Das Erbe des Tanzes
Wissen und Nichtwissen, Aneignung und Veränderung

Martin Nachbar „Urheben Aufheben“; © Renate Chueire
Martin Nachbar „Urheben Aufheben“ | Foto (Ausschnitt): © Renate Chueire

Die Auseinandersetzung mit dem Tanzerbe hat sowohl künstlerisch als auch akademisch Konjunktur. Die Nähe des zeitgenössischen Tanzes zur Geschichte ist das Zeichen einer sich radikal verändernden Gesellschaft.

Vorstoß in die Vergangenheit

Als der französische Choreograf Jérôme Bel 1998 in seinem Stück Le dernier spectacle die ersten sieben Minuten von Susanne Linkes Solo Wandlung aus dem Jahr 1977 tanzen ließ, war die Überraschung und die Empörung groß. Eine Tänzerin und drei Tänzer, darunter Bel selbst, tanzten Linkes Wandlungen zu Schuberts Musik im weißen Kleid viermal hintereinander. Im Rückblick war das Stück so etwas wie der Urknall der Beschäftigung der freien Tanzszene mit der Weitergabe von Traditionen und dem Erbe des modernen Tanzes. Wollte dieser lange Zeit immer (wieder) „anders“ und „neu“ sein, stellte Bel mit einem Mal die Frage nach der Originalität von Bewegung und seiner eigenen Position als Autor eines Tanzstückes. Wo das klassische Ballett aufgrund seiner Institutionalisierung an Opernhäusern und einer langen Tradition der mündlichen Weitergabe des Repertoires von Lehrern zu Schülern sowie verschiedenen Notationspraktiken weitaus weniger Probleme mit dem Erbe der klassischen Tanzkunst hatte, war Bels Vorstoß in die Vergangenheit für den sich immer wieder neu erfindenden „freien“ Tanz unerhört neu. Nicht nur eignete sich Bel das ihm als Franzosen fremde Erbe des deutschen Tanztheaters an. Er stellte damit gleichzeitig auch die Frage, was dieses Erbe denn sei, wenn es sich im Tanz mit jeder Verkörperung durch eine Tänzerin oder einen Tänzer immer schon verändert, weil kein Körper gleich ist? Bels Wiederholungen erzeugten mit jeder Wiederholung sichtbar Differenz.

Seitdem hat sich die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Tanzes fast selbst schon institutionalisiert. Hortensia Völckers lud als Kuratorin im symbolträchtigen Jahr 2000 zum Festival tanz2000.at, einer Kooperation der Wiener Festwochen mit dem ImPulsTanz-Festival, eine ganze Reihe von Choreografen und Choreografinnen nach Wien ein, die sich in ihren Stücken explizit mit den tanzgeschichtlichen Positionen auseinandersetzten. In ihrer jetzigen Funktion als künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes hat Völckers mit dem Projekt Tanzfonds Erbe die Beschäftigung von Künstlern und Theatern mit dem Erbe des Tanzes unter staatliche Förderung gestellt. Die Frage nach dem Erbe des Tanzes schlägt dabei zwei Richtungen ein. Die eine unterstreicht auf kulturpolitischer Ebene die zentrale Rolle des Tanzes für Kultur und Gesellschaft. Sie stiftet Identität. Die andere entwickelt künstlerisch-ästhetische Perspektiven auf das Erbe, das die Identität wie in Jérôme Bels Spiel mit kulturellen und körperlichen Differenzen aufzulösen trachtet. Alle beide aber gehen sie von der Flüchtigkeit der Tanzkunst aus, der es aufgrund ihrer zeitlichen Verfasstheit schwer fällt, bleibende Werke und Werte zu erzeugen. Tanz ist nur dann lebendiger Tanz, wenn er tatsächlich getanzt wird. Sonst verkommt er zu leblosem Archivmaterial, das nur noch die Spuren eines längst vergangenen Tanzerlebnisses aufbewahren kann.

