Interview mit Terézia Mora
„Ich habe wenig Berührungsängste“

Im Grunde bist du aufgefordert, dich selber zu strukturieren. Das ist keine Aufgabe, die du nicht meistern kannst, sagt die deutsch-ungarische Schriftstellerin TERÉZIA MORA.

Das Schloss Orth mit dem Naturpark Donaue liegt ausserhalb Wiens. Terézia Mora ist 90 Minuten von ihrem ungarischen Urlaubsort zu unserem Interview gefahren. Landwirtschaftliche Fahrzeuge vor ihr sorgten für eine 15 minütige Verspätung. ”Ich habe die gleichen Schuhe”, eröffnet sie unser Gespräch, mit Blick auf meine schwarzen Ballerinas. Die sind – genau wie Mora – tatsächlich aus Berlin. Vor dem Interview würde sie am liebsten mit mir und dem Fotografen erst einmal einen Eiscafé trinken. Im Café des Naturparks sitzt außer uns keiner. So erzählen wir über Gott und die Welt. Mit mütterlichem Stolz zeigt  sie mir ein Bild ihrer  6jährigen Tochter Isabel. Eigentlich sollte die mit ihrem Vater, Moras Ehemann, mit  nach Orth kommen, um sich den Park anzuschauen, doch wollte dann doch nicht. Nach dem Kaffe geleite ich Mora zum vorher entdeckten lauschigen Platz, mitten in den verschlungenen, von wilder Botanik bewachsenden Pfaden des Naturparks – ein Idyll, das an diesem Freitag in den Sommerferien kaum von Urlaubern, dafür aber von umso mehr winzigen Mücken bevölkert ist. Mora murrt nicht, sondern nimmt auf der Holzbank Platz. Von Anfang an hat sie, die im November ins Goethe-Institut nach Oslo kommt, für ihr Schreiben Preise  gewonnen.

Sie reisen jedes Jahr nach Ungarn?

Ja, seitdem ich das Kind habe (Tochter Isabel, 6 Jahre) komme ich immer für den ganzen Sommer, damit sie ungarisch lernt und etwas Zeit auf dem Lande verbringen kann.  Für ein Kind ist das natürlich schön. Solange es die weite Welt nicht braucht, ist das gut. Aber ich gewöhne mich immer schwer wieder daran, an das Leben in der Großfamilie zum Beispiel. Es fehlt mir die Ruhe. Ich habe das Gefühl, mein  Gehirn verwandelt sich in so eine Art Cottage Cheese. Es ist unmöglich zu denken, sich zu konzentrieren, sich zu versenken. Das Leben hier ist so, dass ständig deine Grenzen verletzt werden.
 
In ihrer Kindheit gehörte die Zonengrenze zum Alltag. Ihre Biographie erschien mir speziell an der Stelle wie eine Erzählung, an der ich las, dass sich die Grenze zwischen Ost und West ausgerechnet mit Ihrer Volljährigkeit öffnete. Freiheit im Doppelpack sozusagen. Mit der Mündigkeit öffnete sich für sie zusätzlich eine neue geographische Weite.  Wie haben Sie diese Zeit der Wende erlebt?

Das Schöne war, dass ich mit 18 sofort erkennen konnte, was gerade geschah. Sie erkennen, dass jetzt ein historischer Wandel stattfindet, dass Sie Teil davon sind, und dass Sie sich in einer relativ günstigen Position befinden. Ich hatte gerade Abitur gemacht, für mich war klar, der Rest meiner Ausbildung oder meiner Studentenjahre, die ja ganz wichtig sind für einen Menschen, wird in einer anderen Welt stattfinden als alles, was bis jetzt war. Das ist eine Riesenmöglichkeit. 
  
Berlin, in das Sie 19jährig wegen Ihrem heutigen Mann zogen, hat – wie Sie es einmal formulierten – nicht sie aufgenommen, sondern Sie Berlin. Bitte beschreiben Sie uns diese Inkorporation genauer!

