März/April 2022
Jenny Erpenbeck: Kein Roman

Bucheinband: Not a Novel
© Granta

Fans von Marilynne Robinsons essayistischem Schreiben werden sich von Jenny Erpenbecks Kein Roman sofort angesprochen fühlen.

Die amerikanische Autorin Marilynne Robinson ist insbesondere für ihre Romane (v.a. Haus ohne Halt und Gilead) bekannt, aber auch ihre Essays haben eine treue Leserschaft gefunden – darunter den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. Robinsons zarte und überzeugende Essays umkreisen Ideen zu Kreativität und Gesellschaft, erkunden, was genau das Menschliche auszeichnet und ziehen so die Leser*innen in ihren Bann und erweitern ihren Horizont.

Ich hatte eine ähnlich bereichernde Erfahrung, als ich Jenny Erpenbecks Kein Roman: Texte 1992 bis 2018 las, eine Sammlung von Artikeln und Reden der Autorin. (Eine Differenzierung möchte ich aber vornehmen: Erpenbeck teilt Robinsons tiefes Interesse am Glauben nicht, und ihr Schreiben ist zugänglicher, aber dennoch genauso tiefgründig.) Ich habe das Buch in englischer Übersetzung gelesen – Kurt Beals Übertragung ist kreativ und geschmeidig, aber merkwürdigerweise ist das Buch deutlich kürzer als das Original: Vielleicht hat der britische Verleger entschieden, dass ein paar Essays zu kulturspezifisch waren?

Kein Roman ist unterteilt in Essays zu ‚Leben’, ‚Literatur und Musik‘ und ‚Gesellschaft‘, und ist ein absolutes Muss für jede Leserin, die Erpenbecks Romane liebt. Einige Essays befassen sich mit Erpenbecks Herangehensweise an zwei frühe Romane, Geschichte vom alten Kind und Wörterbuch, und das Buch erklärt die Ideen der Autorin zum Schreiben allgemein. Besonders faszinierend ist Erpenbecks Theater- und Musik-Background (sie hat Musiktheater-Regie studiert) und wie ihr Verständnis von Liedern, mit ihren Schwingungen, ihren Harmonien und Pausen, ihr Schreiben beeinflusst. Sie schreibt eloquent darüber, wie wichtig die Lücken zwischen den Wörtern sind, und erkennt, dass das Verschwiegene genauso viel Raum einnimmt wie das offen Gesagte.

Diese literarischen Überlegungen werden mit Erpenbecks kritischen Überlegungen zur Gesellschaft verwoben, und letztere sind für mich die berührendsten und denkwürdigsten Teile des Buchs. Während sie sich an das Ostberlin ihrer Kindheit erinnert, mit seinen vielen Ruinen und Baustellen (ich liebe die Vorstellung, wie Jenny über die Ruinen der Museumsinsel kraxelt), zeigt sie uns, dass „wir selbst uns ja kein Wunder und auch kein Schrecken [waren], sondern Alltag, und in diesem Alltag waren wir unter uns”.

Erpenbecks Ausführung zu ihrer Ambivalenz, was die Wiedervereinigung angeht, ist die eloquenteste, die ich je gelesen habe („jetzt sollte die beste aller möglichen Welten auf einmal gefunden sein?“). Ihr Sinnieren dazu, wie mit der Debatte umgangen wurde, fühlt sich überraschend relevant an in post-Brexit Schottland, das immer noch von zwei spaltenden Volksentscheiden geprägt ist, mit ihren Gewinnern und Verlierern, Mehrheit und Minderheit: „Die Mehrheit siegte über die Minderheit und schaffte den Sozialismus ab, und die Minderheit, die an die Fortexistenz eines sozialistischen Systems glaubte, an Verbesserungen, Neubesetzungen, wurde nicht mehr gefragt, die Freiheit war plötzlich eine Freiheit der Mehrheit.”

In einem Essay erwähnt Erpenbeck, dass das Schreiben und vor allem die Erfahrung, dass ihre Bücher begeisterte Leser*innen gefunden haben, „heißt, dass ich nicht allein bin mit meinem Lebensgepäck“. Während ich immer neue Gedanken in Kein Roman unterstreiche, bin ich es auch nicht mehr. 

Über die Autorin

Annie Rutherford ist eine hoffnungslose Leseratte, kann sich nie auf nur eine Sache festlegen und bewegt sich am Liebsten irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sie ist stellvertretende Festivaldirektorin bei StAnza (Schottlands internationalem Lyrikfestival), übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Deutschen ins Englische, leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und vieles mehr. Sie wurde schon erwischt, wie sie fahrradfahrend gelesen hat (was sie nicht empfehlt) und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.


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