Tanz und Archiv

Die radikale Gegenwärtigkeit des Tanzes und das Archiv, in dem das Erbe aufbewahrt wird, sind allerdings keine Gegensätze, sondern gehen unweigerlich Hand in Hand. Gerade weil der Tanz sowohl im öffentlichen als auch im akademischen Diskurs immer als flüchtige und vergängliche Kunstform konzeptionalisiert wird, ist er unweigerlich auf ein Archiv angewiesen, das seine Spuren sammelt und der Nachwelt übereignet. Mit dem Archiv verbunden sind daher Fragen nach der Instanz, die sammelt und den Kriterien, nach denen gesammelt wird. Das Archiv ist eine Form institutionalisierten Wissens und daher immer auch eine Machtinstanz. Es ist selbst bereits eine absichtsvolle Konstruktion, weit davon entfernt ein neutraler Ort zu sein, an dem Dokumente und Objekte einfach aufbewahrt werden. In seiner archivierten Form ist der Tanz Teil unseres kulturellen Gedächtnisses, das sich, wie der Ägyptologe Jan Assmann feststellt, dadurch auszeichnet, dass es von Spezialisten verwaltet wird und der Konstruktion von Identität dient. Weil die Arbeiten von bestimmten Tanzkünstlern und -künstlerinnen nach Expertenmeinung als wichtig und wegweisend erachtet werden, tragen sie zur Identität einer Kulturnation wie Deutschland bei.

Darüber hinaus besitzt jedes Archiv zusätzlich eine performative Dimension, die das aufbewahrte Material immer neu und je gegenwärtig materialisiert und damit verändert. Das Archiv ist nichts Statisches, sondern lebendig. Die Objekte und Dokumente, die es aufbewahrt, leben von der Verbindung, die sie mit anderen Objekten und Dokumenten des gleichen oder eines anderen Archivs eingehen. Sie leben von der Nachbarschaft in der Wunderkammer, die neue Möglichkeiten der Deutung zulässt. Als solches muss das Archiv Geschichte notwendigerweise an die Gegenwart verraten. Lebt diese doch von der Verwendung durch die Gegenwart, ihren Fragen, Interessen und Zielen. Unter welchen Gesichtspunkten nähern sich Künstler wie Wissenschaftler den archivierten Materialien? Was sucht, was rekonstruiert man? Erfahrungen und Stimmungen, Körperbilder oder Schritte? Die Funktion des kulturellen, bewahrenden Gedächtnisses weicht hier dem kommunikativen Gedächtnis, das sich durch einen lebendigen Umgang mit der Vergangenheit im Hier und Jetzt auszeichnet. Die zentrale Frage, die sich daran anknüpfend stellt, könnte daher lauten: Ist der zeitgenössische Tanz der Geschichte verfallen? Wenn sich die lebendige Kommunikation mit dem Erbe, institutionell wie finanziell gefördert und diskursiv abgesichert, heute beinahe von selbst versteht, was sind dann die gesellschaftlichen Bedingungen, die diese ungeahnte Nähe zur Vergangenheit heute erlauben?

Erbe und die Kunst des Nichtwissens

Zahlreiche künstlerische Projekte, von denen Martin Nachbars wiederholte Aneignung von Dore Hoyers Tanzzyklus Affectos Humanos oder Olga de Sotos Auseinandersetzung mit Kurt Jooss expressionistischem Klassiker Der grüne Tisch sicher die bekanntesten sind, betonen gerade nicht den identitätsstiftenden Aspekt des kulturellen Erbes. Einer vom offiziellen kulturtragenden Diskurs vernachlässigten Kunstform und „vergessenen“ Künstlern historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihr also in diesem Sinne ein Gedächtnis zu geben, scheint zumindest nicht das einzige Ziel der künstlerischen im Gegensatz zur kulturpolitischen Erbe-Debatte zu sein. Stattdessen arbeiten die Künstler und Künstlerinnen Bruchstellen und Unvereinbarkeiten in der Wahrnehmung des Erbes heraus, das dessen Status erneut aufs Spiel setzt. Damit einher geht eine Infragestellung ihres eigenes Wissens und tänzerisches Könnens, das in der Aneignung des Erbes ausgesetzt wird. Die Beschäftigung mit dem Erbe konfrontiert die Tänzer und Choreografen also mit ihrem eigenen Nichtwissen. Vor diesem Hintergrund sind die Begeisterung für unser Tanzerbe, für die Generierung von und das Spiel mit Archivmaterial, für Re- und Pre-Enactments, die Wissenschaftler wie Künstler heute teilen, weniger ein Indiz für einen neuerlichen Historismus. Vielmehr dient sie, wie es der Soziologe Dirk Baecker formuliert hat, „der Überprüfung von Anschlüssen“. Wenn digitale Medien und das Internet die Vergangenheit in einer ewig währenden Gegenwart festhalten, dann setzen Überlegungen ein, was wir unter welchen Aspekten heute überhaupt noch gebrauchen können. Wie können wir mit dem Informationsüberschuss, den die digitalen Medien produzieren, umgehen? Was und welche Aspekte des Erbes kommunizieren heute noch mit uns? Was können wir auf der anderen Seite nicht mehr gebrauchen und daher getrost vergessen?

