnurrbart und den Händen auf dem Rücken, einem Gutsherrn gleich dahin; im Vordergrund liegen einige Bretterenden auf dem Karren, mit dem er in der Gegend umherzog, ständig auf der Suche nach neuem Material. Auf einem anderen sitzt er in seinem Schlafzimmer auf dem Bett. Er trägt Mantel und Hut, die Hände ruhen fromm im Schoß. Wie immer sind seine Gesichtszüge ausdruckslos. Im Gegenlicht von den Fenstern dahinter zeichnet sich eine Statuette ab. Ein Hengst ohne Reiter wendet Jeppa das Maul zu, so als beaufsichtigte er einen abgesetzten König. Ein Schild oder vielleicht auch Poster am Rand des Bilds verkündet: Das ganze Jahr DUX Radio.
Auf dem Weg zu Schloss Neuschwanstein, 2025

Auf dem Weg zu Schloss Neuschwanstein, 2025 | Foto: privat

Mit seinen grandiosen Proportionen und sündhaft teuren Materialien könnte Neuschwanstein gedanklich nicht weiter entfernt liegen. Ich spaziere auf einem Kiesweg durch den kahlen Wald zu den hohen Mauern hinauf, die sich wie eine in unerschütterliche Schönheit verwandelte Verlängerung der Klippe erheben, auf der das Schloss in den Ruinen einer mittelalterlichen Burg errichtet wurde. Jeder Schritt näher fühlt sich an wie eine Tagesreise fort von der Villa Natur. Mit seiner distanzierten Souveränität stammt der historistische Traumpalast Ludwig II. aus einer Sphäre, die Jeppas Schöpfung ebenso fern ist wie ein Planet einem anderen.
Die Unterschiede ließen sich leicht vervielfältigen. Nehmen wir nur die Topographie. In Bayern befinde ich mich knapp eintausend Meter über dem Meeresspiegel. In der Kindheit stolperten ich und die anderen Kinder dagegen durch den Morast am Råbelövssee. Hier und jetzt bildet das Schloss mitsamt Ritterhaus, Kapelle und anderen Gebäuden ein erhabenes Ensemble, das absolutistische Unzugänglichkeit ausstrahlt. Da und dort luden die verfallenen Bruchbuden zu Spielen auf einer Ebene mit dem Sickerwasser ein. Neuschwanstein erhebt symbolische Ansprüche darauf, einer Sphäre zwischen Menschen und Göttern anzugehören, die Villa Natur machte gemeinsame Sache mit ihrer alles andere als hochstehenden Umgebung.
Schloss Neuschwanstein, 2025

Schloss Neuschwanstein, 2025 | Foto: privat

Und das sind nur einige äußere Unterschiede. Zwar benötigte sowohl der bayerische König als auch der schonische Knecht ein paar Jahrzehnte, um zu errichten, was trotzdem unvollendet blieb. Aber Jeppas Residenz, erbaut aus Gerümpel und Krempel, blieb im Großen und Ganzen das Projekt einer Person, während das Schloss Ludwig II. ab 1869 täglich dreihundert Mann beschäftigte, von denen ein Zehntel während der nicht risikolosen Arbeit verletzt oder umgekommen sein soll. Wagen pendelten hin und her, Handwerker kletterten auf Gerüsten, zwei dampfgetriebene Hebekräne brachten das schwerste Material an Ort und Stelle – der eine hob die Stahlbalken, den Marmor, das edle Holz und alles andere zur Baustelle hinauf, wo Kran Nummer zwei dafür sorgte, dass es auf der richtigen Etage landete. Jeppa kam ohne Maschinen und größtenteils auch ohne Hilfe zurecht – mit Axt und Säge, Hammer und Nagel. Sein Material bestand aus dem, was andere ausgemustert hatten.
Die Gesamtkosten für Neuschwanstein, das von dem Bühnenbildner Christian Jank skizziert und vom früheren Hofarchitekten König Ottos von Griechenland, Eduard Riedel, entworfen worden war, sollen sich auf 6,2 Millionen Goldmark belaufen haben, was nach heutigem Kurs ungefähr hundert Mal so vielen schwedischen Kronen entspricht. Was die Villa Natur kostete, bleibt unbekannt, aber realistische Schätzungen dürften nicht viel höher als ein heutiger Mindestlohn liegen. Das Geld, das Jeppa über die Eintrittsgebühr einnahm, jedoch nicht für sich benötigte, übergab er dem Dorfpfarrer in einem Eimer verbunden mit dem Wunsch, es solle für die Aktivitäten der Sonntagsschule sowie Bücher und Schreibzeug für die Kinder der Gemeinde verwendet werden.

