Migrantenliteratur
Schreiben mit Akzent - Erweiterung der Sprache

Migranten gehören zur neuen deutschen Literatur
Migranten gehören zur neuen deutschen Literatur | © Getty Images/Neil Guegan

In deutscher Sprache erzählende Autoren mit Migrationshintergrund haben die deutsche Gegenwartsliteratur verändert. Viele davon sind inzwischen ins Norwegische übersetzt.

Auf dem Norwegischen Literaturfestival in Lillehammer hatten norwegische Leser die Gelegenheit, Deutschlands jüngste literarische Sensation kennen zu lernen: Katja Petrowskaja. In Vielleicht Esther – einem Buch, das sich jeglicher Genreverortung entzieht – schildert sie die Suche nach der Geschichte ihrer jüdisch-ukrainischen Familie. Petrowskaja besucht das Konzentrationslager Mauthausen, reist von Babij Jar am Stadtrande Kiews nach Warschau, Berlin und Moskau. Dort bewahrt sie nicht allein ihre Familienmitglieder vor dem Vergessen, sondern auch einen Teil europäischer Geschichte des 20. Jahrhunderts. „Erinnerungskunst in Bestform“, nannte Morgenbladet das Buch in einer der ersten norwegischen Rezensionen.
Petrowskaja steht an der Spitze einer Reihe von zugewanderten, jedoch auf Deutsch schreibenden Autoren – sogenannten Sprachwechslern –, welche die deutsche Literaturszene seit der Jahrtausendwende geprägt, wenn nicht gar manchmal dominiert haben. 1970 in Kiew geboren und mit der russischen Muttersprache aufgewachsen, begann sie erst im Jahr 1999 nach ihrem Umzug nach Berlin auf Deutsch zu schreiben.
Für einen Auszug aus Vielleicht Esther wurde die Autorin im Herbst 2013 mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet. „Schon jetzt ist die deutsche Gegenwartsliteratur um eine kluge, flamboyante und höchst eigenständige Stimme reicher“, konstatierte Die Zeit.
Von der deutschen Kritik wurde das Buch bei seinem Erscheinen im Winter 2014 mit einhelliger Begeisterung aufgenommen. Besondere Anerkennung zollte man dabei nicht zuletzt Petrowskajas Sprache, „einem russischen, einem jiddischen, einem ukrainischen Deutsch, (…) einem leichten und hellen, einem melancholischen und traurigen Deutsch, das einem vertraut und fremd zugleich erscheint“, wie es in einer der zahlreichen Jury-Laudationes an die Autorin hieß.
Die österreichische Literaturkritikerin Sigrid Löffler, die in ihrem Buch Die neue Weltliteratur (2014) die bedeutendste Migrationsliteratur der Nachkriegszeit bis heute porträtiert, beschreibt das Schaffen von in deutscher Sprache schreibenden Nichtmuttersprachlern wie Petrowskaja als „Schreiben mit Akzent“. Gemeint ist, dass die Autoren im Laufe des Spracherwerbs die Sprache ändern und anpassen, gar die Bedeutung einzelner Wörter erweitern. Auf diese Weise erfährt die Sprache eine Erneuerung. Fast meint man, in Petrowskajas Sätzen ihren langwierigen Kampf um das Erlernen der deutschen Sprache spüren zu können - einen Kampf, der schließlich triumphal in einer höchst originellen literarischen Ausdrucksweise resultierte.

