Die Zukunft der Erinnerung
„Buenaventura gibt nicht auf, verdammt!“

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ästhetischen Intervention einer stillgelegten Eisenbahnlinie „500 metros de - abundancia y resistencia“
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ästhetischen Intervention einer stillgelegten Eisenbahnlinie „500 metros de - abundancia y resistencia“ | Foto: Ricardo Delgado

Mit dem Großprojekt „Die Zukunft der Erinnerung“ haben sieben südamerikanische Goethe-Institute von Bogotá bis Montevideo vor knapp anderthalb Jahren einen öffentlichen Raum geschaffen, um sich der Erinnerungsarbeit zu widmen. Nun fand in Kolumbien die mehrtägige Abschlussveranstaltung „Die Straße zum Meer“ statt.

Als der tropische Regen einsetzt, gibt es kein Halten mehr: Alle Anwesenden rennen unter die nahe gelegene Brücke, besetzen spontan die Straße und stimmen gemeinsam die Parole „¡Buenaventura no se rinde, carajo!“ an – „Buenaventura gibt nicht auf, verdammt!“. So aktivistisch beginnt das Projekt „La carretera al mar“ („Die Straße zum Meer“) des Goethe-Instituts in der Hafenstadt Buenaventura im Südwesten Kolumbiens.

Im Viertel Isla de la Paz hat die Künstlerin Liliana Angulo aus Bogotá gemeinsam mit afrokolumbianischen Bewohnern ästhetische Werkzeuge erarbeitet, um das vor Jahrzehnten angefangene Archiv des 2018 ermordeten Community Leaders Temístocles Machado sichtbar zu machen. Das Archiv dient der Erinnerung an den Widerstand der Gemeinde gegen Marginalisierung und Verdrängung - und es gedenkt jetzt Machado selbst. An der Brückenwand wurde ein Wandgemälde mit Machados Antlitz angefertigt, darüber prangt seine Prophezeiung: „In Wirklichkeit wird dieser Kampf hier nie aufhören.“

Ein Weggefährte von Temístocles Machado vor einem Wandgemälde zu seiner Erinnerung
Ein Weggefährte von Temístocles Machado vor einem Wandgemälde zu seiner Erinnerung | Foto: Ricardo Delgado

Menschen erzählen ihre eigenen Geschichten

„Die Straße zum Meer“ ist der Schlusspunkt des Großprojekts „Die Zukunft der Erinnerung“, bei dem sieben Goethe-Institute in Südamerika angesichts von Erfahrungen mit Gewalt, Terror und Vertreibungen auf dem ganzen Kontinent Künstler und Aktivistinnen eingeladen hatten, um nach kreativen Formen der Erinnerungsarbeit zu suchen.

Wie wichtig das gerade auch im Falle Kolumbiens ist, zeigt sich bei den Diskussionen am nächsten Tag im Museum La Tertulia in Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens: Junge Filmemacher aus Buenaventura berichten von den Ereignissen im Mai 2017, als ein Generalstreik drei Wochen lang die Hafenstadt lahmlegte. Jonathan Hurtado von Yemajá Productions, die ihren Dokumentarfilm über den Streik vorstellen, sagt, es gehe ihnen darum, die Menschen „ihre eigenen Geschichten erzählen zu lassen“.

Filmemacherin Lucrecia Martel im Publikum während der Veranstaltung von Hannah Hurtzig und Karin Harrasser
Filmemacherin Lucrecia Martel im Publikum während der Veranstaltung von Hannah Hurtzig und Karin Harrasser | Foto: Ricardo Delgado

Kampf um Selbstermächtigung und Gerechtigkeit

Wie komplex die Frage nach der Erinnerung in einem Land ist, das mit dem Friedensabkommen zwar die bürgerkriegsartigen Zustände der letzten 50 Jahre überwunden hat, aber nicht die strukturelle Ungleichheit, wird in den kommenden Tagen immer wieder deutlich; zumal noch völlig unklar ist, wie der Friedensprozess unter dem neuen ultrarechten Präsidenten Iván Duque weitergeht: Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Dezember 2016 sollen rund 300 Gemeindevorsteher und Aktivisten von Paramilitärs umgebracht worden sein – die meisten von ihnen waren Afrokolumbianer und Indigene, die sich in Landrechtsfragen engagiert hatten.

Bei den zahlreichen Veranstaltungen von „Die Straße zum Meer“ an verschiedenen Orten Calis kommen viele Vertreter und Vertreterinnen dieser Gruppen zu Wort. Es sind vor allem Frauen wie die Aktivistin Francia Márquez und die Sängerin Nidia Góngora, die hier wortmächtig von ihrem Kampf um Selbstermächtigung und Gerechtigkeit erzählen. Das Bedürfnis, ihre Erfahrungen von Unterdrückung und Gewalt selber auszudrücken und sich dabei nicht von anderen repräsentieren zu lassen, ist eine wesentliche Erkenntnis für die zukünftige Erinnerungsarbeit.

Besucherinnen und Besucher der Performance von Carlos Martiel
Besucherinnen und Besucher der Performance von Carlos Martiel | Foto: Ricardo Delgado

Intensiv und emotional aufwühlend

Es ist erstaunlich, wie intensiv und emotional aufwühlend die Debatten oft verlaufen – auch mit den Gästen aus dem Ausland wie der Künstlerin Hannah Hurtzig von der Mobilen Akademie Berlin (MAB) und der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel.

Am Bedrückendsten erweist sich die künstlerische Intervention des afrokubanischen Performers Carlos Martiel bei der Eröffnung der Projekt-Ausstellung im Museum La Tertulia: Von unten sieht man nur eine steil aufsteigende weiße Treppe, über der ein Bildschirm hängt, auf dem eine sterile Imagepräsentation vom geplanten Hafenumbau in Buenaventura läuft. Wenn man die Treppenstufen hinaufsteigt, landet man auf einem Podest mit einer durchsichtigen Scheibe – unter einem steht Martiel, gänzlich nackt, stundenlang eingepfercht auf winzigem Raum. Eindrucksvoller kann man die Gewalt, der die Schwarzen seit Jahrhunderten ausgesetzt sind, kaum darstellen.

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