Habe ich das tatsächlich gesagt? Das sind diese Sachen, die man schlecht ganz erklären kann. Berlin ist einfach sehr bekömmlich für meine Gesundheit, für die geistige, die emotionelle und auch die physische. Das ist der Ort, wo mir das Leben am leichtesten fällt
 
Was ist das, das Sie sich dort so wohl fühlen?
Das ist total schwer zu sagen, es ist wohl das geistige Klima. Berlin ist eine sehr offene Stadt, es hat nicht so starre Strukturen. Es ist tatsächlich eine Mischung aus Ost und West. Und es ist eine billige Großstadt. Man kann klarkommen, man kann sich durchwursteln. Es ist eben nicht so übergriffig, wie ich es vorher gewohnt war. Die Kontrolle in der Gemeinschaft ist nicht so stark.
 
Sie meinen dieses ”Leben und leben lassen”?
Ja, genau. Das Interesse an einem ist gering. Das mag ich. Die gehobenen Kreise in der Stadt bestimmen nicht über das Leben dort. Ich glaube, die Berliner haben so eine Art eingebauten Snob-Alarm.
 
Der für manche altmodisch klingende Begriff der Heimat ist nicht mehr zwingend an den Ort der Herkunft gebunden. Menschen verlassen ihren Geburtsort und nehmen auf der Suche nach einem besseren Leben große Anstrengungen auf sich. Ihre Helden sind auf vielerlei Weise Entwurzelte, die von einer für mich sehr berührenden Tapferkeit angetrieben werden.  Was gibt ihnen trotz aller Zerrissenheit diese Zähigkeit?
 
Ich glaube schon, dass der Mensch als solcher relativ zäh ist.  Ich glaube, dass uns das allen innewohnt, dass wir es schaffen wollen, und dass wir am Ende besser dastehen wollen als am Anfang. Im Grunde wollen die wenigsten von uns wirklich aufgeben. Eine dieser wenigen ist  Flora (Romanfigur, die sich am Ende des 1.Teils der Trilogie ”Der letzte Mann auf dem Kontinent” das Leben nimmt.), sie will ab einem bestimmten  Zeitpunkt aufgeben. Und es ist gar nicht so einfach aufzugeben, wie man sieht, wenn man die Bücher liest. Sie arbeitet hart daran, aufgeben zu können und endlich zu sterben. Man möchte meinen, dass sei doch ganz einfach,  sich auf den Boden fallen zu lassen und zu sterben. Aber es ist überhaupt nicht einfach und man muss sowohl seinen Körper als auch seine Seele in einen Zustand bringen, in dem man sich nicht mehr retten kann. Während Darius Kopp (Der Protagonist) tatsächlich das Glück hat, als Stehaufmännchen geboren worden zu sein. Er hat keine besonderen Talente, ist nicht besonders fleißig. Er ist nicht besonders bewusst, usw. Aber ich glaube, er kann gar nichts anderes als glücklich sein, es schaffen und sich zu arrangieren. Ich glaube seine große Stärke ist es, sich mit Situationen abzufinden. Das kann eine sehr wertvolle Eigenschaft sein.
 
Für den zweiten Teil Ihrer Triologie ”Das Ungeheuer” haben Sie im vergangenen Jahr den Deutschen Buchpreis, den angesehensten Literaturpreis in Deutschland erhalten. Wir begleiten dem privat und beruflich gescheiterten IT-Vertreter für drahtlose Netzwerke Darius Kopp auf seiner Reise nach Ungarn und noch weiter. Seiner Frau Flora, die sich das Leben genommen hat, will er noch einmal nah sein. Er hat sie, die Liebe seines Lebens, nicht wirklich gekannt, ist das verzweifelte Resumée, das ihn auf dieser Roadmovie artigen Reise, auf vielerlei Weise beutelt. Am Ende verschrottet er seinen Wagen, mit dem er den abendländischen Kulturkreis abgefahren hat. Hat Darius Kopp etwas Essentielles auf dieser Reise gelernt, will sagen: Handelt es sich hier um einen Entwicklungsroman?
 
