Toni Erdmann
Mein geliebter Feind

Toni Erdmann
© Komplizen Film

Winfried Conradi ist ein alleinstehender Rentner. Er ist seit Jahren geschieden und hat praktisch keinen Kontakt mehr zu seiner Tochter. Als er während eines Familientreffens bemerkt, dass Ines sich nicht für einen Moment von ihrem Diensthandy trennen kann, beschließt er, etwas zu tun.

Und hier folgt die erste Überraschung. Winfried ist keineswegs ein netter älterer Herr, der mit einer Träne im Auge darum kämpft, sein familiäres Patchwork zu kitten. Er ist ein unbequemer Mensch, dessen größte Leidenschaft darin besteht, anderen Streiche zu spielen. Auf Englisch nennt man solche Menschen „Prankster“ - also ein Schelm oder ein Witzbold, aber auch ein boshafter Mensch. Jemand, der sich gern auf Kosten anderer amüsiert und extreme Emotionen hervorruft – auch negative, wie Angst, Scham oder Wut. Bereits nach wenigen Minuten erkennen wir mit Leichtigkeit, warum Winfrieds Ehe gescheitert ist und warum seine Tochter alles tut, um den Kontakt mit ihrem Vater auf ein gesellschaftlich akzeptiertes Minimum zu reduzieren. Und hier folgt die zweite Überraschung.

Obwohl Ines auf den ersten Blick als eine typische, eiskalte Karrieristin erscheint, ist sie doch eine zumindest doppeldeutige Figur. Sie ist clever, intelligent und vital und stellt der Naivität ihres Vaters einen zwar bitteren, aber doch treffenden Scharfsinn entgegen. Rasch wird deutlich, dass Ines' Charakter und ihr Lebensentwurf in großem Maße das Ergebnis der besonderen Umstände ihrer Kindheit sind. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der nichts im Leben wirklich ernst nimmt, hat sie sich zu einem Menschen entwickelt, der alles ernst nimmt, vor allem jene Aspekte des Lebens, die sie selbst beeinflussen kann: ihren Job, ihre Karriere und ihr Einkommen.

Dieser Partitur folgend vollzieht sich der nächste Akt der Tragikomödie: Der verschrobene Papa reist seiner Tochter in das „exotische“ Rumänien nach, um ihr das Berufsleben zur Hölle zu machen. Als exzentrischer Geschäftsmann Toni Erdmann, mit Perücke und falschen Zähnen, verfolgt er Ines auf Schritt und Tritt, sabotiert ihre Geschäftsbesprechungen, furzt in Gegenwart ihrer Vorgesetzten, flirtet ungehemmt mit ihren Kolleginnen – mit einem Wort, er tut alles, um Ines' berufliches Korsett ein wenig zu lockern. Man kann sich fragen, ob die von ihm gewählte Methode wirklich angemessen ist. Dass sie wirksam ist, scheint unbestreitbar. Doch wird sie bei Ines auch zu der gewünschten Katharsis führen? Und ist dies wirklich der Sinn der Liebe zu einem Kind? Und wenn nicht, was dann?

Ein Jahr im Schneideraum

Maren Ade, die den polnischen Kinozuschauern bereits durch ihre Tragikomödie „Alle anderen“ bekannt ist, hat mit „Toni Erdmann“ ihr bisher ambitioniertestes Werk abgeliefert. Auch was den zeitlichen und materiellen Aufwand betrifft: Fast ein ganzes Jahr war Ade damit beschäftigt, die über 120 Stunden (!) Filmmaterial zusammenzuschneiden. Das Schreiben des Drehbuchs und die Vorbereitung der Produktion erforderten nicht weniger Kraft und Geduld.

Die Figur Winfrieds basiert lose auf Maren Ades eigenem Vater, der ebenfalls gern ein falsches Gebiss benutzt und alle möglichen Streiche spielt. Die beiden Hauptrollen wurden – perfekt! – mit Peter Simonischek als Winfried Conradi/ Toni Erdmann und Sandra Hüller als Ines Conradi besetzt. Beide liefern schauspielerische Glanzleistungen ab und verleihen ihren Rollen eine Authentizität, die entgegen allem Anschein nur schwer auf der Leinwand zu erreichen ist: Die von ihnen dargestellten Figuren sind Menschen aus Fleisch und Blut, mit ihren eigenen Vorzügen und Schwächen.