Als ich nach einem halbstündigen Spaziergang den Schlosshof erreiche, warten bereits etwa zwanzig Personen darauf, hereingelassen zu werden. Ich höre amerikanisches Englisch, Deutsch, Italienisch, Japanisch, möglicherweise dialektales Norwegisch und etwas, das Slowenisch sein könnte. Kinder hüpfen auf der Stelle, um sich warm zu halten, Eltern fotografieren mit Handys, ein Mann raucht abseits seiner Begleiter. Es ist Anfang April, Touristen gibt es nur wenige.
Neuschwanstein, Aquarell, 1914

Neuschwanstein, Aquarell, 1914 | Adolf Hitler

Schon sieben Wochen, nachdem Ludwig II. im Juni 1886 unter unklaren Umständen im Starnberger See ertrank, wurde das Schloss für die Allgemeinheit geöffnet. Seither sind zahlreiche Bücher und Filme über seine Kalkstein gewordene Vision von ritterlicher Pracht entstanden. Auf der Schwelle zum ersten Weltkrieg wurde das Ensemble von einem fünfundzwanzigjährigen Österreicher mit noch unbekanntem Größenwahn in gar nicht üblen Wasserfarben abgebildet. Der Massentourismus, der die Pilgerreisen der frühen Fans ablöste, ist jedoch ein Phänomen jüngeren Datums. Seit der Freistaat Bayern 2008 begann, die Zahl der Besucher ziemlich genau zu zählen, haben über sechzig Millionen Neugierige die Sperren passiert. Heute liegt die jährliche Anzahl bei etwa anderthalb Millionen, was zehn Mal mehr ist als die Menschen, die alljährlich Ceaușescus Betonpalast inspizieren (übrigens das schwerste Gebäude der Welt) und ein Drittel so viele, wie über Gaudís Basilika in Barcelona staunen – um zwei andere Beispiele für unfertige, aber massentaugliche Fantasiearchitektur anzuführen.
Aus den Schulden, die Ludwig II. anhäufte, und die das Kabinett in München zur Verzweiflung brachten und neben dem nicht sonderlich ausgeprägten Sinn des Königs für politische Realitäten zu seiner Absetzung beitrugen, ist längst eine blühende Industrie geworden. Das Schloss, aus dem der entmündigte Regent in einer regnerischen Juninacht 1886 fortgebracht wurde, zeigt, dass etwas gelingen kann, indem es misslingt. Oder wie Lorenz Mayr, der Diener, der seinem Herrn bis zuletzt treu blieb, in Syberbergs Verfilmung, auf der Marienbrücke stehend, das Schloss im Rücken, feststellt: »Und haben wir nicht alle von ihm gelebt? Und nicht schlecht? Und wir tun es noch.«
Im Unterschied zu der Mehrzahl megalomaner Bauten zeugt die Traumresidenz mit Aussicht auf den Schwansee nicht von Herrscherlust, penibler Hackordnung oder den feuchten Expansionsträumen eines Fanatikers. Wenn ein Monarch während der absolutistischen Ära sich das Epitheton »Schöngeist« verdient hat, dürfte es der launenhafte Wittelsbacher sein. Krieg und Kasernenleben waren nichts für Ludwig II.  Er wurde streng und lieblos erzogen, lernte Reiten und Fechten, zog es persönlich jedoch vor, dass die Mittel, die von der Armee des Freistaats so dringend benötigt wurden, um ihr Arsenal zu modernisieren, lieber für Operninszenierungen, Sängergilden und prunkvolle Gefährte ausgegeben wurden. Zwei verlorene Kriege später, sowie nach dem Kollaps des Bruders, nachdem der preußische König auf Veranlassung Bismarcks zum ersten Kaiser des Deutschen Reichs gekrönt worden war, zog er sich von Mensch und Tier zurück.
War das der Moment, in dem der hochaufgeschossene Monarch mit weichen Zügen und onduliertem Haar, in figurbetonten Uniformen, dem Beispiel des kleingewachsenen Mannes aus Schonen folgte – er, der in Degeberga noch nicht das Licht der Welt erblickt hatte, aber ein Dreivierteljahrhundert und zwei Weltkriege später in einem schlotterigen Anzug und mit der Hand auf dem Gattertor vor dem Besitztum seiner Träume posiert, dieser für Pflegepersonal und Minderjährige gedachten Zuflucht? Will sagen: Suchte Ludwig als Reaktion auf die Unzulänglichkeiten in dem, was für ihn einem Berufsleben am nächsten kam, Asyl im schonenderen Reich der Kunst – oder wie Wagner in dem letzten Film zum Thema sexuell ambivalente Könige, Ränke und Schönheitsdurst herausplatzt: »Wenn die Kunst die Welt bestimmt, dann wird sie die Politik ersetzen«?