Wie essentiell es ist, stellt sich vielleicht im dritten Band heraus, der noch nicht geschrieben ist. Es ist eigentlich ein Vorwand, wenn er sagt: Ich will wissen, wer meine tote Frau war. Eigentlich will er ja aus der Sackgasse heraus kommen, in der er sich gerade befindet. Im Grunde fährt er los, um sich selbst kennen zu lernen und nicht sie. Natürlich gibt es auch den etwas hilflosen Versuch heraus zu finden: Warum bringt sich die Person, die du liebst, um? Wie kannst du nicht leben wollen, wo ich dir doch zu Füssen liege? Natürlich könnte man von vorne herein ahnen, dass man das nicht heraus finden kann. Es gibt diesen letzten Bereich, bevor eine Person diese endgültige Entscheidung trifft, da kannst du nicht mit ihr gehen. Da ist sie alleine. Du bleibst alleine zurück, und es ist schlimm genug, das zu ertragen. Es ist auch eine narzistische Kränkung, Darius Kopp äussert sich ja häufig, besonders am Anfang,  beleidigt und zornig darüber, dass sie im Grunde ein freier Mensch war, dass sie als solcher eine letzte Entscheidung getroffen hat. Sie hat ihn schon vorher aus ganz vielen Entscheidungen ausgeschlossen. Warum? Weil sie es konnte. Weil das so ist zwischen Menschen. Menschen haben Grenzen, die du nicht überschreiten kannst, auch nicht mit dem größten guten Willen, den du hast als Darius Kopp.
Er macht sich auf die Reise, um sich aus einer Lethargie zu befreien. Er weiß immerhin von sich, dass er alleine nicht wirklich in der Lage ist, Erkenntnisse zu erlangen. Zu Hause war er alleine. Also macht er sich auf den Weg, denn wenn du dich auf die Reise machst, wirst du anderen begegnen müssen. Er kann die Reise nur bewältigen unter Zur Hilfenahme von anderen, d.h. er macht sich im Grunde auf den Weg, um diese Helferfiguren zu finden.
Und dieses Gottvertrauen: Mir werden die begegnen, die mir weiter helfen. Und tatsächlich begegnen ihm unterwegs all diese Figuren. Schön langsam, so wie Darius Kopp ist, lernt er an jeder Station etwas über seine Frau, über die Trauer, über seine eigene Situation. Wie kommt man mit Traumata klar? Indem die Leute, die ihm begegnen, ihre eigenen Geschichten erzählen. Und du siehst, was es für andere Verhaltensweisen gibt, was es für andere Möglichkeiten gibt. Meine Lieblingskapitel sind, wo er in Griechenland diese Witwe trifft, Christina. Am Ende führen diese beiden ein Gespräch. Darius fragt sie: Hast du ihn tot mehr oder weniger geliebt. Sie sagt: Natürlich weniger, denn er war tot, und ich war am Leben mit drei Kindern.
Sie sagt ihm den wesentlichen Satz: Es verläuft eine Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. Das gibt ihm in Grunde den endgültigen Schubs und die Erkenntnis. Du kannst nicht den Weg in die Unterwelt finden als Lebender. Er lernt durchaus etwas. Er lernt z.B., dass er recht hatte von Anfang an, mit der Zelebrierung, der Bejahung des Lebens, dem Weitermachen und das Flora sich im Grunde geirrt hatte, bzw. ihre Lösung ist nicht seine.
 
”Die Welt ist voller Freaks, Wirklich. Voller Freaks. Und ich bin einer von ihnen”, sagt Darius Kopp im ersten Teil. Wenn ich Ihnen die soziologische Brille reiche – wie würden Sie einen Freak definieren?
 

