November 2022
Arno Camenisch: Hinter dem Bahnhof

Bucheinband: Hinter dem Bahnhof
© Dalkey Archive Press

Wenn Wioletta Gregs Erzählung Unreife Früchte dich in ihren Bann gezogen hat, solltest du Arno Camenischs Hinter dem Bahnhof deiner Leseliste hinzufügen.

Wioletta Gregs unvergessliches Unreife Früchte (übersetzt von Renate Schmidgall) ist zum Maßstab meines Buchclubs geworden. „Es erinnert mich ein bisschen an diese Erzählung“ wird alle paar Monate jemand sagen, oder „erinnerst du dich daran?“. Unreife Früchte, in Eliza Marciniaks englischer Übersetzung für den International Man Booker nominiert, skizziert das Erwachsenwerden eines jungen Mädchens im ländlichen Polen in einem Stil, der lineare Struktur vermeidet, um vielmehr in einzelne Szenen und Momente einzutauchen und den Fokus auf manchmal unheimliche Details zurichten.

Auch Arno Camenisch scheint einen vergleichbaren Ansatz in Hinter dem Bahnhof zu verfolgen. Obgleich der Titel als zweiter Teil von Camenischs Alpen Trilogie beschrieben wird, steht die Erzählung der Heldentaten eines kleinen Jungen und seines Bruders über den Zeitraum eines Jahres für sich. Die Brüder leben in einem kleinen Dorf (41­ oder 42? Menschen, 25 Häuser, 16 Kühlschränke) in der ländlichen Schweiz und während das Jahr voranschreitet, können wir beobachten, wie sie sich um ihre Stoffhasen kümmern, die Nachbarn zur Weißglut treiben oder ihre Großeltern im Krankenhaus besuchen. Genau wie in Unreife Früchte wird es zur Aufgabe der Lesenden, die bruchstückhaften, absatzlangen Segmente, die die Erzählung Stück für Stück entfaltet, zu Szenen zusammenzusetzten.

Manchmal entsteht dabei Verwirrung, besonders dann, wenn Camenisch entscheidet, scheinbar bedeutsame oder unvollendete Handlungsstränge nicht wieder aufzugreifen,­ etwa wenn wir die Kinder dabei beobachten, wie sie mit Nägeln Bilder in den Lack der Soldatenautos ritzen oder wenn der ältere Bruder beinahe im Eisbach ertrinkt. Der fragmentarische Erzählstil vermag es hingegen besonders gut, die Schilderungen einer kindlichen Perspektive zuzuordnen, so erschließt sich der Gesamtkontext des Erwachsenengeschehens den beiden Brüdern oftmals nicht. Darüber hinaus erinnert die Erzählweise an die Beschaffenheit von Kindheitserinnerungen und die Dominanz einzelner Momente, die sich im Älterwerden deutlicher hervorheben als andere. Hinter dem Bahnhof wird so zu einem Buch, in das immer wieder punktiert hineingelesen werden kann und das nicht am Stück verschlungen wird, sondern zu dem man vielmehr beständig zurückkehren möchte.

Mir persönlich hat es besonders Donal McLaughlins Übersetzung von Camenischs Prosa angetan. Die Protagonisten leben in einem Dorf, in dem hauptsächlich Romantsch, die vierte Schweizer Amtssprache, gesprochen wird, welche Camenisch in seiner Erzählung ebenso wie das Schweizerdeutsche miteinfließen lässt. McLaughlin übersetzt das Romantsch mit einem gelegentlichen Glanz ins Englische, wobei er Passagen, die im Original im Schweizerdeutschen verfasst sind, an die eigene schottische Heimat anlehnt. Das Ergebnis ist eine wunderbar mehrsprachige Übersetzung mit starkem Ortsbewusstsein.

Über die Autorin

Annie Rutherford macht Sachen mit Wörtern, und verfechtet übersetzte Literatur aller Arten. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Veranstalterin, und recherchiert im Moment die Möglichkeit, eine Residenz für Schriftsteller*innen im Exil in Edinburgh zu etablieren. Sie  leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.

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Onleihe: Leihen Sie sich den deutschen Originaltitel als Hörbuch Hinter dem Bahnhof digital aus.

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