Ylva Perera
Kinderliteratur darf nicht nur von weißen Kindern erzählen – zum Besten von Finnland

Graffito vieler Kinder unterschiedlicher Herkunft, die alle nach oben blicken.
Foto: Leonardo Burgos/ unsplash

Es dauerte 500 Jahre, bis die Roma ein eigenes Märchenbuch bekamen. Viele Kinder mit ausländischem Hintergrund laufen Gefahr, in ihrem finnischen Schul- oder Kindergartenumfeld exkludiert zu werden. Bei einem Workshop in Turku wurde diskutiert, wie die Kinderliteratur, die in Kindertagesstätten und Schulen in Finnland gelesen wird, repräsentativer für die Bevölkerung des Landes gestaltet werden könnte.

„Ich habe nie darüber reflektiert, woher Pippis Vater sein Geld hatte!“
„Gibt es in Helsinki schon seit 15 Jahren eine somalische Buchmesse?“
„Kinder stoßen ja überall auf problematische Erzählungen – soll man sie schützen oder ihnen die Probleme bewusst machen?“

In der Filiale Varissuo der Turkuer Stadtbibliothek trafen sich ungefähr zwanzig Leute – Wissenschaftler*innen, Bibliothekar*innen, Pädagog*innen, Literaturschaffende und Privatpersonen – zu einer Diskussion über Kinderliteratur in Finnland.Genauer gesagt, über die Kinderliteratur, die man als „Kanon“ bezeichnen kann, die in Bibliotheken vorhanden ist und in Kindertagesstätten und Schulen gelesen wird.
Wie spiegelt sich die Tatsache wider, dass immer mehr Kinder in Finnland eine andere Hautfarbe als Weiß haben und in einem Alltag leben, der von mehr Sprachen als nur Finnisch und Schwedisch geprägt ist?
 

Wenn alle Puppen weiß sind, führt das zu Exklusion

Kindergartenpädagoge Paco Diop eröffnet das Seminar “On Decanonising Children’s Literature?” (“Kinderliteratur dekanonisieren?”) und erklärt, wie entscheidend es ist, dass Kinder sich wahrgenommen fühlen, um lernen zu können.

„Alles in der Kita ist für weiße Kinder gemacht, vom Aussehen der Puppen bis hin zu den Büchern, die gelesen werden, es sei denn, das Personal sucht bewusst selbst andere Materialien heraus. Und das, obwohl immer mehr Kinder ihren Ursprung in anderen Teilen der Welt haben“, sagt Diop.

Wenn ein Teil der Kinder exkludiert wird, führt das zu einem Außenseiterstatus, der seinerseits oft zu Lernschwierigkeiten führt. Nach Diops Ansicht ist es wichtig, dass die gesamte Bevölkerung begreift, dass Bildungsressourcen vergeudet werden, so lange man nicht die Repräsentation in Ordnung bringt.
„Hier handelt es sich nicht um aktiven Rassismus, aber um ein Desinteresse, das rassistische Konsequenzen hat.“

„Gerade Leute, die Finnland lieben, müssen doch verstehen, dass es für Finnland nicht produktiv ist, viel Geld in die Bildung von Kindern und Jugendlichen zu investieren, ohne gleichzeitig dafür zu sorgen, dass diese genügend Sicherheit und Selbstbewusstsein aufbauen dürfen, um diese Bildung auch annehmen zu können – und damit später zum Gemeinwesen beitragen können“, sagt Diop.
 

500 Jahre lang keine Roma-Kinderliteratur

Eine Gruppe, die Hunderte Jahre darauf warten musste, sich in der Kinderliteratur Finnlands wiederzuerkennen, sind die Roma.
Das Buch „Romaniukin satureppu“ (“Der Märchenrucksack des Roma-Großvaters“) von Inga Angersaari, das aus 12 Märchen aus der Romakultur besteht, wurde im Jahr 2001 herausgegeben.
Während der 500 Jahre, in denen Roma bereits in Finnland leben, war zuvor kein einziges Buch über Roma erschienen, das zur Anwendung in der Kleinkinderpädagogik gedacht gewesen wäre.
„Gemäß der Kinderkonvention haben alle Kinder ein Recht auf diese Art von Information, aber diese Vorschrift wurde nicht in die Praxis umgesetzt“, sagt Angersaari.

„Das ist ein Verlust für die Romakinder, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Wahrgenommen zu werden, ist wichtig für das Gefühl, überhaupt zu existieren“, sagt Angersaari, die in Kuopio als Vorschul- und Berufsschullehrerin arbeitet.
 
Wie man wahrgenommen wird, ist selbstverständlich auch wichtig. Angersaari musste noch in den 90er Jahren einen Beschwerdebrief an das Bildungsministerium schreiben, weil sie in der Sekundarstufe I, wo sie arbeitete, festgestellt hatte, dass in einem Gemeinschaftskundebuch behauptet wurde, Roma-Männer verdienten ihren Lebensunterhalt mit schwerer Kriminalität und Roma-Frauen mit leichteren Verbrechen.

„Das Buch wurde vom Markt genommen, aber in der Schule wurde es noch etliche Jahre weiter benutzt. Als ich die Schülerinnen und Schüler fragte, ob sie glaubten, was da stand, antworteten alle mit Ja – und warum sollten sie auch nicht?