Unsere Beschäftigung mit dem Erbe ist daher auch eine Ausprägung einer aktuellen Krise und Neubewertung dessen, was Wissen überhaupt ist. Jeder Künstler, der sich mit seinem eigenen Nichtwissen in aktiver Auseinandersetzung mit der Geschichte konfrontiert, tut dies mindestens auf zweifache Art und Weise. Erstens: Er weiß nicht, wie das Stück, das er bearbeiten will, wirklich gewesen ist. Und zweitens: Er begibt sich damit unweigerlich auch auf die Suche nach seinem eigenen Standort und seiner eigenen Position, die sich im Zuge der Pluralisierung von künstlerischen Stilen, Techniken und Konzepten heute längst nicht mehr von selbst versteht. Das Erbe ist Ausdruck von Orientierungslosigkeit. Dabei bietet das Erbe keine Sicherheit, sondern eine offene Struktur aus Spuren, an denen man sich abarbeiten kann, um sich zu positionieren. Die Beschäftigung mit dem Erbe markiert mithin den Umbruch in der Gegenwart. Das kulturelle und kommunikative Gedächtnis des Tanzes stehen quer zueinander.

Was bleibt?

Die Frage nach dem Erbe stellt sich heute für viele der renommiertesten und bekanntesten Choreografen und Choreografinnen auf eine ganz direkte Art und Weise. Was geschieht mit ihrem Werk im Alter oder gar wie im Falle von Pina Bausch nach deren Tod? Im Gegensatz zu dem ebenfalls im Jahr 2009 verstorbenen amerikanischen Choreografen Merce Cunningham, der verfügt hat, dass seine Kompanie zwei Jahre nach seinem Tod aufgelöst wird, besteht das Ensemble des Wuppertaler Tanztheaters weiter. Es spielt vor internationalem Publikum das Repertoire von Bausch und studiert alte Stücke neu ein, um das Erbe der Choreografin lebendig zu halten. Dies gelingt, solange es ein Publikum gibt, das die Wichtigkeit der Stücke, ihre Themen und die Erfahrungen, die sie artikulieren, nach wie vor als lebendig für ihre Kommunikation erachten. Aus der Tradition des neo-klassischen Balletts kommend, hat es William Forsythe einfacher. Sein Repertoire aus Zeiten am Ballett Frankfurt, das seine eigene Kompanie heute aufgrund technischer wie tänzerischer Veränderungen selbst nicht mehr tanzen kann, wird von anderen Ballettkompanien rund um den Globus einstudiert und so zum Teil eines internationalen Ballett-Repertoires. Was Forsythes „Erbe“ zudem auszeichnet, ist, dass es sich, im Gegensatz zu Pina Bausch, längst selbst aufgearbeitet und systematisiert hat. Seine CD-Rom Improvisation Technologies ist nicht nur eine Einführung in Forsythes Bewegungsprinzipien, sondern auch eine Anleitung, diese als Werkzeuge für die eigene Produktion zu nutzen. Dabei ist die Veränderung und das Weiterschreiben des Ausgangsmaterials bereits einkalkuliert. Projekte wie Motion Bank systematisieren choreografische Verfahren von Künstlern, um der jüngeren Generation Werkzeuge an die Hand zu geben, sich für die eigene Arbeit davon anregen zu lassen. Das Erbe ist eine Aufgabe. Die pädagogische Weitergabe, sei es zwischen Lehrern und Schülern, sei es – in Kombination damit – mit Hilfe von Aufzeichnungsmedien als Form des kommunikativen Gedächtnisses wie es Claudia Jeschke beschrieben hat, zeichnet mittlerweile auch Jérôme Bels Arbeiten aus. So ist The Show must Go On Teil der Ausbildung von Tanz-Studierenden an der Brüsseler Schule P.A.R.T.S.
 

Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit der Tanzplattform Deutschland 2014, er erscheint zeitgleich in der Broschüre der Tanzplattform.

Tanzplattform Deutschland 2014
27.02.–02.03.2014, Kampnagel, Hamburg