Ich würde sagen, ein Freak ist jeder, der sich in irgend etwas verrennt.  Im Grunde ist jeder Prinzipienreiter ein Freak, weil alles, was du auf die Spitze treibst, dich in diesen Bereich des Exzentrischen, Dogmatischen und Unlebendigen bringt. Der Freak ist der Unlebendige. Jedenfalls in meiner Definition. Das ist im Grunde, der, an den du nicht mehr heran kommst. Das ist der Freak, wo du merkst, eine Diskussion hat keinen Sinn, der ist eingesperrt in seine Welt. Und das ist natürlich auch der Darius Kopp. Im zweiten Teil muss er diese Welt notgedrungen verlassen. Es ist ein wichtiger Einschnitt für den Menschen, wenn sich die Arbeit ändert (Anmerkung: Darius Kopp verliert am Ende des ersten Teils seinen Job.), die Art und Weise wie er seinen Lebensunterhalt verdient, wenn er seinen bis dahin genossenen Status verliert. In dem Moment, wo er nicht mehr ”Sales ingenieur für Osteuropa” ist und  kein Geld mehr hat, aus der Firma ausgeschlossen ist, muss er sich  ein neues Netzwerk suchen. Dann verliert er auch noch nach und nach seine ”Prothesen”, sein Handy z.B. und am Ende sogar sein Auto, dass er am Anfang so anpreist: ”Der Ort, an dem ich mich am sichersten fühlte, war immer schon mein Auto”. Da steht er nur noch als Darius Kopp da, und ich muss Ihnen sagen, ich mag ihn, wie er so dasteht, wenn er feststellen muss: Wenn all das weg fällt, bleibt nicht nichts übrig.
 
Dostojewski hat sinngemäß einmal gesagt ”Ausgehend von unbeschränkter Freiheit landen wir im grenzenlosen Chaos”. Hat das enorme Wirrwarr, durch das sich Darius Kopp schon vor Floras Suizid Tag für Tag hindurchwurschtelt für Sie etwas mit unerträglich grenzenloser Freiheit zu tun?

Ich mag das eigentlich nicht, wenn sich die Leute darüber beklagen, dass sie zu viele Möglichkeiten haben, denn deine Aufgabe ist es dann, in dich hinein zu horchen: Was möchte ich, was davon kann ich, was muss ich dafür tun? Im Grunde bist du aufgerufen, dich selbst zu strukturieren. Das ist keine Aufgabe, die du nicht bewältigen könntest – es sei denn du hast einen Gehirnschaden. Du kannst dich zusammen reißen und eine Entscheidung für dich treffen. Sonst wird die Entscheidung für dich getroffen.
Ich kenne Leute, die irgendwas studieren, weil ihr Eltern ihnen gesagt haben, sie sollen das studieren,  dann sind sie fertig damit und sagen: Eigentlich interessiert mich das alles nicht, ich weiß eigentlich nicht, was ich damit will. Das ist ja für viele relativ schwierig so etwas zu entscheiden. Es geht darum, Handlungsfähigkeit zu erlangen. So habe ich das bei den Frankfurter Poetikvorlesungen im Frühjahr formuliert.
 
Um Grenzen geht es auch im viel gelobten Layout der  Buchseiten von ”Das Ungeheuer”: Sie teilen die Buchseite in der Mitte durch eine Linie: Oberhalb nimmt die Erzählung von Darius Reise ihren Lauf, darunter – in der Unterwelt – ist man geneigt zu deuten – spricht endlich die tote Flora durch ihre Tagebücher. Mir persönlich hat dieses besondere Leseerlebnis eine zum Roman passende Verwirrung gebracht: Meine Versuch eine geregelte Ordnung in den Lesefluss zu bringen - erst die Doppelseite oben und dann unten - scheiterte. Die Spannung machte, dass ich mich oft nicht an meine Regel hielt und genauso die Richtung jedesmal neu suchen musste wie Darius Kopp. Welche Leseart empfehlen Sie?
 