Einer häufig angeführten Beobachtung zufolge antwortet der Kommunismus auf die Ästhetisierung der Politik durch den Faschismus, indem er die Kunst politisiert. Auch wenn Syberbergs Solitär kundtut: »Für mich gibt es kein Privates, kein Eigentum. Was mir gehört, gehört allen«, wurde er wohl kaum von marxistischen Pamphleten inspiriert. Und obgleich es weitere fünfzig Jahren dauern sollte, bis ein neuer Vertrag von Versailles Anlass zu jener Dolchstoßlegende gab, mit der Nationalrevolutionäre die deutschen Massen der zwanziger und dreißiger Jahre mobilisierten, besteht kein Grund zu bezweifeln, dass Ludwig II. seinen Machtverlust dadurch zu parieren suchte, die Kunst zu einem Ort zu erheben, der über den beleidigenden Streitigkeiten des Alltags schwebte.
Für die braunen und schwarzen Ideologien, gegen die sich Walter Benjamins inflationär zitierte Schlussfolgerung wendet, verweisen Formsprache und Distinktionsmarkeure auf das Wesen des totalitären Staats. Vom Aussehen der Helme über die Höhe der Säulen in den Arkaden der Ministerien bis zu den Fackelzügen der Masseninszenierungen – ein Volk war ein Körper, den es zu gestalten galt, eine Nation wurde ebenso sehr durch ästhetische Eingriffe wie repressive Gleichschaltung erschaffen. Aus den Skizzen zu Neuschwanstein spricht eine Sicht der Kunst, die sie zur Religion erhebt. Soweit sie nicht aussortiert wurden, bevor sie auch nur den Zeichentisch erreicht hatten, wurden soziale Aspekt und kollektive Relevanz einer Bedürfnisprüfung unterzogen. Zwar wäre das Schloss ohne eine Staatsform, die auf vererbter Macht basierte, unvorstellbar, aber auf den Felsen im Allgäu übertrumpfte die Kunst nicht nur die Proteste der Verwaltung, sondern auch die Öffentlichkeit als Ganzes. Neuschwanstein wurde nicht angelegt, um die Macht des Despoten über seine Untertanen oder seine Vormachtstellung in Geschmacksfragen zu demonstrieren, sondern um einem beschädigten Menschen Asyl zu gewähren. Wie ein um ein Vielfaches vermögenderer Möga-Jeppa, kultiviert bis in die sämischlederbekleideten Fingerspitzen, träumte Ludwig II. von einer Welt, in der er geschützt wurde – vor der Welt. Im Unterschied zum mit der Zeit chloroformbenebelten, nicht selten betrunkenen Bayern, der sich mit heiliggesprochenen Königen, toten Rittern und erfundenen Meistersängern umgab, versuchte der Schone aktiv, Krankenschwestern und Kinder zu retten. Solange die Umwelt auf Distanz blieb, erfüllte sie jedoch für beide ihre wichtigste Aufgabe.
Wo Regeln und Ressourcen nicht mehr die Bedingungen für die Architektur diktieren, setzt allein die Fantasie Grenzen. Eventuell auch die Statik. Für beide bildete die Baukunst eine »erstarrte Musik«, mit Goethes berühmter Definition in einem seiner Gespräche mit Eckermann, allerdings mit der Ergänzung, dass die Töne nicht verklingen durften – unabhängig davon, ob es sich, wie im Fall von Ludwig II. Schlossbau, um einen wachsenden Opernzyklus oder wie in Jeppas eher um Freejazz handelte.

