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Zur Relevanz von Thomas Manns Werk
Im Kampf um die Form

Bücher von Thomas Mann in der Bibliothek des Goethe-Instituts Belgrad
© Goethe-Institut/Biljana Pajić

Thomas Mann gilt seit Jahrzehnten als Klassiker der modernen europäischen Literatur und wurde trotz seiner politisch umstrittenen Irrfahrten in der Zeit um den Ersten Weltkrieg zu einer repräsentativen Figur der deutschen Kultur. Wie aktuell ist sein Werk heute?

Von Vahidin Preljević

Thomas Mann gilt seit Jahrzehnten als Klassiker der modernen europäischen Literatur. Es gibt kaum eine geschriebene Kultur, in die dieser Autor nicht übersetzt wurde und in der er nicht einen Bezugspunkt für das gemeinsame kulturelle Erbe darstellt. Die Kanonisierung seines Werks erfolgte vor langer Zeit, noch vor dem Nobelpreis für Literatur, der ihm 1929 verliehen wurde; wahrscheinlich schon nach dem großen Erfolg der Buddenbrooks, seines 1901 erschienenen ersten Romans, mit dem in gewisser Weise das literarische 20. Jahrhundert im deutschen Sprachraum begann. Im Laufe der Zeit wurde er trotz seiner politisch umstrittenen Irrfahrten in der Zeit um den Ersten Weltkrieg zu einer repräsentativen Figur der deutschen Kultur – eine Rolle, die er mit ganzem Herzen übernahm und bis zu seinem Tod pflegte, insbesondere im Exil, als er das nationalsozialistische Regime in zahlreichen wirkungsvollen Reden heftig angriff. „Wo ich bin, ist Deutschland“, sagte er 1938 zu Journalisten nach seiner Ankunft in den USA.

Dennoch blieb sein Status in deutschen Literaturkreisen überraschend problematisch, und zwar für viele Schriftstellergenerationen nach dem Zweiten Weltkrieg. In Umfragen, die deutsche Medien oder Verlage in regelmäßigen Abständen unter Schriftstellern anlässlich verschiedener Thomas-Mann-Jubiläen durchführten, waren die Reaktionen meist entweder verhalten oder sogar äußerst abstoßend. In einer solchen Umfrage, die 1976 in der einflussreichen Literaturzeitschrift Text & Kritik veröffentlicht wurde, wurden zeitgenössischen deutschen Autoren drei Fragen gestellt: ob sie sich heute für Thomas Mann interessierten, inwieweit sein Werk ihre literarische Entwicklung beeinflusst habe und ob die Einschätzung berechtigt sei, Thomas Mann sei der wichtigste und einzige anerkannte Vertreter der deutschen Literatur. Die meisten Antworten waren distanziert, meist negativ und manchmal voller Aggression und sogar Feindseligkeit gegenüber ihrem 20 Jahre zuvor verstorbenen Vorgänger. Fast alle leugneten, dass Thomas Mann irgendeinen Einfluss auf sie gehabt habe. Sie kamen meist zu dem Schluss, er sei ein Vertreter einer nicht mehr existierenden „bürgerlichen Ära“, seine Sprache sei zu gemäßigt, klassisch, er habe nach Ausgewogenheit gestrebt und er sei als solcher „übertroffen“ worden. Selbst wenn sie seine „Meisterhaftigkeit“ anerkannten, fügten sie wie die Schriftstellerin Luise Rinser schnell hinzu: „Er war ein Meister, aber nicht mein Meister.“ Thomas Bernhard porträtierte Thomas Mann in seinem Roman „Der Untergeher“ als kleinbürgerlichen Schriftsteller, der für das deutsche Kleinbürgertum schrieb, und Arno Schmidt warf ihm vor, stilistisch im Rahmen des 19. Jahrhunderts zu verharren und nie das geringste Verständnis für experimentelle Durchbrüche wie den Expressionismus zu haben. In einem Essay, ebenfalls aus den 19er Jahren des 20. Jahrhunderts, stellte der deutsche Germanist Peter Pütz fest, dass zwischen dem Grad der Repräsentativität und Kanonisierung Thomas Manns in der deutschen Kultur und dem Fehlen jeglichen Einflusses auf die zeitgenössische deutsche Literatur eine enorme Kluft klafft. Diese abstoßende Haltung wurde Anfang der 2000er Jahre gemildert; Zu dieser Zeit wurde die äußerst beliebte Fernsehserie „Die Manns“ mit der Schauspielikone Armin Mueller-Stahl in der Hauptrolle ausgestrahlt, in der das Schicksal der deutschen Bürgerschaft als solches in die Geschichte der Familie Mann komprimiert wurde. Einige Jahre später kam eine Neuverfilmung der „Buddenbrooks“ in die Kinos, die im vereinten Deutschland die Sehnsucht nach Kulturfiguren weckte, die die bessere Seite der deutschen Vergangenheit verkörpern würden. Unter den deutschen Schriftstellern der neueren Generation blieb Thomas Mann jedoch weiterhin ohne Nachfolger.