Ich dachte, das Buch gibt das vor, und das es sehr einfach sei, denn die Kapitel sind durchnummeriert. Sie hätten ja nicht durchnummeriert sein müssen. Dann wären Sie vollständig ins Wasser geworfen: Machen Sie wie Sie denken. Aber es ist ja durch nummeriert. Es geht los 1,2,3. Nur oben steht Text. Sie können ja nirgend wo anders lesen als oben. Bei Kapitel 4 und 5 erscheint der zweite Text, und dann überlasse ich es Ihnen, ob Sie zuerst das vierte oder zuerst das fünfte Kapitel lesen. Ich würde zuerst das vierte lesen, aber ich habe festgestellt, dass die Leute machen, was sie wollen (lacht). Es gibt alle möglichen Varianten. Man kann es ja mehrfach lesen. Einer meiner Lieblingsromane ist ”Rayuela” von Julio Cortázar (argentinischer Schriftsteller 1914 -1984) , ich habe dieses Buch in mehreren Varianten gelesen – er schlägt ja zwei vor, die habe ich gelesen und eine, die ich mir selber zugelegt habe. Nach dreimal lesen habe ich ein Gesamtbild von diesem Roman, bei dem die Reihenfolge der Kapitel keine Rolle mehr spielt.
Und tatsächlich geht es mir als Autorin auch immer darum, mir Gedanken zu machen über diesen Prozess des Lesens.  Ich gebe etwas vor, aber wenn sie dem nicht folgen, passiert auch nichts Tragisches. Man kann ein Buch nicht mißverstehen.
 
Sie sind doch auch eine Anhängerin des Experimentierens?
 
Ja, ich liebe es. Ich mag es, mir die Buchseite anzusehen, denn schon dieser erste Blick, zu sehen, wie die Seite gesetzt ist, gibt einem Auskunft darüber, was für eine Art Buch das ist, was für eine Art Lesen vermutlich daraus entsteht. Wenn Sie, was weiß ich, Proust angucken, dann steht Ihnen so eine Wand entgegen, ohne Absätze, und Sie wissen, hier wird ein gewisser Fluß erzählt. Und da schwimmen Sie entweder mit oder nicht. Also ich persönlich eher nicht.  Und dann gibt es andere Texte, die sich sehr auseinander strukturieren, es gibt Texte, die die Ränder nutzen, die Fussnoten. Das ist dann natürlich jeweils individuell Lösungen. Ich mag diese zweite Art, mit Texten umzugehen. Texte, die das Lesen unterbrechen und den Fluß unterbrechen, gehen jedesmal ein höheres  Risiko ein, dass der Leser sich dagegen entscheidet, den Faden wieder aufzunehmen. Ich bin dafür, dem Leser tatsächlich die Möglichkeit zu geben zu sagen: An diesem Punkt muss ich wieder überlegen und entweder nehme ich das Angebot, die Möglichkeit oder die Perspektive an, hier weiter zu machen oder auch nicht.
 
 
Natürlich frage ich Sie nun, wie es mit Darius Kopp im dritten Teil der Trilogie weitergehen wird, auch wenn ich weiß, Ungeborene sollen in aller Ruhe gedeihen dürfen. Doch für all die, denen dieser moderne Held ans Herz gewachsen ist: Wissen Sie schon, welchen Konflikten er sich noch stellen muss? Wird er vielleicht aus seiner Lethargie erwachen und uns durch Handlungskraft erstaunen?