Während der halbstündigen Führung durch die Teile Neuschwansteins, die fertiggestellt wurden, bevor der König fortgebracht wurde – es heißt, zwei Drittel stünden bis heute leer –, werden wir durch den byzantinisch inspirierten Thronsaal, Ludwigs private Gemächer sowie die Capri-inspirierte Tropfsteinhöhle in blau schimmerndem Dunkel, das Arbeitszimmer mit der großen Neuigkeit jener Zeit, einem Telefon, und den Sängersaal geleitet, dessen Kronleuchter Platz für sechshundert Kerzen boten. »Hier saß er einsam«, erklärt die Führerin gedämpft, »und dachte nach …« Nach einer Kunstpause, kurz genug, um keine kollektive Schwermut auszulösen, ergänzt sie mit zeigendem Finger: »Und für die jungen Damen unter uns – sehen Sie dort!« Hinter dem samtverkleideten Absperrungsseil, am hinteren Ende des verschwenderisch ausgeschmückten Saals, ist an der Wand ein vierbeiniges Wesen zu sehen. Ein Einhorn. Das Tier bäumt sich mit schlanken Vorderbeinen auf, sein goldenes Horn schraubt sich schräg aufwärts. Auf dem Absatz darüber, gleich unter der gewölbten Decke, neigt edelmütig ein weißer Schwan den Kopf.
„Ludwig II. – Requiem für einen jungfräulichen König“

„Ludwig II. – Requiem für einen jungfräulichen König“ | Regie: Hans-Jürgen Syberberg, 1972

Wenn Ludwig II. als eine Kreuzung aus Einhorn und Schwan betrachtet wird, zugleich einmalig und verletzlich, ausgestattet mit schwachen Nerven, aber absoluten Ansprüchen, kann Möga-Jeppa nur das schwarze Entlein der Glücksreiche sein. Die aristokratische Entfremdung des Ersteren, in mittelalterkitschige Pracht gehüllt, hat nicht viel gemeinsam mit dem kargen Dasein des Letzteren zwischen Gerümpel und Unterholz. Dennoch versuchten beide – mehr oder weniger mit Hilfe der Kunst – eine bewohnbare Utopie zu verwirklichen. Der König wurde von dem Entschluss erschüttert, der sein Schicksal besiegelte. »Um selig zu sein«, lässt Syberberg ihn hoffnungsvoll flüstern, die Hände vor den Augen, bevor die Niederlage zur Tatsache geworden ist, um ihn einige Tableaus später zu zwingen, verborgen unter seinem prachtvollen Mantel festzustellen: »Ich war einmal …« Die Rettung vor politischen Katastrophen sowie vor dem mangelnden Sinn der Umgebung für Kunst war eine im wahrsten Sinne des Adjektivs splendid isolation.
Auch für den scheuen Schweden stand der Zweck fest: Ein Splitter der Menschheit musste vor dem Untergang bewahrt werden. »Bald«, behaupteten die älteren Schuljungen, habe Jeppa seine Besucher ermahnt und sie gebeten, das Ohr an ein ausgedientes Radiogerät – ich stelle mir vor, der Marke Dux – zu legen, »werdet ihr ihn hören.« Ihm war Jesus erschienen; er wusste, was die Zukunft bereithielt. Früher oder später würden die Deutschen anlanden, und dann musste die Villa Natur eine Freistatt bieten – in erster Linie den Schulkindern sowie dem Krankenhauspersonal, das sich um ihn gekümmert hatte. Unter einem Haus gab es nicht nur seinen Schutzraum aus Beton, Bombenkeller genannt, sondern auch eine Zelle für gefangengenommene Nazis.
Das Modell für das Refugium im Wald hätte nicht edler sein können: die Arche Noah. Jeppa sah sich als späten Nachfolger des jüdischen Patriarchen, auserwählt, die Menschenreste zu retten, die erforderlich waren, um nach dem Sündenfall eine bessere Welt zu errichten. In der Überzeugung, dass die Menschheit dabei war, sich selbst zu vernichten, schuftete er von morgens bis abends. Den Nachbarn zufolge hörte man die Schläge von Axt und Hammer werktags genauso wie am Wochenende. Wie Jeppa sich die Rettungsoperation exakt vorstellte, ist ungewiss, ebenso, ob sie auch nach der Kapitulation des Dritten Reichs erforderlich war, aber seine Schöpfung erinnert zweifellos an ein Hausboot im Katamaranformat, vorübergehend an Land gezogen. Auf dem Umschlag zu einem späteren Kinderbuch über ihn, verfasst von einem zugezogenen Bayern und »auf wohlige und leicht philosophische Weise geschrieben«, patrouillieren weiße Schwäne im Wasser vor dem Gebäude. Das Risiko deutscher U-Boote dürfte minimal gewesen sein.
Die Küche in Schloss Neuschwanstein, 2025