Von Višegrad in die Uckermark

Ein weiterer Autor, den wir 2015 in Norwegen begrüßen dürfen, ist der bosnisch-deutsche Saša Stanišić. Stanišić wurde 1978 in Višegrad im ehemaligen Jugoslawien geboren und floh während der Balkankriege Anfang der 90er Jahre mit seinen Eltern nach Deutschland. Sein Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006, 2009 auf Norwegisch erschienen) ist stark von der eigenen Lebensgeschichte inspiriert.
Protagonist Alexander wächst in Višegrad auf und ist ein Meister des Geschichtenerzählens. Als der Krieg seine Familie zur Flucht zwingt, nutzt er seine lebhafte Vorstellungskraft, um die neue Heimat mit allem auszustatten, was er benötigt, um sich zu Hause zu fühlen. Nicht zuletzt gebraucht er seine Fantasie, um die Erinnerungen an den Krieg zu verdrängen. Als Erwachsener muss er jedoch erkennen, dass die Grausamkeiten des Krieges selbst die wildesten Fantasien übersteigen.
Auch in Stanišićs zweitem Roman Vor dem Fest, der im September 2015 auf Norwegisch erscheinen wird, geht es um das Erzählen von Geschichten. Diesmal entführt Stanišić den Leser in die tiefste deutsche Provinz. Im fiktiven Dorf Fürstenfelde bereiten sich die Einwohner auf das jährliche Annen-Fest vor, das dort bereits seit dem Mittelalter gefeiert wird. Unter all den Orts-Originalen treffen wir die 89-jährige Künstlerin Frau Kranz, die das Dorf erstmals so malen soll, wie es bei Nacht aussieht, oder den pensionierten Oberst Herrn Schramm, der sich nicht entscheiden kann, ob er mehr Zigaretten kaufen oder sich doch lieber die Kugel geben soll. Sie alle haben einen Auftrag, der bis zum Ende der Nacht vollbracht sein muss.
Obgleich das Geschehen in der Uckermark im ostdeutschen Inland angesiedelt ist, klingt in Stanišićs Stil etwas Feuriges, Virtuoses und Balkantypisches mit. Einen festen Erzähler gibt es im Buch nicht; vielmehr ist es Fürstenfelde selbst, das erzählt, ein kollektives Wir. Stanišić changiert zwischen dem Grotesken und dem Realistischen, dem Vertrauten und dem Fabulierenden. Er ist ein Meister darin, Gerüche, Geräusche, Farben zu vermitteln – ob aus der Perspektive des verbitterten Wirtes Ulli oder der Füchsin, die im Hühnerhof Eier sucht.
Der Sprung von der Kindheit im Balkan zur deutschen Einöde ist groß und Migration in Vor dem Fest eigentlich kein Thema. Damit verleiht Stanišić einem internationalen Trend Ausdruck. Löffler zufolge zeichnet sich die jüngste Generation von Migrationsautoren dadurch aus, dass sie loslösen vom traditionellen Fokus auf die Spaltung von Zentrum und Peripherie, Nationalstaat und Identität, Kolonialmacht und Kolonialisierten.

Auf dem Weg nach Mitteleuropa

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron in Ungarn geboren, wo sie als Teil der deutschen Minderheit aufwuchs. Sie gehört – mit anderen Worten – nicht zur Gruppe der Sprachwechsler, also jenen, die Deutsch neu erlernen mussten. Doch durch ihren Umzug nach Berlin wurde auch sie 1990 zur Migrantin. In einer Novellensammlung und drei Romanen thematisiert Mora den europäischen Identitätsverlust nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Ihr Romandebüt Alle Tage (2004) erzählt von dem Übersetzer Abel Nema. Sein fiktives Heimatland wird in fünf neue aufgespalten, und keinem davon fühlt er sich zugehörig. Ohne Pass und ohne Heimatland fährt er durch die fünf Staaten, um mehr von einer Welt zu begreifen, die ihm fremd geworden ist. Nema (der Name kann in den slawischen Sprachen sowohl „stumm“ als auch „hat nicht“ und „gibt kein“ bedeuten) beherrscht zwölf Sprachen, doch hat aufgehört, zu reden.
Auch in Moras letztem Roman, Das Ungeheuer (2013), begleiten wir einen leidgeprüften Mann auf seiner Reise. Karrierejäger und IT-Consultant Darius Kopp durchlebt eine Tragödie, als sich Flora, die Liebe seines Lebens, das Leben nimmt. Flora hatte Darius zwar im vergangenen Herbst verlassen, als jener in den Unruhen der Finanzkrise seinen Job verlor. Doch als Darius die Übersetzungen von Floras ungarischen Tagebüchern liest, muss er feststellen, dass diese ein Doppelleben geführt hat.
Darius setzt sich ins Auto und steuert auf Budapest zu, um Flora besser zu verstehen – und um herauszufinden, warum er nicht vor ihrem Tod erkennen konnte, wer sie war. Auch der Leser kann sich darin versuchen, Flora zu verstehen: Jede Seite in Moras 700 Seiten umfassenden Werk wird durch einen dicken schwarzen Strich zweigeteilt. Unterm Strich finden wir Floras Tagebuch, darüber die Erzählung von Darius. Der schwarze Strich symbolisiert, wie zwei Menschen, die zusammen leben, einander doch nie vollständig durchdringen können; immer werden sie zwei Individuen mit unterschiedlichen Lebenshintergründen bleiben.
Das Ungeheuer ist eine mitreißende und schmerzliche Lektüre, eine Liebesgeschichte und gleichzeitig ein existenzieller Roman, verfasst in einer originellen und behutsam modellierten Sprache. „[E]in tief bewegender und zeitdiagnostischer Roman“, urteilte die Jury, als Mora 2013 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Stimmen aus Georgien

