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Digitale Kluft
Decolonize the Internet

Internetcafé mit Frau und Baby
So wie hier in Liberia bietet Facebook auch in anderen Ländern Afrikas und Südasiens seinen Dienst „Free Basics“ an. Geboten wird eine abgespeckte Version des Internets. Bezahlen müssen die Nutzer*innen mit ihren persönlichen Daten. | Foto (Detail): John Moore/Getty Images

Das Internet ist geprägt von Machtstrukturen. Der digitale Kolonialismus zeigt, wie sich etablierte Hierarchien auch im weltweiten Netz verfestigen. Doch bei Aktivist*innen und Künstler*innen wächst der Widerstand.

Von Ina Holev

Im Internet sind alle gleich, so dachten noch zu Beginn des Millenniums viele Menschen hoffnungsvoll. Als es Ende der 1950er-Jahre von militärischen Thinktanks aus nach und nach den Weg in die Wissenschaft und eine zunächst noch kleine Öffentlichkeit fand, glich das Internet einer Utopie. Hinter der Maske der Anonymität sollten alle Nutzer*innen gleich sein und somit alle die gleichen Rechte haben. Keine Hierarchien – auch nicht zwischen den User*innen in verschiedenen Ländern.
 
Doch diese Hoffnung vom Internet als einem diskriminierungsfreien Raum bleibt bis heute eine Illusion. Im Gegenteil: Machtstrukturen sind schon in der technischen Infrastruktur fest angelegt. Sie führen die Geschichte des Kolonialismus auch in der virtuellen Sphäre fort: in Gestalt des „digitalen“ oder „elektronischen Kolonialismus“.
 
So sind viele Algorithmen der Künstlichen Intelligenz rassistisch. Viele Programme der Gesichtserkennung im Rahmen von Überwachungen sind nicht in der Lage, „people of colour“ zu erkennen. Gerade Schwarze Frauen werden von diesen Technologien oft falsch zugeordnet. Das liegt vor allem an den Programmierern dieser Anwendungen: Meist handelt es sich dabei um weiße Männer aus einem westlichen Umfeld. Ihnen fällt es selber viel schwerer, „people of colour“ zu unterscheiden als weiße Menschen. Das prägt mehr oder weniger unbewusst ihre Weltsicht und damit auch die von ihnen entwickelten Technologien.
 
Es bleibt, wie es immer war. Auch wenn es um die weltweite Vernetzung geht, gibt es die globale Teilung in den „Norden“ und den „Süden“. Die ab dem 16. Jahrhundert entstandenen kolonialen Strukturen finden sich heute in neuer Form wieder. Ohne die Rohstoffe des Südens kommt die Hightech-Industrie nicht aus. Entlang der alten Routen von Sklavenschiffen kommen heute die Seltenen Erden in den Norden. Diese werden in den Ländern des Südens unter teils furchtbaren Bedingungen gewonnen – Kobalt in zentralafrikanischen Minen etwa.
 
Zusammengebaut werden die Handys, Computer und anderen elektronischen Gerätschaften der globalen Konzerne wiederum in Fabriken der Billiglohnländer, wo die Arbeitsbedingungen oft schlecht sind.
 
Dabei geht es übrigens nicht nur um die Herstellung von Gütern: Auf den Philippinen durchsuchen Content-Moderator*innen Tag für Tag die sozialen Netzwerke nach Gewaltvideos – im Auftrag der großen Social-Media-Unternehmen und ohne jedwede psychologische Unterstützung. 

Die Kartelle von Amazon, Facebook, Google …

Doch der digitale Kolonialismus geht noch viel weiter. Er durchdringt das Netz beinahe vollkommen und beschreibt „eine neue, quasi-imperiale Machtstruktur, die von dominanten Mächten einer großen Anzahl an Menschen ohne deren Einverständnis auferlegt wird“ – so definiert die Menschenrechtsanwältin Renata Avila diese Kontinuität des Kolonialismus.
 

Auch wenn es um die weltweite Vernetzung geht, gibt es die globale Teilung in den „Norden“ und den „Süden“.

Avila ist eine Aktivistin aus Guatemala und gehört zu den bekanntesten Kritiker*innen des digitalen Kolonialismus. Im „Internet Health Report“ der offiziell als gemeinnützig geführten Mozilla Foundation kritisiert sie insbesondere die engen Verflechtungen zwischen Politik und Technik. So wies etwa die US-Regierung im Herbst 2019, als Reaktion auf die Unruhen in Venezuela, die amerikanische Firma Adobe an, die Cloud-Dienste in dem südamerikanischen Land zu sperren. Avila plädiert daher vor allem für eine stärkere Regulierung von Kartellen und eine Technik, die dem Gemeinwohl dient. Sie fordert Alternativen zu den das weltweite Internet beherrschenden Konzernen Amazon, Facebook, Google und anderen. Lokale Initiativen müssten gestärkt werden. „Decolonize the Internet!“ – so lautet ihre Aufforderung.
 
Doch oft scheitern lokale Alternativen schon daran, dass es in vielen Regionen der Welt gar keinen Zugang zum Internet gibt oder die Verbindungen viel zu langsam sind. Es ist ein Dilemma, denn die Angebote der Global Player werden natürlich ebenfalls in vielen Regionen des Globalen Südens genutzt. Und auch dort stellen die Internetriesen ihre Dienste allzu gerne bereit – aber natürlich nicht umsonst. Weil hier das Geld aber in der Regel knapp ist, zahlen die Kund*innen dieser Dienste vor allem mit ihren persönlichen Daten.