Sicherlich kann dieser Status Thomas Manns in der literarischen Gemeinschaft als typisches Beispiel für die „Angst vor Einfluss“ interpretiert werden, die Harald Bloom einst in seiner berühmten Studie beschrieb: das häufige Bemühen des Künstlers, den Lehrer oder die Autorität, der er am meisten zu verdanken hat, zu vergessen, zu verdrängen oder zu leugnen. Doch es spielen hier offensichtlich noch andere Gründe eine Rolle.
 
Eine davon geht auf die dekadenten Anfänge Thomas Manns zurück. Diese Faszination für den Untergang einer Welt, zeitlos verewigt in der Buddenbrooks Familiensaga, die am Ende des 19. Jahrhunderts sicherlich ein epochales Phänomen darstellte, und die in den Werken Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches (die für den jungen Thomas Mann zweifellos schon sehr wichtig waren) oder biologischen Degenerationstheorien philosophisch und wissenschaftlich fundiert wurde, rief bei späteren Schriftstellergenerationen Misstrauen hervor und unterschied sich grundlegend durch den Fatalismusverdacht vom marxistischen Geschichtsverständnis, das in jenen Jahren das Bewusstsein vieler deutscher Intellektueller erfasste. Selbst die Untervarianten dieses Dekadenzkomplexes, die wir in Thomas Manns Künstlererzählungen finden, insbesondere in der Novelle Tod in Venedig , in der der Künstler Gustav von Aschenbach ähnlich wie Thomas Buddenbrook krampfhaft gegen den Ansturm der destruktiven Irrationalität und den Zerfall der Form ankämpft, stießen bei den experimentierfreudigen Schriftstellern nachfolgender Generationen nicht auf Verständnis, denn es waren die Avantgardebewegungen, die vor allem die kreativen, aber auch die destruktiven Energien der Irrationalität freisetzen wollten. Auch die Abkehr von der Irrationalität im Zauberberg, in dem Hans Castorp, hin- und hergerissen zwischen dem westlichen Aufklärer Settembrini und dem mystischen Revolutionär Naphta, sich im berühmten Kapitel über den Schnee für das Konzept des ausgewogenen Humanismus entscheidet („Ein Mensch sollte nicht aus Güte und Liebe zulassen, dass der Tod seine Gedanken beherrscht“), gehört in dieses Register, ebenso wie die spätere Kritik am künstlerischen Genie als Pakt mit dem Teufel in Doktor Faustus.

