Leipziger Buchmesse
„Vor 20 Jahren hatten nur Serienmörder ein Profil“

Das Goethe-Institut auf der Leipziger Buchmesse - unter anderem mit „Vom Buch zum Bot“, einer Podiumsdiskussion über Autonomie im digitalen Zeitalter.
Das Goethe-Institut auf der Leipziger Buchmesse - unter anderem mit „Vom Buch zum Bot“, einer Podiumsdiskussion über Autonomie im digitalen Zeitalter. | Foto: Tom Schulze

„Vom Buch zum Bot“ thematisiert die Selbstbestimmung im digitalen Zeitalter – eine von vielen Veranstaltungen des Goethe-Instituts auf der Leipziger Buchmesse. Podiumsteilnehmer Andreas Bernard verrät hier vorab, warum unsere Medienkritik rhetorisch auch im Mittelalter gut angekommen wäre.

Die Medienlandschaft verändert sich – das galt schon vor 500 Jahren und mit zunehmend rasantem Tempo besonders heute. Wir sind ständig gefordert, uns auf neue Entwicklungen einzulassen. Vielerorts ist schon die Rede von einer post-digitalen Gesellschaft. In Zeiten von „augmented reality“ und personalisierten Algorithmen lohnt sich ein medienhistorischer Rückblick auf vergleichbare gesellschaftliche Einschnitte. Die Podiumsdiskussion des Goethe-Instituts auf der Leipziger Buchmesse bringt Autonomievorstellungen während und nach der Reformation und in der heutigen digitalen Kultur zusammen. Was ist neu? Der Medienhistoriker Andreas Bernard hier vorab im Interview.


Herr Bernard, sind der Buchdruck und der Beginn des digitalen Zeitalters vergleichbare Zäsuren?

Sich heute mit dem Buchdruck zu beschäftigen, hat den Vorteil, ein halbes Jahrtausend Distanz dazu zu haben. In der digitalen Zäsur sind wir hingegen mittendrin. Es kommt also auf die Perspektive an: Man hat das Gefühl, seit 1998 Google auftrat, hat sich in der Datenverarbeitung mehr getan als in den letzten paar hundert Jahren. Aber mit endgültigen Diagnosen muss man vorsichtig sein. Wir sind zu sehr Zeitgenossen, als dass wir abschätzen können, mit was für einer Zäsur wir es zu tun haben. Dafür brauchen wir eine größere Distanz.

Ist es reizvoll für Sie, sich über digitale Kultur und Selbstbestimmung auch im religiösen Kontext auszutauschen? Sie diskutieren auf dem Podium ja unter anderem mit einem Pastor.

Die lutherisch reformatorische Religion setzte sich immer sehr stark mit dem Status des Selbst und der Frage der Autonomie und Selbstbestimmtheit des Subjekts auseinander. Viele der Fragen, die wir heute in der digitalen Kultur stellen, wurden vielleicht so zum ersten Mal im religiösen Diskurs aufgebracht. Es gibt also vielfältige Anknüpfungspunkte. Das ist eine interessante Angelegenheit, wenn sich ein Pastor und ein Medienhistoriker über Autonomie unterhalten.

Was können wir aus der Medienrevolution des Spätmittelalters für heute ableiten?

Bei der Erfindung des Fernsehens hieß es: Niemand wird mehr lesen. Bei der Erfindung des Telefons meinten alle, niemand würde mehr Briefe schreiben. In solchen Fällen ist es heilsam, sich anzusehen, mit welchen kulturpessimistischen Verdikten Menschen, die vor dem Buchdruck Zugang zu Schriften hatten – beispielsweise Mönche und Kirchengelehrte – dem Buchdruck begegnet sind. Sie hatten Angst, niemand würde mehr handschriftlich schreiben. Es gibt also ein rhetorisches Standardrepertoire der Medienkritik, das vom 20. Jahrhundert zurück in das 15. geht.

Beeinträchtigt der digitale Wandel unsere Autonomie?

Es ist im Gegenteil interessant zu beobachten, wie Verfahren und Techniken der digitalen Kultur zur Stärkung der Autonomie benutzt werden. Ein „Profil“ in den sozialen Medien, Ortungsverfahren über das Handy oder Selbstvermessungsverfahren – all diese Techniken stammen aus der Kriminalistik und Psychiatrie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, um Verbrecher und Wahnsinnige dingfest zu machen. Bis vor 20 Jahren hatten nur Serienmörder ein Profil. Das ist einer der interessantesten Aspekte der digitalen Kultur: Autonomie wird aus Techniken gezogen, die eine ganz andere Geschichte haben.

Die Kehrseite dessen ist, dass man teilweise nicht mehr mit Menschen, sondern mit Maschinen kommuniziert. Grundsätzlich ist das Kennzeichen der digitalen Kultur jedoch nicht, dass Nutzerinnen und Nutzer glauben, ihre Autonomie einzubüßen oder an Maschinen zu delegieren. Dem entspricht auch die vorherrschende Rhetorik der Erweiterung und Vergrößerung der Autonomie. Denken Sie an die Keynotes von Mark Zuckerberg oder an jeden Werbespot von Air B’n’B – es heißt stets, die Tools der digitalen Kultur machen Sie freier, autonomer, unabhängiger. Das gilt es genealogisch zu befragen.

Welche Risiken sehen Sie in der digitalen Kultur?

Wenn Sie auf Ihrem Smartphone den eigenen Standort nachschauen – sieht es dann nicht so aus, als werde nach Ihnen gefahndet? Einerseits heißt es, all diese Techniken sind notwendig, um eine freiere, autonomere Subjektivität anzuzeigen, andererseits bewegt man sich in einer Ästhetik des Verdachts. Es ist eine ganz merkwürdige Verschiebung von Techniken und Ästhetiken der digitalen Kultur am Werk – vielleicht kann man eher von Irritationen sprechen als von Risiken.

Es gibt ja auch Forschungen, die belegen, wie viel man mit neuen Erfassungstechnologien über den einzelnen Wähler erfahren kann, sodass man ihm genau die Informationen zuschicken kann, von denen man weiß, dass die sein Verhalten entsprechend lenken werden. Das ist es, was mich interessiert: In einer Zeit, in der Verfahren der Fremdsteuerung so dicht und so stark sind wie nie, überwiegt die Rhetorik der Selbststeuerung. In diesem Paradox muss man sich zurecht finden.

Der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard ist Professor am „Center for Digital Cultures“ der Leuphana Universität Lüneburg.

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