Markus Thielemann
Von Norden rollt ein Donner

Markus Thielemann
© Gregor Kieseritzky

2014 kehrt der Wolf in die Lüneburger Heide zurück - ein Ereignis, das in der Familie des neunzehnjährigen Schäfers Jannes für Konflikte sorgt. Während Vater Friedrich einen Zaun baut und Opa Wilhelm zum Gewehr greifen will, sind Mutter Sybille und Jannes unentschieden. Sie treibt eher die Sorge um Friedrichs zunehmende Vergesslichkeit um - ein Thema, das im Gegensatz zum Wolf tabu bleibt. So steht Jannes mit seinen Ängsten um Vater und Hof allein da.

Von Florina Evers

Das ist die Ausgangslage, mit der uns Markus Thielemann in seinem Roman Von Norden rollt ein Donner konfrontiert. Also ein Roman über den Alltag einer Schäferfamilie in der Lüneburger Heide anno 2014? Nicht ganz.

Neben den bereits angedeuteten Themen wie dem Generationenkonflikt auf dem Hof und der Bedrohung von außen durch den Wolf geht es auch um die düstere Geschichte des Landstrichs, die sich mit Jannes eigener Familiengeschichte verwebt. Auch Rechtsradikalität in deutschen Dörfern und das Erwachsenwerden spielen eine Rolle. Dabei wird die langsam einsetzende Entfremdung von den Schulfreunden und die ernüchternde Erkenntnis thematisiert, dass die eigenen Eltern alt werden und sich fest verankerte Rollen innerhalb der Familie ändern können und müssen.

Von Norden rollt ein Donner © © Florina Evers Von Norden rollt ein Donner © Florina Evers
Auf ganz natürliche Weise gelingt es Markus Thielemann, diese Vielzahl an Themen in die Handlung einfließen zu lassen – und das in einem zeitlosen, schon fast epischen Ton, der jedoch eindeutig in der Gegenwart verankert ist, so dass man sich nicht wundert, wenn WhatsApp-Chats neben Beschreibungen von Natur und Herde stehen, durchdrungen von Jannes' Gedanken, die sich um Hof, Schaf, Wolf und Zukunft ranken. Und auch als Jannes Wahnvorstellungen bekommt, die ihn schließlich einem dunklen Familiengeheimnis auf die Spur kommen lassen, ist dieses surrealistische Element so geschickt in die Handlung eingebaut, dass einem das Absurde gar nicht mehr so absurd erscheint. Obwohl ich beim Lesen von Naturbeschreibungen eher zum ungeduldigen Überfliegen neige, habe ich die Kapitel, in denen wir Jannes mit seiner Herde in die Heidelandschaft begleiten, besonders gerne gelesen, weil sie so bildhaft sind – und in ihrer Präzision so unglaublich poetisch:

Von Norden rollt ein Donner und verhallt. Blitzlos. Keines der Tiere zuckt, auch der Hirte nicht. Er schaut nicht einmal auf, trottet weiter. Langsam, als würde die Zeit um sie träger fließen, ziehen sie hinaus über das verblühte Land, sacht gewellte Ödnis, gefärbt von braun verholztem Kraut und Sand, wo nichts emporragt außer den Wacholdersträuchern, zerbrochenen Säulen gleich.
Markus Thielemann: Von Nordern rollt ein Donner. C.H. Beck, 2024. 

Verherrlichung, Verdrängung und Verschweigen

Neben der eindrucksvollen Sprache hat mich jedoch am meisten beeindruckt, wie der Wolf im Laufe des Romans zur Metapher wird und symbolisch für das "Fremde" und "Gefährliche" steht, dass die "deutsche Natur" bedroht.

Es kann kein Zufall sein, dass der Roman im Jahr 2014 spielt, ein Jahr bevor die Anzahl an Asylbewerber*innen in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte. Im Laufe des Romans wird kein Schaf von einem Wolf gerissen. Es wird nur ständig von der Angst vor einem eventuellen Riss geredet. So haben wir auf der einen Seite das Feindbild "Wolf" und auf der anderen Seite die deutsche Natur, das Naturschutzgebiet Heide, das angeblich durch den Wolf bedroht wird. Und während der Wolf immer mehr zum Mysterium wird - ein Schatten am Waldrand - entmystifiziert der Autor die Heidelandschaft. Der WDR bezeichnet den Roman auf dem Buchrücken deshalb ganz passend als "Anti-Heimatroman", denn während der "Heimatroman" – ein Genre deutschsprachiger Literatur, das sich im 19. Jahrhundert etablierte – das Ländliche klischeehaft romantisiert, passiert in Von Norden rollt ein Donner das genaue Gegenteil: Thielemann durchbricht die vermeintliche Idylle der Heidelandschaft.

Zum einen, in dem er die Protagonisten im Roman die bis heute anhaltende Glorifizierung des Heidedichters Herrmann Löns hinterfragen lässt. Ein Dichter des 19. Jahrhunderts, der zwischen den Zeilen seiner idyllischen Naturgedichte eine menschenverachtende Definition von 'Natur' und 'Natürlichkeit' propagierte, weshalb er später von den Nazis sogar ein posthumes Ehren-Begräbnis bekam. Zum anderen gelingt der Bruch der Idylle durch Jannes' Recherche zur Vergangenheit von Unterlüß: ein paar Kilometer entfernt von seinem Heimatdorf lag das KZ-Außenlager Tannenberg in dem 400-800 jüdische Frauen unter menschenunwürdigen Bedingungen in Gefangenschaft saßen. Das Areal des KZ-Außenlagers ist bis heute nicht gekennzeichnet. Lediglich ein paar Gräben und Fundamentreste erinnern an die grausame Geschichte des Ortes.

Am Ende ist es das Motiv des "Vergessens", das sich durch den Roman zieht, und alles zusammenbringt. Die besorgniserregende Vergesslichkeit von Jannes' Vater, die die Zukunft des Hofs in Frage stellt, und das Vergessen und Verdrängen der grausamen Geschichte der Umgebung durch die Bewohner. Und zwischen all dem der stille und nachdenkliche Jannes mit seiner Herde, alles andere als ein klassischer Held, und doch heldenhaft in seinem Bestreben, die Zeichen, die ihm die Heidelandschaft sendet, zu interpretieren und nicht wegzuschauen – selbst als schließlich die Vergangenheit in all ihrer Hässlichkeit vor ihm steht.

Markus Thielemann, geboren 1992, lebt in Hannover. Er studierte Geografie und Philosophie in Osnabrück, anschließend Literarisches Schreiben in Hildesheim. Von Norden rollt ein Donner ist sein zweiter Roman.

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