Die Küche in Schloss Neuschwanstein, 2025 | Foto: privat

Als ich mich auf dem Weg von Neuschwanstein hinunter umdrehe, komme ich nicht umhin, den Bug eines wesentlich stattlicheren Schiffs auszumachen – erbaut für die Ewigkeit oder zumindest für einige biblische Epochen. Hoch oben thront das Schloss, eine Arche aus Kalkstein, bereit, zu Fanfaren von tausend Trompeten seine Fahrt auf das Wolkenmeer hinaus anzutreten. Der Form nach sieht es in meinen beeinflussten Augen aus wie das Symboltier, das Lohengrins schneckenförmiges Boot zog und in unzähligen Ausführungen innerhalb der Wände wiedergegeben wird – diese Lichtgestalt, von der es heißt, dass sie ihr edelmütiges Schweigen erst bricht, kurz bevor sie stirbt, wenn sie in herzzerreißenden Tönen Abschied nimmt, deren Echo in der Erinnerung niemals erlöschen wird.
Architektonische Schwanengesänge oder nicht: Die untereinander so unterschiedlichen Schöpfungen Jeppas und Ludwigs erscheinen beide als das Ergebnis regressiver Fantasie – sie bieten ein »Hauptquartier der Sehnsucht«, wie es in Dan Anderssons Gedicht zu diesem Thema heißt, in das die Bauherren sich zurückziehen konnten. Errichtet für andere Zeitalter als die, in denen sie entstanden, lagen die Wohnungen während des Lebens der Schiffer vor Anker, geschützt und schwebend, bereit, den Rest der Menschheit zu retten, der begriff, was für ihn das Beste war, und ihn in eine klügere Zukunft zu führen.
Wie sagt Ludwig es bei Visconti, dessen Film ihn ausgewogener porträtiert als die übrigen, als die Männer mit Zylindern eintreffen, um den Monarchen fortzubringen, den sie per Ferndiagnose erfolgreich für unheilbar geisteskrank erklärt haben? »Ach!«
Und Jeppa über den Untergang? »Bald werdet ihr ihn hören.«

»Inzwischen besteht ja ein Konsens darüber, dass Utopien immer den Bach runter gehen«, notiert Enquist apropos der Schweden, die zwischen 1881 und 1914 nicht in die USA auswanderten, wohin es so viele zog, sondern nach Südamerika. Besonders interessiert war er an den Eisenerzarbeitern aus seiner eigenen Heimatregion, die als die Verlierer in den Nachwirren der großen Streiks 1909 ein Schweden auf der Schwelle zu einer neuen Gesellschaftsordnung verlassen hatten. Die meisten, die Krankheiten und Strapazen überlebten, ließen sich im Süden Brasiliens nieder, viele am Río Uruguay, der eine natürliche Grenze zu Argentinien bildet – »als sei in den Konvulsionen der Entstehung ein Splitter von einem Planeten herausgeschleudert und in einer schwindelnden Bahn über die Meere getragen worden«.
Ich suche nach Informationen und finde ein Foto, das eine Einwandererfamilie im Dorf Guaraní, Rio Grande do Sul, um 1900 zeigt. Das Bild ist klein und unscharf; erst nach weiterem Recherchen im Netz erkenne ich, dass es außerdem beschnitten ist. Die Eltern stehen zu beiden Seiten ihrer Kinder. Der Vater, der Kamera am nächsten, trägt einen breitkrempigen Hut sowie einen weißen Vollbart. Der Sohn daneben ist ungefähr zehn, hat eine kurze Hose und ein zugeknöpftes Jackett an. Wie der Vater lässt er die Arme an den Seiten herabhängen, während die Schwester, die einige Jahre älter zu sein scheint und ein paar Schritte dahinter steht, die Hand der Mutter hält. Beide Frauen tragen lange Kleider und haben die Haare hochgesteckt, die Tochter hat Schleifen in ihren. Die Familie sieht aus wie arme Habenichtse an einem Sonntag irgendwo auf der Welt zur damaligen Zeit.
Was mein Interesse weckt, ist ein Kreuz. Jemand hat es auf den Giebel an dem Fenster zwischen den Kindern gezeichnet. Weil der Abstand zwischen ihnen der größte im Bild ist, geräumig genug, um eine abwesende Person zu beherbergen, bilde ich mir ein, dass das Zeichen einen Verlust markiert – vielleicht eines verstorbenen Geschwisterkinds zwischen den beiden. Ich beginne zu fantasieren und stelle mir vor, dass ein solches Kreuz auch für den Regenten stehen könnte, der sich wünschte, sich selbst und anderen ewig ein Rätsel zu bleiben. Oder auch für Jeppa, dem es schwerfiel zu buchstabieren und der wichtige Stellen in der Bibel so markiert haben soll – im Gegensatz zu den meisten Buchstaben im Alphabet konnte X nicht fehlgewendet werden. Bildet das Zeichen sogar den einfachsten Ausdruck für eine Utopie? Hier ist er, der Ort, der auf der Karte noch fehlt, eines Tages jedoch alle Sehnsucht beherbergen wird. Enquist: »Vielleicht war es so, dass man die Utopie, wenn sie existierte, erblicken konnte, wenn man da suchte, wo man sie nicht zu finden erwartete, wie einen heimlichen Traum von einer Welt neben der, die wir berührten.«
Über ein solches Dasein, zugleich Ziel der gängigen Ordnung und ihr fremd, galt es Schweigen zu wahren. Als Heterotopie, oder »anderer Ort«, musste sie für die Ahnungslosen ein Rätsel bleiben, und für die Eingeweihten eine Quelle des Trosts. »Sie sollte geheimgehalten werden«, unterstreicht Enquist. Denn »selbstverständlich hatte man das Recht, sich einzuschließen, und zu schweigen. Man war ja aus unserer Welt emigriert, in seine eigene, utopische. Es war ein Menschenrecht für die Ausgewanderten« – diese Exilanten, die in der alten Welt nicht mehr gebraucht wurden und zu denen auch Ludwig II. und Jeppa gezählt werden können, jeder auf seine eigene komplizierte Art.
Für den, der solche Orte fand oder erfand, wurde Schutz vor einem Dasein geboten, dass von Krieg, Not und Bedrängnis geprägt war. Desweiteren stelle ich mir vor, dass diese verstreuten Meteorsplitter – zumindest in den Augen des freikirchlichen Nordschwedens, und sicher auch in denen der gottesfürchtigen Herren in Neuschwanstein und der Villa Natur – alle eine Gemeinschaft der Abweichler verhießen. In ihrer Obhut konnten sich Menschen einfinden, für die in vorhandenen Kollektiven kein Platz war. Jedes einzelne bildete eine lose Gruppierung der Ausgeschlossenen, exzentrisch und radikal. Wenn es möglich wäre, solche Verbünde auf einer Karte einzuzeichnen, würde die Konstellation, die geformt wurde, sich vermutlich ebenso frei und veränderlich verhalten wie die Seelen in den einzelnen Gruppen – ihr verbindendes Prinzip wäre nicht Blutsverwandtschaft oder Staatsangehörigkeit, sondern Affinität.