Das steigert das Risiko, dass Romakinder gemobbt werden, und die Frage ist auch, welche Möglichkeiten sie dann für ihre Berufswahl sehen“, sagt Inga Angersaari.
 

Pippis Kolonial-Papa

Auch belletristische Kinderbücher können ein Weltbild vermitteln, das die Menschenwürde von nicht weißen Leserinnen und Lesern in Frage stellt.
Der Kunstkurator und Wissenschaftler Ahmed Al-Nawas berichtet in seinem Vortrag, was er erlebte, als er seiner Tochter Pippi Langstrumpf vorlesen wollte. Er wollte eine radikale Mädchenheldin präsentieren. Aber als ihm deutlich wurde, dass Pippi ihr freies Leben dem Geld verdankt, das sie von ihrem Vater bekam, welcher sich zum König über die Ursprungsbevölkerung auf einer Südseeinsel gemacht hat, musste er innehalten.
„Hier habe ich als Leser eine große Verantwortung – verhalte ich mich loyal zum Text und verdränge meine eigenen Wertvorstellungen, oder will ich mein Kind davor retten, sich ein koloniales Weltbild anzueignen?“ sagt Al-Nawas.
 
Er betont, dass Kinderliteratur in erster Linie aus den Wünschen und Ideen Erwachsener besteht, weil sie in der Regel von Erwachsenen geschrieben, distribuiert, gekauft und vorgelesen wird.
„In dieser Verantwortung liegt ein Potenzial, den Text herauszufordern – zu erfinden, dass der Vater stirbt oder das Geld zurückgibt oder was auch immer – obwohl mein Kind mich oft durchschaut, wenn ich so etwas versuche“, sagt Al-Nawas.

Er fügt hinzu, dass es wichtig ist, in Frage stellen zu können, was ein kinderliterarisches Kulturerbe ist – welche Bücher soll die Bibliothek weiterhin empfehlen, und welche können ins Archiv verbannt werden?
 

Die fehlende Literatur schaffen

Das Medienhaus Ruskeat Tytöt (“Braune Mädchen”) hat eine konkrete Strategie, um die Repräsentation innerhalb der finnischen Literatur zu verbreitern: Es bietet Schreibkurse (RT LIT ACADEMY) an, die sich nur an Personen richten, die in der finnischen Gesellschaft rassifiziert werden (also als etwas anderes als weiß angesehen werden).
„Uns wurde klar, dass wir die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen, wenn wir mehr Repräsentation von Menschen mit unterschiedlichen Hintergrund haben wollen.“

„Sich in der Literatur spiegeln zu können, stärkt das Selbstvertrauen und macht es leichter, sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen“, sagt Mona Eid, Pädagogin und verantwortlich für die Administration bei Ruskeat Tytöt.
 
Eid verweist auf Statistiken, die zeigen, dass ein Drittel der finnischen Kinder und Jugendlichen mit ausländischem Hintergrund, die in Finnland geboren oder vor dem Schulalter nach Finnland gezogen sind, sich nicht als Finnen fühlen. Erlebnisse wie die Al-Nawals mit problematischer Kinderliteratur kennt sie auch, aber sie sagt, dass sie in der Regel daran glaubt, ehrlich zu Kindern zu sein und gemeinsam eine hinterfragende Diskussion auszulösen.
 

Wie kann man vorhandenes Wissen anwenden?

Alle Verantwortung den Eltern und Erzieher*innen zu überlassen, ist aber auf lange Sicht nicht produktiv. Dies wurde in den Diskussionen, die auf die Vorträge folgten, mehrfach betont.
„Es gibt bereits eine Menge multikulturelles Material, aber viele Lehrerinnen und Lehrer nutzen es nicht. In diesem Bereich ist mehr Fortbildung notwendig“, sagt Paco Diop.
„Das gilt auch für Journalisten“, wirft jemand aus dem Publikum ein.
 
Dass bereits etliche Graswurzelinitiativen im Gang sind, wird deutlich, aber die Frage ist, wie sie auf höherer Ebene Durchschlagskraft bekommen sollen. Die Diskussion geht nun um Lobbyarbeit und um das Herantreten an Institutionen und Entscheidungsträger.

Viele setzen keine große Hoffnung in die Verlage, weil die Bücher, die man fordert, nicht unbedingt kommerzielle Verkaufsschlager sind.
 
Auch Übersetzungs- und Zusammenarbeitsmöglichkeiten werden gefordert. Es besteht ein Bedarf dafür, Kinderbücher, die vom Alltag in Finnland handeln, beispielsweise auf Russisch zugänglich zu machen. Es wird auch darauf hingewiesen, dass finnische Autorinnen und Autoren, die über multikulturelle Themen schreiben wollen, mit Personen zusammenarbeiten sollten, die diese Erfahrung haben,
Es steht auf jeden Fall fest, dass diese Arbeit erst in den Startlöchern steht.
„Jetzt darf die Kompetenz nicht in diesem Saal steckenbleiben!“ sagt Paco Diop.
 
Der Workshop “On decanonising Children’s Literature?” wurde arrangiert von Goethe-Institut Finnland, The Children’s Library Project (Åbo Akademi), The Museum of Impossible Forms, Läscentrum und der Stadtbibliothek Turku.

Der Artikel ist zuerst auf YLE Kultur erschienen.
 

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