Ehrlich gesagt, weiß ich es noch nicht. Als ich es geplant hatte als Trilogie, glaubte ich es zu wissen. Dann habe ich das unterwegs verworfen, weil ich mir dachte – nein, das ist zu einfach. Ich wollte es mit seinem Tod enden lassen, . Dann dachte ich mir: Moment mal, dass ist ja keine Person, sondern eine Figur. Und für Figuren gibt es bessere Enden als den Tod. Und jetzt bin ich gerade dabei heraus zu finden, was das sein könnte. Ich  habe mehrere Optionen für den Verlauf der Geschichte, für das Ende, für die Figuren, die da mitmachen. Ich muss dazu sagen, große Romane zu schreiben ist ziemlich anstrengend. Ich bin immer noch ziemlich ausgepumpt.
 
Wann haben sie ”Das Ungeheuer” denn fertig gestellt?

Im Grunde ist das über ein Jahr her,  im Juni 2013, dass es endgültig in die Druckerei ging. Ich bin immer noch vollkommen erschöpft. Ich mache jetzt Folgendes, und das ist auch angekündigt beim Verlag: Ich mache zuerst einen Erzählband und dann erst den dritten Teil und zwar, weil ich mir durch den Erzählband einfach diese Möglichkeit schaffen möchte, erstens andere Figuren kennen zu lernen und andere Formen auszuprobieren. Während ich gleichzeitig über den Roman nachdenke. Im Vordergrund machst du was anderes, und im Hintergrund reift das vor sich hin. Wenn man sieben Jahre vergehen lässt, dann ist das genauso wie im Märchen. Sieben Jahre nach dem zweiten Teil kommt dann der dritte. Dann bin ich genau 50. Das ist der Witz beim Schreiben, dass man sich auch immer Gedanken um sich selber macht. Wenn man schlau ist, schreibt man jedes Buch so, dass es einen an einen Punkt bringt von dem aus man weiter arbeiten und etwas Neues anfangen kann. Dumm gelaufen ist es, wenn du ein Buch fertig geschrieben hast und nicht das Gefühl hast, an einem nächsten Punkt angekommen zu sein. Genau am selben Punkt zu sein wie am Anfang, das wäre ein bisschen traurig.  Wenn ich 50 bin, ist meine Tochter 14, noch nicht erwachsen, aber kein Kind mehr. Ich rechne damit, dass dann ein Lebensabschnitt von mir zu Ende sein wird. Vielleicht auch nicht. Christian Delius meinte neulich zu mir , er glaubte eher an 55. Da könnte er Recht haben, denn dann ist meine Tochter 20, dann ist sie erwachsen.
 
Sie geben der Sache auf jeden Fall den Raum, der für sie notwendig ist.. Sie haben jetzt elegant zur nächsten Frage hin geleitet – ihr praktisches Leben als Schriftstellerin. Sie haben schon erzählt, dass es für sie organisch verläuft.  Ich habe auch über sie gelesen, sie schrieben überall. Während Ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen im vorigen Wintersemester haben Sie über die Grundlagen und Bedingungen Ihres Schreibens erzählt? Wie lauten diese?

Ich habe viel geredet über die Fragen, die während des Schreibens auftauchen, die Entscheidungen, die man treffen muss. Ich habe viel darüber geredet, wie ich z.B. bei meinem ersten Roman erst 250 Seiten vom vollkommen  falschen Roman geschrieben habe, bevor ich merkte, dass er falsch war. Der falsche Roman mit  der richtigen Hauptfigur. Ich habe darüber gesprochen, wie man das erkennt.  Und wie man dann mit Leichtigkeit 250 Seiten wegschmeißen kann.
 
Woran merkt man das denn?

