Juni 2022
Kübra Gümüşay: Sprache und Sein

Bucheinband: Speaking and Being
© Profile Books

Sprache und Sein von Kübra Gümüşay ist ein anregendes Pendant zu Was weiße Menschen jetzt tun können von Emma Dabiri.

Bücher machen uns nicht unbedingt zu besseren Menschen. Die Autorin und Aktivistin Jessica Gaitán Johannesson hat es eloquenter als ich beschrieben (in englischer Sprache): Wenn wir das Lesen und Schreiben als Aktivismus fetischisieren, kann das zu einer Ausrede werden, nicht wirklich für Veränderung zu kämpfen.

Und dennoch – es gibt durchaus Bücher, die Worte finden für die Ungerechtigkeiten, die wir spüren, aber nicht ausdrücken können; Bücher, die einen Raum öffnen, in dem wir uns bessere Welten vorstellen können, und die Werkzeuge vorschlagen, um diese Welten zu schaffen. Für mich ist eins dieser Bücher Was weiße Menschen jetzt tun können von Emma Dabiri (übersetzt von Marion Kraft). Als leidenschaftliche und dennoch nuancierte Schriftstellerin berücksichtigt Dabiri die Traditionen, in denen sie arbeitet, und ihr Buch bietet eine großartige Einführung in die Werke unter anderen von Angela Davis und James Baldwin. Ausgehend von der Überzeugung, dass niemand frei ist bis alle frei sind, plädiert Dabiri für eine Solidarität, die auf Koalitionen zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Überzeugungen und Zielen basiert.

Sprache und Sein von Kübra Gümüşay ist ein anregendes Pendant zu Was weiße Menschen jetzt tun können. Es liest sich zwar leichter als Dabiris dicht gewobener Text, aber Sprache und Sein ist genauso gut recherchiert und zitiert die Kontexte und Gespräche aus denen es entsteht.

Gümüşay fängt an, indem sie überlegt, wie Sprache unsere Wahrnehmung der Welt umrahmt (das Thema ist zwar nicht neu, aber besonders interessant aus der Perspektive der viersprachigen Autorin), bevor sie untersucht, wie unsere Gesellschaft aus den Benannten und Unbenannten besteht: „Die Unbenannten sind Menschen, deren Existenz nicht hinterfragt wird. Sie sind der Standard. Die Norm… Sie sind auch Benennende.” Die Benannten sind diejenigen, die von der Norm abweichen – People of Color zum Beispiel oder Menschen aus der LGBT-Gemeinschaft – und Gümüşay dokumentiert, wie denn Benannten die Individualität wiederholt abgesprochen wird, da die Gesellschaft erwartet, dass sie als Vertreter*innen ihrer Gemeinschaften fungieren. Bewegend spricht sie darüber, wie sie und ihre Freundinnen in den Medien, bei der Arbeit und auf der Straße als Kopftuchträgerinnen reduziert werden, wie das ihre Selbstwahrnehmung begrenzt und wie ermüdend es ist, ihre Identität und Entscheidungen ständig zu rechtfertigen.

Darauf aufbauend richtet Gümüşay ihren Blick auf den Aufstieg von rechtsextremen Parteien im Westen. „Wer wissen möchte, welche Herausforderungen auf uns alle warten,“ erzählt sie der Leserin, „der sollte jenen genau zuhören, die in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Architektur schon jetzt die Leidtragenden sind.“ Während sie untersucht, wie die Themen des öffentlichen Diskurses immer mehr von rechten Gruppen bestimmt wird, plädiert sie dafür, dass wir aufhören müssen, auf die Provokationen von Rechtsextremen zu reagieren. “Unsere Empörung [ist] ihre Währung”, warnt sie: „Wir müssen … stattdessen die Themen und Fragestellungen auf die Tagesordnung setzen, die uns als Gesellschaft voranbringen.“ Es ist eine zeitgerechte und wichtige Mahnung.

Sprache und Sein beschäftigt sich mit Fragen (Was heißt es? Was tun wir? Was wäre wenn?) und Gümüşay gibt zu, dass sie keine endgültigen Antworten hat. Was sie aber vorschlägt, ist eine neue Art zu sprechen und zuzuhören, eine Art, die auch Raum für Kritik, Fehler und Veränderungen in sich hat: „zweifelnd, nachdenklich, hinterfragend, mal laut, mal leise – und immer mit Wohlwollen.“
 

Über die Autorin

Annie Rutherford macht Sachen mit Wörtern, und verfechtet übersetzte Literatur aller Arten. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Veranstalterin, und recherchiert im Moment die Möglichkeit, eine Residenz für Schriftsteller*innen im Exil in Edinburgh zu etablieren. Sie  leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.


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