In einem Essay über »das Schwebende« versucht Joseph Vogl, kultur- und philosophiehistorische Vorstellungen über »eine ungeborene Welt, die wie eine Krypta in der wirklichen, historischen Welt insistiert« einzuordnen. Er betrachtet ihre ungewisse Natur nicht als einen festen oder fixierten Zustand, den Grabkapellen gewöhnlich bilden, sondern eher als »ein In-die-Höhe-Sinken, eine gleichzeitige Doppelbewegung von Steigen und Fallen«, die einen »abarischen, d. h. schwerelosen Punkt« markiert (vom griechischen báros, »Schwere« oder »Bürde« im sowohl wörtlichen als auch übertragenen Sinn). An dieser schwebenden Stelle neutralisieren sich die jeweiligen Anziehungskräfte der Erde und des Monds, wodurch ein Zustand schwereloser Balance entsteht. Hier herrscht, wenn man so will, machtfreie Ruhe.
Die meisten Heterotopien, zumindest von Ludwig II. und Jeppas individualistischer Art, suchen diesen Status. Die üblichen Gesetze sollen nicht gelten. Im Gegenteil, die »Erweiterung des Möglichkeitsraums« fällt, wie Vogl schreibt, »mit dem Projekt einer Verringerung des Weltgewichts« zusammen. Durch seine Unfertigkeit wurden sowohl Neuschwanstein als auch die Villa Natur in einen Zustand quasi-permanenten Schwebens versetzt. Hier war noch alles denkbar – neue Räume oder Bankettsäle konnten hinzukommen, mehr Türme und Korridore gebaut werden, weitere Ausschmückungen angebracht werden … »Als ob«, hält Enquist fest: »das ist ja auch die einzige Hypothese, mit der wir leben können.«
Es stellt sich die Frage, ob solche Orte, wie Vogl apropos Kafkas Erzählung über den Bau der Chinesischen Mauer notiert, nicht in Wahrheit »eine Hervorbringung des Unfertigen« betreiben? Indem sie das Mögliche feiern, entsagen sie in der Praxis den Ansprüchen auf Vollendung.

