„Five Million Incidents“
Wohin mit der Zeit?

Dharmendra Prasad: „Late Harvest“
Dharmendra Prasad: „Late Harvest“ | Foto: Annette Jacob

„Five Million Incidents“: Die Goethe-Institute New Delhi und Kolkata machen Ernst mit der Idee des Instituts als öffentlichem Raum. Über neun Monate hinweg experimentieren sie gemeinsam mit dem Raqs Media Collective mit neuen Formen der kulturellen Programmarbeit.

Was geschieht, wenn man die Idee des öffentlichen Raums neu denkt? Wenn man als Gast in einem Land zum Gastgeber wird und einer Vielzahl anderer, fremder Stimmen Raum gewährt? Seit August 2019 bieten die Goethe-Institute in New Delhi und Kolkata dem Projekt „Five Million Incidents“ eine Bühne.

© Amol Patil
Amol Patil: „Gaze Under Your Skin“ | © Amol Patil

Zarte Skulpturen aus Sand und ein leicht minderbemittelter Chatbot

Das in New Delhi beheimatete Künstlerkollektiv Raqs Media Collective übernahm die Rolle der „Katalysator*innen“. Gemeinsam mit einer Mentor*innengruppe, die sich aus Goethe-Mitarbeiter*innen und externen Sachverständigen zusammensetzte, bildete man eine Jury, die über die mehr als 200 Einreichungen entschied. Über 51 Vorhaben wurden ausgewählt und von den Künstler*innen umgesetzt. Das Spektrum der Projekte reichte von minimal-invasiven Aktionen (ein Verkaufsautomat, bei dem man mit seiner Zeit bezahlt) bis zur vollständigen Verpackung aller Bücher in der Bibliothek; von kuratierten, öffentlichen Abendessen bis zu Sound-Installationen; von zarten Skulpturen aus Sand und der Installation eines leicht minderbemittelten Chatbots bis hin zu einem monumentalen Pavillon aus Stroh, in dem Präsentationen und Diskussionen stattfanden. Und das ist erst die erste Runde. Diese endet Anfang Januar mit einer 15-stündigen Schlagzeug-Performance, welche zugleich die zweite Runde einleiten wird. Am 14. April, dem Geburtstag des Sozialreformers und „Vaters der indischen Verfassung“, Bhimrao Ramji Ambedkar, ist dann Schluss.

Amitesh Grover: „100 Velocity Pieces“
Amitesh Grover: „100 Velocity Pieces“ | Foto: Shweta Wahi

Nackt zu Mittag essen und den Mond betrachten

Wie schon der Titel des gesamten Programms nahelegt, ging es um die Bereitstellung eines Rahmens, in dem möglichst viele verschiedene Formen der Schaffung und Beobachtung von Zeit Platz finden und in dem unterschiedliche künstlerische Formen auf Kollisionskurs zueinander gehen. Man saß sich (nur nach Anmeldung) beim „Naked Lunch“ gegenüber oder beobachtete gemeinsam in einem Observatorium den Mond und seine langsame Reise durch die Nacht; täglich erschienen auf einer Anzeigetafel am Zaun des Instituts neue kurze Kommentare, Ratschläge oder Anweisungen in Form fünfzeiliger Gedichte; über den Zeitraum einer Woche wurden verschiedene Gemüse- und Obstsorten einem Fermentationsprozess unterzogen, und man räsonierte über die Parallele zwischen Gärung und der Formung eines Gedankens.

Die tägliche Routine des Unterrichtens und Arbeitens am Institut wurde durch überfallartige Interventionen unterbrochen: Performer*innen rollten die Treppe hinauf, klopften flehend gegen die Bibliotheksscheiben oder legten sich unangekündigt quer über den Schreibtisch. Filmpräsentationen, Lesungen und (oft ungeplante) öffentliche Diskussionen produzierten Verdichtungen von Zeit und verwandelten das Goethe-Institut in einen Ort der Kommunikation, der nicht-hierarchischen Auseinandersetzung; in einen öffentlichen Raum, in dem die unterschiedlichsten Formen des Nachdenkens über und des Arbeitens mit dem Material Zeit stattfinden können; und in einen sicheren Freiraum, in dem darüber nachgedacht wird, auf welche Gesellschaft man hinarbeiten will.

Jyothidas KV: „Can You Feel The Bubble“
Jyothidas KV: „Can You Feel The Bubble“ | Foto: Annette Jacob

Die Verwandlung eines Ortes

„Five Million Incidents“ brachte eine Vielzahl von Künstler*innen auf das Gelände, die sowohl den Katalysator*innen des Raqs Media Collectives als auch den Mentor*innen zuvor völlig unbekannt gewesen waren. Mit diesen neuen Akteur*innen kam ein neues Publikum. Zugleich kam es zu zahlreichen Kontakten mit den Sprachschüler*innen, die ansonsten dem Kulturprogramm fernstehen. Angesichts des schrumpfenden öffentlichen Raums in New Delhi und Kolkata und der schwindenden Bedeutung öffentlicher Kulturinstitutionen erwies sich das Projekt bislang als außerordentlich erfolgreich. Ob es auch einen nachhaltigen Akzent zu setzen vermag, wird man nach dem 14. April wissen.

Vikram Iyengar & Anubha Fatehpuria: „Inter/Sections“
Vikram Iyengar & Anubha Fatehpuria: „Inter/Sections“ | Foto: Annette Jacob

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