Auch viele liberale und linke Intellektuelle verziehen Mann seine politischen Essays aus der Zeit des Ersten Weltkriegs nicht, als er, insbesondere in den Betrachtungen eines Unpolitischen, die These entwickelte, der Große Krieg sei in Wirklichkeit ein Konflikt zwischen deutscher „Kultur“ und westlicher (französischer und britischer) „Zivilisation“ gewesen, wobei er unter Herderscher Kultur den authentischen Ausdruck des Wesens und der Seele einer Nation verstand und unter Zivilisation äußere Erscheinungsformen wie Demokratie, Parlamentarismus und Verfassungsordnung. Während die Liberalen ihm auch nach Manns Hinwendung zum Republikanismus, die mit seiner Rede Über die deutsche Republik von 1922 beginnt, misstrauten und ihn ständig an diese Sünde aus der Vergangenheit erinnerten, erklärten ihn Konservative und Rechte, genau nach diesem republikanischen Sinneswandel, zum Verräter. Der Vorwurf, er sei ein Verräter an der deutschen Sache, gewann in den Jahren seines Exils an Bedeutung. Dabei stammte er nicht nur aus den Reihen faschistischer Propagandisten, sondern auch aus der sogenannten „inneren Emigration“, stillen und oft selbsternannten Gegnern des Nazi-Regimes, die nach 1933 in Deutschland blieben, obwohl sie, wie sie behaupteten, mit Hitlers Herrschaft nicht einverstanden waren. Diese Autorengruppe spielte eine sehr wichtige Rolle in der deutschen Nachkriegsliteratur und sorgte für eine ablehnende Haltung gegenüber den aus dem Exil zurückgekehrten Schriftstellern.

Natürlich konnten auch die Achtundsechziger, die während der Jahre der Studentenrevolte das öffentliche Leben dominierten und nach dem „Marsch durch die Institutionen“ das kulturelle und gesellschaftliche Leben der 1970er und 1980er Jahre übernahmen, nichts mit ihm anfangen. Sie waren irritiert von Manns Beharren auf dem staatsbürgerlichen Bildungskanon und seiner Neigung zu Goethes Klassizismus. Trotz der Tatsache, dass Thomas Mann der vielleicht hartnäckigste und aktivste deutsche Intellektuelle im Kampf gegen den Nationalsozialismus war, erkannte die Generation der Achtundsechziger, die dem damaligen System unter anderem eine unzureichende Vergangenheitsbewältigung oder eine verborgene Kontinuität mit der faschistischen Zeit vorwarf, den großen deutschen Schriftsteller nicht als ihren Vorgänger oder geistigen Verwandten an – im Gegenteil. Für sie war er – obwohl ein prominenter Modernist – ein Relikt einer konservativen Ära.

Dennoch erscheinen mir Thomas Mann und sein Werk trotz aller Missverständnisse mit früheren Generationen heute vielleicht aktueller denn je, und zwar nicht aus nostalgischen Impulsen, aus einer vergeblichen Sehnsucht nach der Wiederherstellung der „Welt von gestern“, die in unruhigen Zeiten oft auftritt. Ich werde versuchen, eine solche Einschätzung in einigen Bemerkungen in diesem begrenzten Raum zu erläutern.

Zunächst einmal hat wohl niemand das Phänomen der Formbarkeit und Verführung der Massen so prägnant beschrieben wie Thomas Mann, unter anderem in seiner Novelle „Mario und der Zauberer“ aus dem Jahr 1930, in der es dem Zauberer Cipolla trotz der Antipathie des Publikums gelingt, die Menge zu kontrollieren und ihr mit Hilfe kollektiver Hypnose seinen Willen aufzuzwingen. Die politischen Konnotationen bezogen sich sicherlich auf das damalige faschistische Italien, in dem die Novelle spielt, ebenso wie sie sich bald auf Deutschland beziehen werden, das sich einige Jahre später einer bizarren Persönlichkeit unterwerfen wird, die die liberale Presse der damaligen Zeit lange Zeit verspottet und als Karikatur dargestellt hat. In der heutigen Ära des Populismus und Trumpismus, in der das politisch wirksame Zirkusmodell erneut die Massen in seinen Bann zieht, lohnt es sich, an diese Machtmechanismen zu erinnern, die Thomas Mann vor fast hundert Jahren beschrieb.

