Dezember 2021
Karl Schlögel: Der Duft der Imperien

Bucheinband: The Scent of Empires
© Polity Books

Wenn dir Neil MacGregors Ansatz zu Geschichtserzählung gefällt, empfehlen wir Karl Schlögels Der Duft der Imperien.

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten von Neil MacGregor (übersetzt von Waltraud Götting, Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel) war sofort ein Bestseller als es 2011 erschien. MacGregor war zu der Zeit Direktor des British Museums; das Buch nimmt verschiedene Objekte – vom alltäglichen bis zum außerordentlichen – als Anfangspunkte, um die jeweiligen Gesellschaften, von denen sie Teil sind, zu untersuchen.

Karl Schlögels Der Duft der Imperien: „Chanel No. 5“ und „Rotes Moskau“ setzt eine ähnliche Strategie ein: Ausgehend von den zwei Parfümen erforscht es die unterschiedlichsten Themen – von den französisch-russischen Verhältnissen in den 1930ern bis hin zu den Gerüchen, die das prä-revolutionäre Russland definiert haben. Ich muss hier allerdings gestehen: Dynamische Kommunikation ist ein wichtiger Arbeitsbestandsteil für alle, die, wie MacGregor, in Museen arbeiten, aber Akademiker*innen sind typischerweise nicht dafür bekannt. Schlögel ist Professor der Osteuropäischen Geschichte und die Weite und Tiefe seiner Kenntnisse ist erstaunlich – aber dafür muss die Leserin etwas Wiederholung im Kauf nehmen.

Trotzdem ist das Buch wirklich eine Schatztruhe an Informationen. Laut der Prämisse hinter Der Duft der Imperien teilt Chanels ikonischer Duft No. 5 einen gemeinsamen Ursprung mit einer der beliebtesten Parfüme in der UdSSR, Rotes Moskau. Beide Parfüme wurden von französischen Parfümeuren geschaffen, die unter Alexandre Lemercier, ein Meister-Parfümeur im zaristischen Russland, studiert hatten – und beide hatten Zugang zu denselben Parfüm-Formeln in den frühen 1910ern. Während der erste, Ernst Beaux, nach Frankreich zurückkehrte und ein schicksalhaftes Treffen mit Coco Chanel hatte, blieb der andere, August Michel, in Russland dank einer Eigenart der sowjetischen Bürokratie – und arbeitete weiter in einer dramatisch veränderten Parfümindustrie.

Schlögel platziert diese Parallele im Zentrum eines Gewebes von unterschiedlichen Themen und Geschichten und erforscht die umgebende Moderne, Mode, Politik und Biographie. Er sieht ein sowjetisches Pendant für Coco Chanel in Polina Zhemchuzhina-Molotowa, eine treue Kommunistin, die eine wichtige Rolle in der staatlichen Parfümindustrie der UdSSR spielte und ein Mitglied des inneren Kreises Stalins, die, wie so viele, in Ungnade fiel.

Am faszinierendsten ist vielleicht, wie Schlögel die Parallele zieht zwischen der Ästhetik und den Zielen der frühen UdSSR und der westeuropäischen Moderne. Diese zwei Gesellschaften werden generell als Gegenpole dargestellt, aber beide – wie Schlögel erkennt – versuchten, sich nach drastischer Veränderung zu regenerieren und sich eine bessere Zukunft vorzustellen, sowohl politisch als auch in der Kunst. Die Mode vereint Ideen davon, wie wir leben sollten, mit Ideen über die Kunst – und genau hier sind die Ähnlichkeiten, die Schlögel skizziert, vielleicht am sichtbarsten: Nicht nur bei Coco Chanel mit ihrem charakteristischen kleinen schwarzen Kleid, sondern auch bei der führenden sowjetischen Modeschöpferin Nadezhda Lamenowa gab es einen Bruch mit der Mode der europäischen Belle Époque, als sie versuchten, Funktionalität mit Eleganz zu kombinieren.
 

Über die Autorin

Annie Rutherford ist eine hoffnungslose Leseratte, kann sich nie auf nur eine Sache festlegen und bewegt sich am Liebsten irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sie ist stellvertretende Festivaldirektorin bei StAnza (Schottlands internationalem Lyrikfestival), übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Deutschen ins Englische, leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und vieles mehr. Sie wurde schon erwischt, wie sie fahrradfahrend gelesen hat (was sie nicht empfehlt) und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.


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