Nahaufnahme 2016
Träumen Esten von elektrischen Schafen?

Foto: Pedro Figueiredo/Creative Commons/Flickr

Das Image Estlands ist vom forcierten digitalen Wandel geprägt, die Tourismuswerbung setzt auf medievalen Kitsch: Dabei gehört die Theater- und Performing Arts Szene zu den vitalsten Europas.

Nach Estland zu kommen, genauer nach Tallinn – ist ein Schock. Und gar kein so kleiner. Vor allem aber ist es ein angenehmer Schock, eine positive Überraschung: Nach außen hin, nach Westen verkauft sich Estland nämlich ausschließlich als Cyberwunderland. Die große und die einzige Vorstellung, die man beispielsweise in Deutschland beim Anflug auf Lennart Meri im Kopf hat, ist die einer durchdigitalisierten Gesellschaft, die sich voller Euphorie und mit einem guten Maß Naivität in die schöne neue Welt der elektronischen Medien gestürzt hat.

Digitale Umverteilung

Mich reißt Technikbegeisterung ehrlich gesagt nicht so recht mit. Ich habe ganz gewiss keine westliche Datenschutz-Paranoia, aber wie jeder fleißige Roman- und Spielfilmkonsument weiß ich natürlich, dass so viel gelebter Optimismus irgendwann in Enttäuschung umschlagen muss und an den Rändern immer schon seine dystopischen Ausfransungen gehabt haben, eine Umverteilung von unten nach oben gewesen sein wird. Nach einer von Glassdoor Economic Research in Kooperation mit dem Llewellyn-Institute erstellten und im Frühjahr publizierten Studie haben die Esten nach zehn Jahren digitaler Vorreiterschaft den niedrigsten Lebensstandard in Europa, mit deutlichem Abstand zu Portugal und Griecheland.

Und dann kommt man an und merkt: Das ist hier eine pulsierende und lebendige Metropole nicht wegen ihrer herausragenden Technik wenn auch nicht zwangsläufig gegen sie. Aber dank ihrer künstlerischen Avantgarden, ihrer Empathie- und Gedankenfabriken. Beeindruckend ist zum Beispiel, dass allein Tallinn rund 20 Theater hat. Zum Vergleich: Berlin, das immerhin mehr als doppelt so viele EinwohnerInnen hat, wie ganz Estland, hat keine 67 Bühnen – wenn man genrefremde wie die Philharmonie und saisonale Veranstaltungen ohne festes Ensemble wie die Berliner Festspiele mitzählt.

Dabei sind mehrere Bühnen Tallinns der Fachwelt in ganz Europa ein Begriff, Vaba Lava zum Beispiel, auch das Von Krahl-Theater, das sind Projekte, über die gesprochen wird. Aber selbst wer davon weiß, oder wenigstens schon davon gehört hat und entsprechend neugierig darauf ist, findet von außerhalb Estlands wenige Hinweise auf diesen spezifischen Reichtum der performing arts – die ja gerade nicht vom Wort allein leben. Und ein normaler Tourist erfährt davon rein gar nichts: Als ginge es darum, so etwas eifersüchtig vor den Blicken Fremder zu verbergen fehlt sogar auf dem brauchbaren Kalendarium von www.culture.ee/en/ jeder Hinweis darauf, dass Estlands derzeit im Ausland am meisten gefeierte Bühne – in Deutschlands heimlicher Theaterhauptstadt München, in London, beim Festival von Avignon - das NO99-Theater mit Bert Brechts Ema Courage am Samstagabend eine wichtige Premiere hat. Und wer auf der offiziellen Site des Tallinn City Tourist Office & Convention Bureau die Rubrik „Moderne Kultur” ansteuert, weil er gerade in Erwägung zieht, vielleicht hierher zu kommen, wird mit dem Hinweis auf die Tallinner Altstadttage sogar regelrecht abgeschreckt.

Werbung durch Abschreckung

Ja, abgeschreckt. Und zwar nicht nur weil die Altstadttage, wenn ich es richtig sehe, im Mai gewesen sind und so natürlich der Eindruck vermittelt wird, hier wäre seither nix mehr los und vor kommendem Mai passiere auch nichts neues. Sondern weil, wenn ich mich für moderne Kultur interessiere, ein folkloristisch angehauchtes Ringelpiez mit disney-medievalem Schnickschnack und Bogenschießen eine definitiv disuasive Wirkung hat.

Nichts gegen folkloristisches Ringelpiez! Wer's mag soll's machen! Aber moderne Kultur ist kein Mittelaltermarkt. Moderne Kultur ist auch nicht die Premiere von einem schönen Tschaikowskij-Ballett in einer Choreografie von Petipa, also des 19. Jahrhunderts, die gerade noch frisch genug ist, um die Erfindung der Dampfmaschine und ihre Konsequenzen aufs Zusammenleben zu reflektieren. Moderne Kultur ist das, was sich mit Glück in der Misellaneous-Rubrik findet, wie die beispielsweise die Ausstellung pseudo der Galerie für Gegenwartskunst in der alten Fischfabrik beim Hafen, das Eesti Kaasaegse Muuseum zeigt, oder das, was die Fine5-Company tanzt.

Vermehrung durch Teilung

Das sind Reservate einer Reflexion, die mit dem Tempo der digitalen Revolution mithält, an ihr partizipiert und zugleich ein Gegenstück zu ihr bildet, die sich also in einem dialektischen Verhältnis zu ihr behauptet. An diesen Orten kann, um es Philipp K. Dick zu sagen, von elektrischen Schafen geträumt werden. Es spricht viel dafür, dass dieser Reichtum länger hält, und deutlicher den Standort stärkt, als viele technologische Fortschritte: So beeindruckend diese sein mögen, so liegt in der akzelerationistischen Logik ihres Entstehens begründet, dass sie weder lange vorhalten noch eine lokale Bindung herstellen können. Dagegen gibt es keinen Grund, den kulturellen Reichtum bei der Selbstinszenierung schamhaft zu verbergen, noch ihn, eifersüchtig zu verstecken. Denn dieses merkwürdige Kapital nimmt durch teilen zu.