Kultur

Rückkehr in die Düsternis

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Martin Beckers gelungener Debütroman „Der Rest der Nacht“

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Martin Becker, Foto: © Ekko von Schwichow

Ein junger Mann erfährt, dass sein Vater im Sterben liegt und fährt nach langer Zeit zurück in seine Heimatstadt. Ein Mann begibt sich nach langer Zeit in seine Heimatstadt, um etwas Fürchterliches zu tun. Ist es ein und derselbe Mann? Martin Becker erzählt in seinem Romandebüt eine düstere Geschichte in zwei Strängen, die er grandios zusammenführt.

Es ist eine ungewöhnliche Eigenheit des Romans, dass die größere Identifikationsfläche für die Leser gerade der Protagonist bildet, dessen Handlungsstrang nicht aus der Ich-Perspektive erzählt. Denn jener Ich-Erzähler führt Grausames im Schilde; er ist paranoid und wohl ein wenig verrückt. Will er wirklich die wehrlose alte Frau töten, die er regelmäßig besucht? Die Figur erscheint als unberechenbar. Und sie rüttelt an den eigenen Lesegewohnheiten. Man will wissen, was sie vorhat und liest schnell weiter. Und ertappt sich gleichzeitig dabei, sich über das Ende jedes Kapitels, in dem sie agiert, zu freuen.

Und dann diese Generationengeschichte, die eigentliche eine Vater-Sohn-Geschichte ist. Der junge Mann – nur als solchen, als irgendeinen, lernen wir ihn kennen – hat irgendwann seinen kleinen Heimatort verlassen, ging in eine Großstadt im Norden und entfernte sich emotional vom Ort seiner Kindheit. Eine Geschichte, wie viele sie nachvollziehen können, die in Kleinstädten aufgewachsen sind, aus denen sie irgendwann geflohen sind. Martin Becker schafft es, dem besonderen, aber irgendwie auch gruseligen Status, den eine solche Heimatstadt haben kann, eine Faszination zu verleihen. Was ist das für ein Gefühl, wenn man erfährt, dass der Tod die Familie heimsucht? Wie wirkt eine Fahrt in das Zuhause der eigenen Kindheit, durch jene Landschaften, von denen man sich, wie Becker es ausdrückt, „sagen wir mal, eingeschlossen gefühlt hat“? Vor der Enge hat sich der junge Mann in die großen Städte geflüchtet, und vermutlich spekuliert Becker mit diesem Charakter nicht nur auf die Identifikationsbereitschaft seiner Leser, sondern integriert auch Autobiographisches.

© Luchterhand LiteraturverlagBecker, der am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert hat und in Leipzig lebt, ist im westfälischen Sauerland aufgewachsen. Obwohl die Schauplätze im Buch ebenso wie die Charaktere anonym bleiben, liegt es nahe, dass Becker mit seinen Landschaftsbeschreibungen seine eigene, vom Mittelgebirge geprägte Heimatregion meint. Und noch etwas verrät Beckers Sprache über seine Biographie.

Zurück auf den Boden der Skurrilität

Wenn der Autor den Ich-Erzähler seinen Heimatort beschreiben lässt, klingt das, als spräche Kafka über Prag. „Es gibt eine Stadt in den Bergen, sie ist nicht groß, das sicher nicht. Die Stadt hat Klauen. Lange Finger hat sie, und die Finger wiederum haben lange Nägel. So sind ihre Klauen. Wenn du geboren wirst, dann legt sie ihre großen Hände um deinen Hals. Und drückt zu. Nicht zu fest, damit du überhaupt zu Atem kommen kannst. Aber auch nicht zu locker. Je größer man wird, desto mehr fühlt man die scharfen, langen Nägel.“

Es ist dies nicht nur eine treffende Metapher für das Gefühl von Beklemmung bei gleichzeitigem Wohlbefinden gegenüber der Heimat. Sie sagt auch etwas über Beckers eigene Lesegewohnheiten aus. Der 32-Jährige fühlt sich auch in Prag zu Hause, Kafka zählt er zu seinen literarischen Vorbildern. In der tschechischen Hauptstadt war er im Jahr 2010 Stipendiat am Literaturhaus deutschsprachiger Autoren. Schon öfter hat er mit dem tschechischen Schriftsteller Jaroslav Rudiš zusammengearbeitet. Zusammen produzierten die Autoren eine Reihe von Hörspielen sowie eine Oper. Regelmäßig treten sie auf Lesungen gemeinsam auf.

Der Satz über die Stadt mit den Klauen erinnert an ein Zitat Kafkas, der seinem „Mütterchen“ Prag Krallen zuschrieb. Kafkaesk geht es schließlich auch in Beckers Roman zu. Wer glaubt, aus dem Verhalten des jungen Mannes geschlossen zu haben, er wisse, in welchem historischen Rahmen der Roman spielt, den holt Becker wieder zurück auf den Boden der Skurrilität, auf dem er die Handlung platziert hat. Der Großherzog kommt in die Stadt; dafür haben die Bewohner ihre Fassaden aufgehübscht. Martin Becker hat einen Sinn dafür, kleinbürgerliche Gewohnheiten mit sanfter Ironie zu beleuchten. Ist der Großherzog auch in Wahrheit nur ein Abstraktum, für die Stadtbewohner ist sein Besuch die konkrete Begründung für das Herausputzen ihrer Häuser. Den Protagonisten schert es nicht. Seine Gedanken kreisen um die Wölfe, vor denen er sich seit seiner Kindheit fürchtet.

2007 erfreute Martin Beckers Erzählband Ein schönes Leben die Kritik. Mit dem nächsten größeren Prosawerk ließ Becker, der zwischenzeitlich künstlerischer Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität in Weimar und als Radiojournalist auch in Frankreich, Kanada und Brasilien unterwegs war, auf sich warten. Was Becker nun mit Der Rest der Nacht vorgelegt hat, ist ein wahrhaft originelles Romandebüt. Das Warten darauf hat sich gelohnt.


Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
September 2014

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