Von den weltweit rund 70.000 aktiven Wikipedia- Autor*innen stammen nicht einmal 1.000 aus Afrika.

​​​​​​​ So startete Facebook 2014 in einigen Ländern Afrikas und Südasiens seinen Internetdienst „Free Basics“. Es handelt sich dabei um eine App, die eine abgespeckte Version des Internets zur Verfügung stellt. Sie ist besonders für Regionen mit schlechter Infrastruktur konzipiert und zeigt ausgewählte Seiten kostenlos, viele andere sind gar nicht aufrufbar. Voraussetzung für die Nutzung von „Free Basics“ ist jedoch der Log-in über einen Facebook-Account – also die Freigabe persönlicher Daten.
 
Indien verbot diesen Dienst 2016 und gehört gemeinsam mit anderen Ländern zu den großen Kritikern dieser Formen des digitalen Kolonialismus. Dabei handelt es sich in der Regel um Staaten, die eine koloniale Geschichte haben und die heute über vergleichsweise gut ausgebaute Infrastrukturen verfügen. Sie sind in der Lage, eigene nationale Dienste zu stärken – und damit auch die lokalen Ökonomien. Viele Aktivist*innen vor Ort kritisieren auch diesen Trend, weil sie darin keine Verbesserung für den Datenschutz erkennen. Anstelle der (meist) US-amerikanischen Firmen hätten dann eben die lokalen Regierungen und Firmen Zugang zu den Daten der Nutzer*innen. Hier werde das Narrativ des digitalen Kolonialismus für die eigene politische Agenda missbraucht.
 
Angesichts dieser Rahmenbedingungen verwundert auch nicht, dass all das im Internet verfügbare Wissen alles andere als frei und objektiv ist. Beispiel Wikipedia: Die meisten Autor*innen dort (und in dem dazugehörigen offenen Wikimedia-Netzwerk) sind männlich – und viele von ihnen wiederum weiß; sie schreiben oft aus einer privilegierten und einseitigen Perspektive. „Nur 20 Prozent der Beiträger*innen von Wikimedia kommen aus dem Globalen Süden“, stellt die indische Internetaktivistin und Autorin Anasuya Sengupta in einem Interview mit der Deutschen Welle fest. Sie hat die Gruppe „Whose Knowledge?“ gegründet, um die Wikipedia vielfältiger und objektiver zu machen.
 
Die „Wikimania“, das Jahrestreffen der Wikipedianer*innen, fand 2018 in Kapstadt statt und damit zum ersten Mal in SubsaharaAfrika. Insbesondere Wissen vom afrikanischen Kontinent ist unterrepräsentiert: Von den weltweit und 70 000 aktiven Wikipedia-Autor*innen stammen nur etwa 14 000 aus Ländern des Globalen Südens. In Afrika sind es laut Dumisani Ndubane von Wikimedia Südafrika nicht einmal 1000. Das soll sich ändern.

Erzähltraditionen lassen sich nicht digitalisieren 

Doch ist Wissen nur etwas wert, wenn es im Netz archiviert ist? Der neuseeländische Aktivist Karaitiana Taiuru antwortet darauf aus der Perspektive der Maori und weist darauf hin, dass nicht jede Form von Wissen schriftlich fixiert sei und somit auch nicht digital archiviert werden könne. So hebt Taiuru besonders die mündlichen Erzähltraditionen vieler indigenen Kulturen hervor.
 
Durch die Digitalisierung erfolge oft nur eine Festschreibung von Wissen nach westlichen und etablierten Erzählmustern. Für Taiuru bleibt jedes Wissen im Internet stets in der hierarchischen Kultur eingebunden, als in „Technik verwobene koloniale Sichtweisen“.
 
Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem digitalen Kolonialismus kommen immer mehr Impulse aus der bildenden Kunst – insbesondere der Medienkunst. Als „Cyberfeminist*innen“ kritisieren viele Künstler*innen die kolonialen Machtstrukturen im Netz, und zwar, indem sie sich genau der gleichen digitalen Mittel bedienen. Die französisch-guayanische Videokünstlerin Tabita Rezaire etwa zeigt ihre Arbeiten in der kruden Internetästhetik der frühen 2000er-Jahre. Sie geht damit zurück zu den utopischen Wurzeln des Internets. In ihrer Arbeit „Deep Down Tidal“ arbeitet Rezaire mit flirrenden Bildern, verzerrten Stimmen und verwirrenden Animationen. Die Figuren in ihren Videos tauchen in Meereswelten ab, an deren Grund jene Internetkabel liegen, die vor allem den Globalen Norden miteinander verbinden, und klagen Vorurteile im digitalen Raum an.
 
Die Menschenrechtsanwältin Renata Avila aus Guatemala wünscht sich, dass sich die Kritiker*innen des digitalen Kolonialismus verbünden. Es gehe darum, das Internet vielerorts Stück für Stück umzugestalten. Dass es eines Tages ein entkolonialisiertes, gerechtes und diskriminierungsfreies Internet gibt, bleibt eine Utopie, das weiß sie sehr wohl. Da unterscheidet sich die digitale nicht von der analogen Welt.

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