Interview mit der Streetart-Künstlerin Jasmin Siddiqui
„Raum zum Atmen geben“

Die Mund-Nasen-Maske als Symbol der Corona-Krise.
Die Mund-Nasen-Maske als Symbol der Corona-Krise. | Foto (Ausschnitt): hera_herakut, HeraGraff & Oscar Axo

Geduld und Solidarität als Kräfte gegen die Corona-Pandemie: Zusammen mit den mexikanischen Künstler*innen HeraGraff, Tomer Linaje und Óscar Axo erschuf die Graffiti-Künstlerin Jasmin Siddiqui alias Hera am Goethe-Institut Mexiko das Wandgemälde „Stille Helden“. Mit Goethe aktuell sprach sie über die Entstehung des Werkes und die Rolle der Kunst in Krisenzeiten.

Sie mussten wegen der Corona-Krise Ihren Aufenthalt in Mexiko verlängern. Was führte Sie nach Mexiko und wie kam es zu der Idee, dort das Wandgemälde „Stille Helden“ zu schaffen?

Sybille Ellermann vom Goethe-Institut Mexiko und ich begannen im Juni 2019 erstmals, über eine mögliche Tournee zu sprechen. Neben der Vorbereitung einer Ausstellung mit Fotografien internationaler Straßenkunst planten wir auch ein kollaboratives Wandbild für das Goethe-Institut Mexiko, woran ich mit der überaus talentierten mexikanischen Malerin Paola Delfin arbeiten wollte. Das wäre eine absolute Freude gewesen, denn wir haben uns bei vielen Gelegenheiten auf Festivals in den Vereinigten Staaten kurz getroffen, haben Arbeiten auf denselben Kunstmessen oder in Galerien ausgestellt, hatten aber nie die Gelegenheit, unsere Kräfte tatsächlich zu vereinen.

Stattdessen haben Sie das Wandbild mit den mexikanischen Streetart-Künstler*innen HeraGraff, Tomer Linaje und Óscar Axo gemalt. Woher kannten Sie sich?

Ich habe Mexiko-Stadt bereits zweimal besucht und bei beiden Gelegenheiten Wandbilder gemalt. Mein erster Aufenthalt war im Jahr 2008, als ich bei einem großen Graffiti-Festival malte und auch einen ganzen Raum in der Casa del Lago Juan José Arreola gestaltete. Bei meiner zweiten Reise im Jahr 2012 hinterließen mein Kollege Akut und ich als Duo Herakut ein Wandbild im Centro Histórico.

Der subkulturelle Medienrummel, der diese Besuche begleitete, spielte eine große Rolle bei meiner Vernetzung mit den lokalen Künstler*innen Oscar Axo, HeraGraff und Tomer Linaje. Es war so, als würde ich Geschwister treffen. Jeder von ihnen hatte mich oder meine Arbeit schon einmal gesehen und war so gastfreundlich, wie ihre Mütter sie gerne gehabt hätten.

Wandbild für die „Stillen Helden“, die in der Krise besonnen bleiben.
Wandbild für die „Stillen Helden“, die in der Krise besonnen bleiben. | Foto: hera_herakut, Tomer Linaje

Welche Rolle haben Künstler*innen in solchen Krisenzeiten?

Kunst ist nicht nur ein Spiegel, der den Status quo widerspiegelt, sie ist vielmehr eine Reflexion, die die Realität in einem bestimmten Winkel widerspiegelt oder durch einen zusätzlichen kleinen Filter verfremdet. Im Fall unseres Wandbildes am Goethe-Institut zeigen wir die ideale Situation der Menschen in diesen Pandemiezeiten. In unserer Version ist niemand allein, auch wenn alles und jeder ganz still ist. Das kleine Kind in der Mitte bereitet eine Mahlzeit aus Kaktusfrüchten für einen älteren Menschen zu, seine Bemühungen werden von einem größeren Geistwesen unterstützt, das seine Kräfte für diese humane Sache einsetzt. Ich habe ein übernatürliches Wesen gewählt, das der aztekischen Gottheit Quetzalcoatl, der gefiederten Schlange, ähnelt. Sie ist nicht der tötende Gott, sondern sein Gegenteil: ein stiller Helfer.

Detail-Aufnahme der Kaktusfrucht.
Detail-Aufnahme der Kaktusfrucht. | Foto: hera_herakut

In dem gesamten Wandbild verwendeten wir Bilder der mexikanischen Kultur und Folklore, zeigen aber auch die größten Probleme der heutigen Zeit, die darin bestehen, als Gesellschaft zusammen und gleichzeitig weit genug voneinander entfernt zu bleiben, um sicher zu sein.

Warum sind „Stille Helden“ in diesen Zeiten notwendig?

Wenn es um das Thema Krankheit geht, neigen wir dazu, ein Vokabular zu verwenden, das uns als faustschwingende Krieger darstellt, wie in „wir besiegen den Krebs“ oder „wir kämpfen gegen HIV“. Doch keine unserer großen Emotionen, keine dramatischen Gesten und kein eifriger Aktivismus nützen uns etwas, um diesem Virus zu begegnen. Statt Muskeln müssen wir eine andere Art von Stärke zeigen, nämlich: Geduld. Und Strategien entwickeln, um einander tatsächlich Raum zum Atmen zu geben.

Weitere Informationen

Jasmin Siddiqui ist eine in Deutschland geborene Künstlerin, besser bekannt als Hera. Für ihre zeitgenössische Stadt- und Graffiti-Kunst nutzt sie eine Vielzahl von Medien, um emotionale Kunstwerke zu schaffen. Hera arbeitete 2018 mit URBAN NATION für das M/13-Projekt.

Jasmin Siddiqui ist deutsch-pakistanischer Herkunft und wurde katholisch-muslimisch erzogen. Aufgrund ihres Hintergrunds gab es schon vor ihrer Einschulung Konflikte. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, bis sie Graffiti entdeckte. Hera ist Grafikdesignerin und versucht, traditionelle Techniken und Spray-Malerei zu kombinieren, um mythologische Kreaturen und komische und satirische Szenen darzustellen. Diese Bilder fangen oft zeitgenössische Fragen der Ungerechtigkeit und des sozialen Bewusstseins ein.

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