Aus ähnlichen Gründen ist die zuvor erwähnte mentale Figur des Zerfalls auch heute noch relevant, ebenso wie der heroische „Kampf um die Form“, der ein zentrales Motiv in vielen Werken Manns ist. In einem Zeitalter völliger Erosion, Verkehrung und Perversion, in dem alle Werte auf den Kopf gestellt oder in ihrer Eitelkeit bloßgelegt werden und Unordnung als Ordnung etabliert wird – was ich in einem anderen Essay als politischen (und sozialen) Karneval bezeichnet habe – drängt sich die Notwendigkeit auf, das Gleichgewicht wiederherzustellen und die Form zumindest auf intellektueller Ebene neu zu definieren. All die Abgründe dieses ständigen Bemühens um eine innere Ordnung und einen Rahmen, der nicht zu eng ist, aber auch Freiheit ermöglicht, werden nicht nur in Manns Werken beschrieben, auch sein Leben selbst ist ein Zeugnis dieses ewigen Kampfes.

Thomas Manns Sprache ist elegant differenziert und klassisch abgerundet; die komplexe Form ist in ihr jedoch kein Selbstzweck, sondern Ausdruck intellektueller Komplexität, die durch die allgegenwärtige ironische Distanz des Erzählers offen bleibt; heute, in einer Zeit chronischer Konzentrationsschwäche und kurzer Aufmerksamkeitsspannen, wird sie vielen anachronistisch und sogar unverständlich erscheinen. Doch gerade ein solcher stilistischer Ausdruck kann im Zeitalter von Tik-Tok subversiv wirken. Leider nehmen viele Künstler, darunter auch Schriftsteller, den alten – um es klar zu sagen – im Prinzip immer noch geltenden Grundsatz allzu oft wörtlich, dass künstlerischer Ausdruck mit der Zeit, in der er entsteht, im Einklang stehen muss. Den Hauptströmungen der heutigen Literatur, sowohl in unserem Land als auch in anderen Sprachen, nach zu urteilen, wurde diese Übereinstimmung jedoch im Laufe der Zeit als wörtliche Nachahmung der Realität, als Mimesis der niedrigsten Form verstanden. Der lakonische, lockere Plaudereistil, die flachen und leichten Parataxen ohne Reibung, die daher keinerlei Anstrengung seitens des Lesers erfordern, sind zum dominierenden Ausdruck der zeitgenössischen Literatur geworden, in der, sagen wir es mal so, das berühmte Selbst zum unangefochtenen Herrscher aufgestiegen ist und sich als Quelle aller Struktur und Form, kurzum: als Maß aller Dinge, etabliert hat. Der deutsche Germanist Moritz Baßler analysierte diesen globalen Trend in einer aktuellen Studie als „populären Realismus“. Es sind Manns Texte, die eine wichtige Inspiration für die Suche nach einer poetischen Alternative sein können, in der subjektives und objektives Gleichgewicht gefunden wird, aber auch das Verhältnis von Struktur und Form ins Gleichgewicht gebracht wird. Sie können auch ein Anstoß sein, über eine etwas in Vergessenheit geratene Kategorie bei der Bewertung eines literarischen Werks neu nachzudenken: die Kategorie der Relevanz. Doch Relevanz zu erlangen, erfordert akribische Arbeit an sich selbst und an der Zeit, in der wir leben, ein ewiges Ringen mit Sprache und Struktur, Hingabe an das Handwerk.

Der heute weitgehend vergessene deutsche Schriftsteller Alfred Andersch, der ebenfalls den Einfluss Thomas Manns auf sein Werk leugnete, behauptete einmal, die künstlerische Vollkommenheit von Manns Prosa bringe eine ganze literarische Tradition schlicht zu ihrem Endpunkt und lasse keinen Raum für eine Fortsetzung. Diese Kontinuität, die Fortsetzung, muss jedoch nicht an der Oberfläche stattfinden, als geradlinige Verlängerung, denn das wäre gewiss Epigonentum, sondern gleicht eher einer Arabeske, in der alles irgendwie hierarchielos und ohne klares Zentrum miteinander verbunden ist und die Formen ineinanderfließen. In dieser imaginären Arabeske der Kultur verzweigt sich Thomas Manns Werk in viele Richtungen und verbindet uns mit der Breite und Tiefe des literarischen Erbes der Welt. Es ist an der Zeit, von der Oberfläche dieses prosaischen Zeitalters, nicht aus Eskapismus, sondern um unseren historischen Moment besser zu verstehen, wiederum wie im Zauberberg, in diese Tiefe der Zeit abzutauchen.

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