Oder gibt es unterschiedliche Arten von Möglichkeitsräumen? Zwanzig Jahre, nachdem Bericht vom Mars auf dem Müllhaufen landete, glaube ich zumindest eine Lehre ziehen zu können: Während Ludwig II. zeigt, wie man als wirkende Kraft unnötig wird, lehrt einen Jeppa, wie man sich notwendig macht. Im Unterschied zu Neuschwanstein, diesem Riesenmolekül aus haltbarem Stein, das sich von allem und allen distanziert, gehört die Welt zu Jeppas krängender Schöpfung. Mit Bäumen als tragende Elemente bildete sein Bau einen Aggregatzustand, der sich nicht von seiner nächsten Umgebung trennen ließ. (Nochmals Hjelm: »Man kann der Natur wohl kaum näherkommen, als Jeppe [sic] es getan hat. So wachsen die Bäume beispielsweise geradewegs durchs Wohnzimmer, die Nachtigallen lassen den ganzen Sommer über ihre Triller in den Baumwipfeln ringsum hören, und in dem kleinen See, dessen Wellen verspielt ans Ufer gluckern, hat er seine geliebten Haustiere – die Krebse!«)
Für den Deutschen war Vollendung eine Frage des Geldes, für den Schweden undenkbar – alles blieb in fortwährender Entstehung, das heißt in dem Zustand, den Chemiker in statu nascendi nennen, »im Geburtsaugenblick«, wenn die Neigung der Atome, auf ihre Umgebung zu reagieren, weitaus größer ist, als wenn sie Moleküle gebildet haben. Ludwig II. wusste im Voraus, was er wollte, Jeppa dagegen nie. Neuschwanstein wuchs stabil und kalkuliert, die Villa Natur verzweigte sich unbeständig und überraschend. Übersetzt in Literatur: Ich bevorzuge Romane, gebaut wie die Villa Natur.
Schwedische Einwanderer in Guaraní, Rio Grande do Sul, Brasilien, Postkarte, um 1900

Schwedische Einwanderer in Guaraní, Rio Grande do Sul, Brasilien, Postkarte, um 1900 | Foto: Landesverein Schwedenkontakt

Nach langer Suche im Internet fand ich schließlich das Porträt der fortgegangenen Familie in hoher Auflösung und unbeschnitten beim Landesverband Schwedenkontakt. Nun konnte ich nicht nur sehen, dass der vorgedruckte Text über »Ein schwedisches Heim in Brasilien« entlang der rechten Seite mit blauer Tinte durchgestrichen worden war, sondern auch, dass das Kreuz, das mir ins Auge gefallen war, erklärt wurde. In der oberen linken Ecke kam es erneut vor, diesmal mit der Ergänzung: »Das ist mein Fenster!«
Die Rückseite der Ansichtskarte erzählt eine andere Geschichte. Dort schreibt ein später Witzbold im März 1958 Freunden in Göteborg, das er und seine Mitreisenden einen »eigentümlichen Tag mit Frühstück in Damaskus, Mittagessen in Amman, Bad und Kaffee am Toten Meer und Abendessen in Jerusalem« hatten. Der vorgedruckte Text auf der Vorderseite enthüllt, dass er eine Karte aus der Reihe Leben und Wirken der Schweden außerhalb Schwedens, herausgegeben vom Landesverein für die Bewahrung des Schwedentums im Ausland, mit Sitz in Göteborg, erworben hatte. Nach der langen Tagesreise konnte der Kosmopolit es sich nicht verkneifen, über das Porträt fröhlich zu ergänzen: »Das Bild zeigt unsere Reisenden vor dem Hotel in Kairo.«

Anfangs grämt mich die Entdeckung; das Kreuz in unerklärter Form gefiel mir wesentlich besser – als es noch eine denkbare Abwesenheit markierte, einen formlosen Verlust, für immer ein Rätsel für alle und jeden. Dann wird mir bewusst, dass der Absender sich etwas nicht Unwichtiges erlaubt. Nicht nur liest er viele Jahre später seine eigene Anwesenheit in das Bild hinein, sondern verlegt außerdem die temporäre Wohnstätte der Reisegesellschaft von einem Kontinent auf einen anderen. Zumindest im erweiterten Möglichkeitsraum können Kreuze überall gesetzt werden.
Literatur als die Rückseite von allem?

