Berlinale-Blogger*innen 2021
Ins Kino übertragene sensible Erfahrungen der Gewinner der Berlinale Shorts

„Day Is Done“ von Zhang Dalei, Section: Berlinale Shorts 2021
„Day Is Done“ von Zhang Dalei, Section: Berlinale Shorts 2021 | Foto (Deteil): © RENCai

Wie jedes Jahr präsentierte der Kurzfilmwettbewerb Berlinale Shorts bei den diesjährigen Berliner Filmfestspielen ein Filmprogramm mit unterschiedlichen Themen und einer unverwechselbaren Filmsprache. In den Werken der diesjährigen Gewinner wurden die Erfahrungen der Produzenten selbst ins Kino übertragen. In den mit dem Silbernen und dem Goldenen Bären ausgezeichneten Kurzfilmen werden der melancholische Sommerausklang und die unter einem idyllischen Familienporträt verborgenen Kindheitstraumata dargestellt.

 

Von Ieva Šukytė

Ein ganz gewöhnlicher Sommertag

Xiao Lei (Kong Weiyi) macht sich zusammen mit seinen Eltern und seinem Onkel auf den Weg, um seinen Großvater zu besuchen. Es ist ein warmer Sommertag, auf den Straßen der Stadt sind patriotische, politische Lieder zu hören. Der junge Mann beobachtet Gebäude, an denen sie vorbeifahren, und seine Familie spricht währenddessen über die ehemalige Sowjetunion und Russland. Auf den ersten Blick scheint es ein gewöhnliches Familientreffen zu sein. Tatsächlich wird diese Reise zu Xiao Leis Abschied von seinem Großvater, bevor er nach St. Petersburg aufbricht, um Film zu studieren.
 
Der Kurzspielfilm Day Is Done des chinesischen Regisseurs Zhang Dalei, der in der Sektion Berlinale Shorts mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, setzt die Geschichte seines Langfilmdebüts The Sommer Is Gone („Ba yue“, 2016) über dieselbe Familie nach sechs Jahren fort. Basierend auf den eigenen Jugenderinnerungen (Zhang Dalei hat auch in St. Petersburg studiert) schildert Day Is Done das alltägliche Familienleben, in dem nichts Besonderes passiert, die Gefühle und Zustände der Darsteller werden jedoch durch kleine Handlungen offenbart. Im Film, gedreht wie „ein Traum des ausklingenden Sommers“, liegt Melancholie in der Luft, als würde der Regisseur seine eigenen Gefühle über seine letzten Tage in seiner Heimat als Teenager durch die Leinwand vermitteln. Verspeiste Wassermelonen und ihre Reste, Familienmitglieder, die sich zum Nachmittagsschlaf hingelegt haben, ein Familienalbum, in dem der junge Mann blättert – all das sind einfache Bilder, die lange in der Erinnerung Xiao Leis und seines Großvaters (Li Xuejian) als ihre letzten gemeinsamen Augenblicke bleiben. Der Großvater des Teenagers schaut sich den von seinem Enkel gedrehten zweistündigen Film an, er sieht in ihm eigentlich wenig anderes als nachts vorbeifahrende Autos, und trotzdem ist es ihm wichtig, sich Xiao Leis Werk anzuschauen.
 
„Nächstes Jahr, wenn die Aprikosen reif sind, wird Xiao Lei zurückkehren?“, fragt der Großvater. Nachdem er seinen Enkel und seine Eltern zur Tür begleitet und verabschiedet hat, steht er lange mit dem Rücken zur Kamera, bis die Gäste am Horizont verschwinden. Wir sehen das Gesicht des älteren Mannes nicht, in seinem schwachen Seufzer hören wir jedoch Schwermut. Vielleicht war dies das letzte Mal, dass sie zusammen waren.

Ein Trauma bewältigen

Wie im letzten Jahr ging der Goldene Bär der Berlinale Shorts auch in diesem Jahr an einen Dokumentarfilm. Die in Moldau geborene Regisseurin Olga Lucovnicova kehrt in dem äußerst intimen Film My Uncle Tudor in das Sommerhaus ihrer Kindheit zurück, in dem sie viel Zeit mit den dort lebenden Mitgliedern ihrer Familie verbracht hat.
„My Uncle Tudor“ von Olga Lucovnicova, Section: Berlinale Shorts 2021
„My Uncle Tudor“ von Olga Lucovnicova, Section: Berlinale Shorts 2021 | Foto: © Olga Lucovnicova
Olgas Mutter und ihre Tanten schauen sich alte Fotos an und teilen ihre Erinnerungen, wir sehen Archivbilder ihrer Kindheit, die Großmutter erinnert sich an den Geburtstag ihrer Enkelin. Der Film wirkt zunächst wie ein Spaziergang der Regisseurin durch ihre Kindheitserinnerungen, doch dann nimmt er eine andere Wendung, als Olga beginnt, ihrem Onkel Tudor Fragen zu stellen. Im Sommer, als alle Familienmitglieder aufs Feld gegangen sind, ist sie alleine mit ihrem Onkel geblieben, der an Herzschmerzen litt. „Du hast mich ausgezogen“, sagt die Regisseurin hinter den Kulissen. „Nicht ich, du hast dich ausgezogen“, widerspricht ihr Onkel, der nicht das Gefühl hat, etwas falsch gemacht zu haben. Stück für Stück kommen durch Olgas Fragen mehr Details ans Tageslicht, wie ihr Onkel sie als Kind heimlich missbraucht hatte. Die Kamera der Regisseurin erfasst das Gespräch der beiden nicht direkt. Sie bewegt sich langsam durchs Haus, erwischt den Onkel beim Schlafen. Sie entdeckt Spinnen, die ihre Netze am Fenster bauen und zur Allegorie ihrer Beziehung zu Tudor werden – ein von der Spinne gefangenes Opfer, das dem Raubtier nicht entkommen kann. Die poetische Filmsprache der Autorin und das ruhige, auf den ersten Blick gewöhnliche Gespräche mit der Familie stehen im Kontrast zu Olgas schrecklichem Kindheitstrauma. Einige Familienmitglieder, die das perfekte Familienporträt als Deckmantel benutzen, missbilligen bisher den Film der Regisseurin, die ihren inneren Schrecken enthüllt hat. Für die Autorin selbst ist der Film jedoch ein äußerst wichtiges Werk, die Konfrontation von ihrem Kindheitstrauma und demjenigen, der es zu verantworten hat.

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