Die diesjährige Liste von Übersetzungen vom Deutschen ins Norwegische sollte eigentlich einen weiteren Namen umfassen: Nino Haratischwili. Die in Hamburg lebende Theaterregisseurin und Autorin, geboren 1983 im georgischen Tbilisi, veröffentlichte bereits als 18-jährige ihr Romandebut und wurde 2007 für ihr Werk Julia erstmals für den deutschen Buchpreis nominiert. Im Herbst 2014 gelang ihr mit dem Familienroman Das achte Leben. Für Brilka der Durchbruch.
Darin zeichnet Haratischwili ein ebenso farbenreiches wie faszinierendes Portrait von acht Georgiern – zumeist Frauen – und der Geschichte Europas, betrachtet von Tbilisi, Moskau und Berlin aus. Sowohl die Frankfurter Allgemeine Zeitung als auch Der Spiegel kürten das Buch zum „Roman des Jahres“, die Frankfurter Rundschau sprach indes von einem „Meisterwerk“. Mit seinen 1280 Seiten ist Das achte Leben allerdings so umfangreich, dass Verlage es sich mehrmals durch den Kopf gehen lassen, bevor sie sich um die Übersetzungsrechte bemühen.
Mehr noch als eine Erneuerin der Sprache ist Haratischwili eine begnadete Geschichtenerzählerin. Sie beherrscht das große Format, ohne dabei den Leser aus den Augen zu verlieren, der ein wenig Hilfe benötigt, um die Übersicht über all die Personen und Handlungsstränge zu bewahren. Unter den zahlreichen begeisterten Lesern findet sich auch Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der im Februar 2015 in einem Gespräch auf einer Konferenz unter der Leitung des Goethe-Instituts Folgendes verlauten ließ:
„Ihr Roman ebenso wie der von Katja Petrowskaja und der von Olga Grjasnowa haben mir die Augen geöffnet dafür, wie eng wir in Europa mit einander verwoben sind, wie sehr das Gebiet von Tiflis über Lemberg, Petersburg und Berlin eben auch ein Erinnerungsraum ist; wie Denkweisen und Gefühle über Generationen geprägt werden und wie behutsam wir mit diesen Verbindungslinien umzugehen haben.“
Der Name Petrowskaja ist mittlerweile bekannt, doch wer ist diese Grjasnowa?
Ein weiteres auf Deutsch schreibendes Autorentalent, geboren 1984 in Aserbaidschan und russische Muttersprachlerin, seit 2012 gefeierte deutsche Romanautorin. Ihr Debüt Der Russe ist einer, der Birken liebt wurde in über 20 Sprachen übersetzt und avancierte in Schweden zum Bestseller. Der Nachfolger Die juristische Unschärfe einer Ehe erschien 2014. Nun bleibt abzuwarten, wann uns der Roman auch auf Norwegisch vorliegen wird.