Juli 2021
Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende

Bucheinband: The Passenger
© Pushkin Press

Wenn John Buchans Roman Die neununddreißig Stufen dich gefesselt hat, empfehlen wir Der Reisende von Ulrich Alexander Boschwitz.

Normalerweise vermeide ich Bücher, die zur NS-Zeit spielen, für diesen Blog. Nicht wegen irgendeiner Sensibilität, dass man – wie Basil Fawlty – den Krieg nicht erwähnen sollte, sondern weil Bücher über Deutschlands düstere Tage eh relativ viel Erfolg auf dem britischen Buchmarkt genießen. Hier geht es mir darum, die großartige Diversität (von Themen sowie Genres) der deutschsprachigen Literatur ins Rampenlicht zu stellen. Bei Ulrich Boschwitzs Der Reisende wurde mir aber schnell klar, dass es sich hier um einen Roman handelt, bei dem man eine Ausnahme machen sollte.

Die Entstehungsgeschichte des Buchs ist an sich schon faszinierend: Der 23-jährige jüdische Ulrich Boschwitz, der in Paris im Exil lebte, schrieb die Geschichte von Otto Silbermann in den fieberhaften Wochen nach der Kristallnacht. Frühere Versionen des Romans wurden in Großbritannien und Frankreich veröffentlicht und Boschwitz ist selbst nach England geflohen, wo er aber als feindlicher Ausländer verhaftet wurde. Er starb 1943 im Alter von nur 27 Jahren. Sein Wunsch, dass Der Reisende in einem befreiten Deutschland veröffentlicht werden sollte, wurde erst 2018 erfüllt.

Boschwitzs unablässiges Reisen während seiner Zeit im Exil (nach Schweden, Frankreich, Luxemburg, Belgien, England und letztlich – als Gefangener – nach Australien) wird in den ziellosen Fahrten widergespiegelt, die den Kern vom Roman Der Reisende bilden. Otto Silbermann ist ein erfolgreicher jüdischer Unternehmer, der die ersten fünf Jahre der NS-Zeit durch seinen Wohlstand, gute Beziehungen und „arisches“ Aussehen geschützt war. Als aber am 9. November 1938 SA-Schläger vor seinem Haus auftauchen, muss er durch die Hintertür fliehen. Anti-jüdische Gewalt bricht überall in Deutschland aus und Silbermann kann nicht mehr leugnen, was in seinem Land passiert. So beginnt eine Odyssee von zunehmend verzweifelten Zugsfahrten quer durch Deutschland.

Der Roman garantiert eine packende Lektüre und die ständige Bewegung und die verdachtsbehangene Stimmung erinnern an John Buchans klassischen Thriller Die neununddreißig Stufen. Zugegeben, Otto Silbermann ist kein Richard Hannay, aber das ist eine der Stärken des Romans. Silbermann soll kein Held sein – er ist etwas wichtigtuerisch, leicht genervt und gelegentlich gemein. Die Szene, in der Silbermann seine Geduld mit einem Freund – der offensichtlicher jüdisch ist – verliert, ist herzzerreißend:
Einige Minuten später klopfte er Silbermann auf die Schulter. „Wir bleiben zusammen“, sagte er guten Mutes.

  • „Sie kompromittieren mich ja“, stieß Silbermann gereizt und verdrossen hervor.
  • Hamburger sah ihn an. Sein Gesicht verlor den Ausdruck des Behagens, das es beim Essen angenommen hatte, seine Augen weiteten und sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, doch er schwieg.
 
Doch während Silbermanns Verzweiflung und Angst immer größer werden, kann der Leser nicht anders, als mit ihm mitzufiebern. Romane, in denen die Hauptfigur nicht besonders sympathisch ist, sind immer ein Drahtseilakt aber Boschwitz meistert diese Herausforderung mit viel Geschick.

Der Roman – geschrieben noch bevor die Todeslager gegründet wurden – wird manchmal als prophetisch beschrieben. Das Leseerlebnis heute, während der Nationalismus hierzulande und im Ausland wächst, ist eine unbehagliche Erfahrung, die wir unbedingt brauchen.

Über die Autorin

Annie Rutherford ist eine hoffnungslose Leseratte, kann sich nie auf nur eine Sache festlegen und bewegt sich am Liebsten irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sie ist stellvertretende Festivaldirektorin bei StAnza (Schottlands internationalem Lyrikfestival), übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Deutschen ins Englische, leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und vieles mehr. Sie wurde schon erwischt, wie sie fahrradfahrend gelesen hat (was sie nicht empfehlt) und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.


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