Vor allem jedoch ist „Toni Erdmann“ ein zeitgenössisches Meisterwerk, ein Film, über den man kaum sprechen kann, ohne in Entzückung zu geraten. Ein Film, der, wie jedes bedeutende Kunstwerk, viele Interpretationen zulässt, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Auf der ersten, offensichtlichsten Ebene ist „Toni Erdmann“ eine Geschichte über die Beziehung zwischen einem Vater und einer Tochter, oder, in weiterem Sinne, zwischen Eltern und Kindern. Eine scharfsichtige, bittere Analyse eines bekannten psychologischen Prinzips: Wir tun alles, um nicht so zu werden wie unsere Eltern, und stellen am Ende doch erschrocken fest, wie sehr wir ihnen ähneln. Winfrieds aberwitziger Überfall auf das Leben seiner Tochter, einer – wie sich zeigt – ihm fremden Person, bietet eine wunderbare Gelegenheit, die Emotionen zu zeigen, die zwischen den beiden immer wieder aufflammen: von Verblüffung über Demütigung, Wut, Resignation, Gleichgültigkeit und Rührung bis hin zu etwas, das wir als eine melancholische Lebensweisheit bezeichnen könnten. Das Erkennen eines anderen Menschen ist ein schmerzhafter Prozess, und die resultierenden Erkenntnisse sind nicht zwangsläufig Wahrheiten des Typs Entweder-Oder. Dies ist die persönlichste, intimste Ebene des Films, und wahrscheinlich werden die meisten (vielleicht sogar alle) Zuschauer hier Bezüge zu ihren eigenen „familiären Kämpfen“ und den eigentümlichen Reflexionen, die diese in der Regel begleiten, finden.


Im rumänischen Exil

Auf der zweiten Ebene ist „Toni Erdmann“ eine Analyse der allgemeinen Globalisierung und ihrer Folgen. An dieser Stelle gebührt der Regisseurin ein großes Lob, denn es wäre am einfachsten gewesen, die Geschichte ins ferne Asien zu verlegen und sich auf soziale Ungleichheiten zu konzentrieren. Stattdessen lässt Maren Ade die Handlung in Rumänien spielen.

Dies ist einerseits ein cineastischer Fingerzeig: Das rumänische Kino feiert seit nunmehr über einem Jahrzehnt Triumphe und gilt als eines der besten der Welt. Einer seiner bekanntesten Vertreter ist der großartige Vlad Ivanov (der bedrohliche Herr Bebe aus „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“), der in Maren Ades Film in einer Nebenrolle zu sehen ist. Andererseits ist Rumänien ein schmerzhaftes Beispiel für das „Europa der zwei Geschwindigkeiten“. Das Land gehört zwar zur Europäischen Union, ist jedoch in vielerlei Hinsicht Lichtjahre von ihr entfernt. Ines, die zur höheren Kaste der Geschäftswelt gehört, ist sich dessen völlig bewusst. Sie betrachtet ihren Aufenthalt in Rumänien als eine Art Exil, ein Sprungbrett für die erhoffte Beförderung und Versetzung nach Singapur. Sie profitiert von ihrer beruflichen Überlegenheit und balanciert irgendwo zwischen dem Status einer typischen mobbenden Chefin und einer Art Gottheit für ihre jungen Untergebenen. Ein moderner Kolonialismus?

Doch selbstverständlich ist „Toni Erdmann“ auch eine bissige Satire auf die Welt des Big Business, mit all seinen typischen Attributen, seiner patriarchalen Struktur und zahlreichen Hinweisen darauf, dass junge Frauen, und seien sie noch so ehrgeizig, für ihre Chefs doch in erster Linie junge Frauen bleiben. Sobald sie ihre Schuldigkeit getan haben, können sie wieder gehen.

Damit das Ganze nicht zu ernst wird, sei unbedingt hinzugefügt, dass „Toni Erdmann“ eine der besten Komödien der vergangenen Jahre und wahrscheinlich der lustigste Film in der Geschichte des deutschen Kinos ist. Eine wunderbare Mischung aus Ernst und Albernheit, Lachen und Rührung. Maren Ade verbindet all diese Elemente auf so gekonnte Weise, dass einem nach dem Ende der Vorführung nichts anderes übrig bleibt, als aufzustehen und zu applaudieren. Dazu kommt, dass der Film beim Zuschauer ein heutzutage äußerst seltenes Gefühl erzeugt, das Bewusstsein, es mit etwas zu tun zu haben, das er so noch sie gesehen hat. Eben darin besteht die größte Kunst des Films: eine Geschichte aus allgemein bekannten Elementen zusammenzusetzen, jedoch auf eine Art und Weise, auf die bisher niemand gekommen ist.
 
Toni Erdmann (Toni Erdmann)
Deutschland 2016
Regie: Maren Ade
Verleih: NFP Marketing & Distribution (in Polen: Gutek Film)
Polnische Premiere: 27. Januar 2017