Chevals palais idéal im Südosten Frankreich und Jacques Lucas’ maison sculptée im Nordwesten … Casa de Pedriñas im galizischen Veiga … Hearst Castle in Kalifornien und Horace Burgess’ gewaltiges Baumhaus (einschließlich Basketballplatz und Kapelle) in Tennessee … oder Neuschwanstein und die Villa Natur. Freistätten, in denen die ästhetischen Überlegungen die politische Tagesordnung übertrumpfen, gibt es viele, verstreut in Zeit und Raum. In fast allen haben Sonderlinge versucht, sich im Außenseiterdasein einzurichten. Die Kraft in ihren Visionen scheint zugleich rückwärts und vorwärts gerichtet zu sein. Der Blick wandert durch die Jahre, zurück zu einer Ordnung, die es möglicherweise nie gegeben hat – wie bei Ludwig II., der die mittelalterliche Ritterwelt wiedererschaffen wollte, die ihn in Wagners Durchbruchsoper über Lohengrin, den Schwanenritter, der unschuldig Verfolgte verteidigt, gepackt hatte. Doch der Blick des Sonderlings geht auch nach vorn, zur Ära jenseits der Zerstörung, von der Jeppa träumte, frei von Kriegen und Qualen, in welcher der Outsider endlich Insider werden kann.
In ihrer ideologischen Form ist diese doppelte Blickrichtung nicht unproblematisch. Wie selbstverherrlichende Slogans im Stil von Make X, Y or Z Great Again, zeigen, wirkt sie gleichzeitig konservativ und futuristisch. Getrieben von einem rückwärtsstrebenden Geist verspricht sie zugleich kommende Größe. Dieser reaktionäre Futurismus bagatellisiert die Gegenwart als einen gordischen Knoten aus vielfältigen Interessen, der die scharfe Klinge der Disruption erfordert. Nur auf der anderen Seite des Kahlschlags wird neualte Größe wieder denkbar.
In seiner idiosynkratischen Form ist dieser doppelte Blick gleichwohl erforderlich, um den Punkt zu erforschen, »die Verdichtung des Möglichen« mit Vogls Bestimmung, an dem größere Kräfte einander ausgleichen. Dort zeichnet sich eine denkbare Heterotopie ab, friedlich schwebend zwischen Ludwigs »Einst …« und Jeppas »Bald …«, zwischen befreiender Höhe und schwindelnder Tiefe – abarisch.
»Ich schwinge hoch den Hut«, singt der Kohlenwächter, während es in Dan Anderssons jambischen Pentametern gewittert, »und grüß des Lebens kühle Nacht.« Danach schließt er mit der Ausgelassenheit, die allein die Zerstörung aufwiegt, solange das Gedicht währt:

Nun wird gefeiert, nun naht die Aufbruchsstunde,
wenn frei und froh ich aufhör zu vernehmen,
und steige in das namenlose Dunkel –
und juble, falle, lächle, bin nicht mehr.

Zwischen dem, was gewesen ist und dem, was kommt, zwischen hoch und niedrig, fest und fließend – im kritischen Moment des Jetzt: es gibt schlechtere Ausgangspunkte für den Schreibenden. Mit Andersson könnte der Ort zum einstweiligen Hauptquartier der Sehnsucht ernannt werden. Aber vielleicht würde auch ein X reichen.

Der Weltraumstein, dessen Splitter sich im April 2002 über dem östlichen Allgäu verteilten, stammte wahrscheinlich von demselben Körper wie ein Meteorit, der ein knappes halbes Jahrhundert zuvor, im April 1959, in der Tschechoslowakei eingeschlagen war. Isotopanalysen haben gezeigt, dass der tschechische Stein zwölf Millionen Jahre alt ist, während Neuschwanstein vier Mal älter ist. Wenn sie ursprünglich zum selben Kometen gehörten, muss dieser also heterogen gewesen sein – will sagen ein Kompositum aus aller möglichen Schlacke, die von Gravitationskräften zusammengehalten wurde, aber zersplitterte, als er mit einem anderen Himmelskörper kollidierte.
Ich stelle mir vor, dass Meteoritsplitter so unterschiedlicher Art wie die Villa Natur und Neuschwanstein, oder die schwedische Kolonie in Guaraní, sich aus der gleichen größeren Sehnsucht speisen, über die auch Andersson dichtet. Dann wäre es selbst für ausgemustertes und havariertes, schludriges oder abgelehntes Material nicht zu spät, erneut Verwendung zu finden. Es würde immer die Möglichkeit bestehen »in dem Abfallhaufen, in dem, woraus nichts wurde«, wie Enquist schreibt, den »Anfang zu etwas vollständig Anderem« zu finden.