April 2021
Christa Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert...

Bucheinband: One Day a Year: Carrying on regardless
© Seagull Books

... - Trotz allem weiter machen

Fans von Alan Bennett’s Keeping On Keeping On sollten unbedingt in Christa Wolfs Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert reinschnuppern.

Meine Gefühle für die ostdeutsche Autorin Christa Wolf (1929–2011) liegen irgendwo zwischen Zartheit, Respekt und Fürsorge. Ich liebe die Klarheit ihrer Sprache und ihren subtilen Blick. Ihre Bücher haben mich durch mein erwachsenes Leben begleitet, und ich fiebere dem Tag entgegen, wenn Nachdenken über Christa T. auf Englisch wieder aufgelegt wird, damit ich es allen schenken kann, die ich kenne. Ich bin also hocherfreut, dass der Verlag Seagull Books Christa Wolf wieder einem englischsprachigen Publikum näherbringt. Mehrere ihrer Bücher wurden jetzt von Katy Derbyshire übersetzt, die Wolfs warmen aber minimalistischen Stil bestens aufgreift.

Wolf ist vielleicht am besten für ihre fiktionalen Texte bekannt (auch wenn diese Fiktion von Autobiographischem genährt wird), aber ihre beiden Ein Tag im Jahr Bücher sind eine ungewöhnliche Art von Tagebuch. Von 1960 bis zu ihrem Tod schrieb Wolf ausführlich Tagebuch, allerdings nur einmal im Jahr: am 27. September. Die erste Sammlung der Einträge überspannt vierzig Jahre. Im Vergleich dazu ist Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert, das Wolfs letzte 11 Jahre dokumentiert, ein schlankes Buch, das man wunderbar genießen kann, auch ohne Ein Tag im Jahr: 1960–2000 gelesen zu haben.  Ich würde jedem Christa Wolf empfehlen, aber Ein Tag im Jahr würde vielleicht v.a. Fans von Alan Bennetts Tagebüchern 2005–2015 Keeping On Keeping On interessieren, da die Tagebücher Wolfs ruhigen Ton, ihre nachdenkliche Darstellung des Alterns und ihre Verzweiflung über die Politik teilen.

Als ich das Buch zu lesen anfing, hatte ich einen überraschenden Moment des Wiedererkennens: Gerade mal 11 Jahre alt und mitten in einer schottischen Kleinstadt lebend hatte ich zwar wenig gemein mit der bekannten Autorin, die schon Anfang 70 war, aber am 27. September 2001 fühlte man natürlich die Nachbeben von 9/11 – in Schottland wie in Deutschland. Wolf berichtet nicht nur über ihre eigene Erfahrung des Tages; sie notiert auch tagesaktuelle Schlagzeilen und teilt ihre Gedanken und Gespräche über das Zeitgeschehen. Ob sie vom sogenannten Krieg gegen den Terror oder Hurrikan Katrina oder Protesten in Burma erzählt – immer legt sie verschiedene Zeitschichten offen, und lässt mich damit meine eigenen Erinnerungen entdecken, sodass sie plötzlich ganz scharf im Fokus liegen.

Wolf, die auf einen „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ gehofft hatte, hat ihre Kritik an einem System, in dem wir „mit Dingen zugeschüttet und selbst verdinglicht werden sollen“, nie verloren. Als sie Bush als „ein[en] ungleich schlimmere[n] Verbrecher … als die wenig mächtigen Obrigen in der DDR“ verurteilt, schmerzt es fast. Ach Christa, gut, dass dir Trump erspart blieb! Aber Wolfs sorgsame Notizen – in denen sie von Nazi-Graffiti oder dem Wahlsieg eines rechtsextremen Politikers erzählt – erinnern uns daran, dass die letzten Jahre mit Brexit und Trump und AfD ja nicht aus dem Nichts gekommen sind.

Viele von Wolfs Beobachtungen sind aber persönlicher: Die Geburtstagsfeier ihrer Tochter, Fragmente der Träume, an die sie versucht, sich zu erinnern, die Mühe, die sie hat, die Treppe mit Stock hochzukommen. Es ist ja kein neuer Gedanke, dass unsere Gesellschaft dazu tendiert, den Geschichten der älteren Generationen nicht zuzuhören, aber es wird auf einmal ganz offensichtlich im Lesen von Wolfs Darstellung des Alterns. Sie ist ehrlich über ihren Frust darüber, dass das Laufen schwieriger wird und über ihr (ansonsten nicht ausgesprochenes) Bewusstsein von und Angst vor dem Tod.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich dieses Buch besser verkaufen könnte. „Es geht um Tod und rechtsextreme Politik?“ denkst du gerade. „Wirklich?“ Aber vertrau mir. Oder vertrau viel mehr Christa Wolf, die wusste, dass der Sinn des Lebens das Leben ist. Wichtig ist eben, dass man trotz allem weitermacht.
 

Über die Autorin

Annie Rutherford ist eine hoffnungslose Leseratte, kann sich nie auf nur eine Sache festlegen und bewegt sich am Liebsten irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sie ist Programmkoordinatorin bei StAnza (Schottlands internationalem Lyrikfestival), übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Deutschen ins Englische, leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und vieles mehr. Sie wurde schon erwischt, wie sie fahrradfahrend gelesen hat (was sie nicht empfehlt) und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.


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