Dadurch –ich habe es so geschrieben – dass die Geschichte vor sich hin trottet wie ein blindes Bergwerk-Pferd. Dass die Sätze auch auf Nummer sicher gehen und  dass man eine gewisse Hintergrundgeschichte angelegt hat und daraus folgt nichts. Es ist nur eine Behauptung. Wenn du sagst, die Figur ist ein Flüchtling und die Pointe ist, dass er schwul ist, dann ist das natürlich beknackt. Das ist nicht die Pointe. Es sind zwei verschiedene Stories. Ich habe eine Zeit gebraucht, bis ich gemerkt habe, wie ich das entwickeln soll, was die richtige Geschichte ist.
Die Zeit dazu ist als Mutter eines kleinen Kindes begrenzt. Wie man schreibt, wenn man unabhängig ist, sprich kein Kind hat, dann kann man eher darüber entscheiden, wo und wann man schreibt, besonders wenn man keinen Broterwerb hat, sondern zu Hause herum sitzt und im Grunde alles selber einteilen kann. In dem Moment, wo man sich um mehr als nur sich selber kümmern muss, da schaut man, wo eine Lücke bleibt, um schreiben zu können.
 
 
Wird man da  denn – um ein abgedroschenes Wort zu nutzen – effektiver, vertrödelt man dann weniger Zeit?

Ich weiß es nicht. Man kommt dann häufiger in diesen Zustand als nur mäßig freier Mensch, dass man irgendwann sagt: Jetzt ist der Wille so zwingend, das  zu schreiben, dass ich das jetzt tue, geschehe, was da wolle. Natürlich nicht, geschehe, was wolle, denn ich würde das Kind nicht im Kindergarten zurück lassen und sagen – ich kann dich jetzt nicht holen. Aber normalerweise wäre man um 22 Uhr zu müde, um noch zu schreiben. Aber wenn man merkt, ich sterbe morgen, wenn ich das heute nicht aufschreibe, dann ist man nicht zu müde. Dann hat man genügend Adrenalin.
 
Brauchen Sie denn gewisse äussere Bedingungen, z.B. Ruhe, um Schreiben zu können?

So wie in Ungarn in den Ferien, das geht überhaupt gar nicht. Das ertrage ich nur, weil ich weiß, dass es temporär ist, und ich weg fahren kann, wenn ich will.
 
Wenn sie sagen, sie schreiben überall, heißt das aber schon, dass Sie sich jederzeit in diesen Schreibmodus herein begeben können. Wenn Sie z.B. mit der S-Bahn nach Berlin herein fahren, könnte es sein, dass sie da schreiben?

Das ist schwierig.
 
Was brauchen Sie? Das Zimmer für sich allein, um mit Virginia Woolf zu sprechen?
 
Das ist schon wichtig. Ich habe z.B. die Frankfurter Poetikvorlesungen in Zügen und Hotels geschrieben, weil ich woanders keine Zeit hatte. Einen Roman hätte ich da allerdings nicht schreiben können. Da braucht man eine gewisse Versenkung. Da muss man schon alleine sein. Ich bin auch lärmempfindlich. Ich weiß nicht wieviele Kilo Ohropax ich schon verbraucht habe in der  Zeit, seitdem ich schreibe. Es ist wirklich überall Lärm. Es ist unglaublich wie laut es überall ist.
      
Was muss eine fiktive Figur mitbringen, um in Terézia Moras erzählerischem Universum Einlaß zu finden? Anders gefragt: Gibt es eine typische Weise mit denen Ihnen Ihre Protagonisten zum ersten Mal begegnen?
 
Ich habe bis jetzt alle Figuren aus tatsächlichen Begegnungen genommen. Wobei ich sagen muss, dass sind dann nicht einzelne Personen, also XY, und daraus wird dann Darius Kopp, sondern gewisse Phänomene verdichten sich dann in einer Figur. Ich habe, nachdem ich meinen Erzählband geschrieben habe, der sich von Figuren nährte, die ich von hier aus, von Ungarn, kenne, habe ich mich halt umgeguckt und mich gefragt: Ok, was weiß ich  von der Welt? Und damals, das war 1999 in Berlin, da habe ich im Grunde zwei Gruppen deutlich erkennen können. Die einen waren die Abel Nemas (Protagonist aus ”Alle Tage”), also die jungen Emigranten in Berlin. Abel Nema ist zusammen gesetzt aus sechs oder sieben Personen. Und wenn sie daran arbeiten, dann gärt das so zusammen. Und Darius Kopp ist tatsächlich das Ergebnis einer Beobachtung einer Gruppe von IT-Ingenieuren. Mein Mann ist IT-Ingenieur, wenn auch nicht identisch mit Darius Kopp. Er und seine Freunde haben mich über lange Jahre mit Geschichten versorgt, ihre Redeweisen, ihre Verhaltensweisen usw. Und dann baut man sich halt daraus so einen Darius Kopp zusammen.
 
Besonders Ihre beiden jüngsten Romane erstaunen durch detailgetreue Schilderung der IT Branche und deren technischen Finessen. Wie haben Sie als ausgebildete Geisteswissenschaftlerin diese Rechercheleistung vollbracht?
 
Das ist nicht so schwierig, wenn Sie diese Leute um sich herum haben. Ich verstehe das auch nicht, obwohl ich mir das jahrelang angehört habe. Man kann sich so etwas nicht merken, wenn das Gehirn auf etwas anderes eingestellt ist. Und ich musste es dann aufzeichnen, weil ich es sonst sofort wieder vergessen hätte.
 
Hat Ihr Mann es denn zum Gegenchecken der Fakten  gelesen?

Ja, und der hat trotzdem Fehler drin gelassen, und ich habe gesagt: Das kannst du mir nicht antun. Wenn eine Frau darin Fehler macht, ist das ganz schlimm. Aber er ist halt unaufmerksam, und so hat er zwei Fehler drin gelassen. Die wurden inzwischen korrigiert. Aber er hat auch wertvolle (und zum Lachen reizende) Hinweise gegeben. Zum Beispiel habe ich mit 4 Jahren relativ lange an dem Text gearbeitet, und am Ende sagte er:  Oh, X müssen das austauschen, denn die Technologie ist inzwischen veraltet.
 
Wie gefällt denn ihrem Mann der Darius Kopp?

Er ist ja tatsächlich kein Geisteswissenschaftler, und er liest das, doch er liest das nicht so wie wir, glaube ich. Er erkennt darin natürlich die Wirklichkeitsanteile, er merkt irgendwelche Anekdoten, die ich in einem völlig anderen Zusammenhang erlebt habe, und dass ich die da eingebaut habe. Für ihn ist so etwas interessant. Auch weil er mitunter dabei war, und dann lacht er sich halb darüber tot, was er da wieder findet. Mit anderen habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Wiedererkennen von Wirklichkeitsanteilen oft eher schwer gelingt. In der Flora Aufzeichnung zum Beispiel verwende ich ein Erlebnis, das ich vor langer, langer, langer Zeit mit einem Freund zusammen in Paris hatte und dieser Freund hat das auch gelesen und hat die Szene wieder erkannt, hat aber SICH darin nicht erkannt und auch nicht, dass er  das Arschloch in der Szene ist. Der lässt sich davon nicht anfechten.
 
Interessant, dass sie das sagen. Der norwegische Autor Knausgaard hat ja genau dieses Problem in Norwegen gehabt. Das ging – glaube ich – bis zur rechtlichen Klage. Von Leuten, die sich wirklich auf den Schlips getreten fühlen.
 
Wirklich wahr? Ich verändere ja Namen und einige Umstände. Und, wie gesagt, ich habe die Erfahrung gemacht, die Leute erkennen sich selbst eher nicht wieder. Die anderen, ja.
 
Lassen Sie sich oft von alltäglichen Erlebnissen inspirieren – wie etwa dem Kinobesuch mit ihrer Tochter, bei dem sie einen Animationsfilm mit Steinzeitmenschen sahen, um danach für Ihr Auditorium an der Goethe-Universität das Bild der Höhle zu nutzen? ”Man müsse zum Schreiben aus der Höhle kommen”, erläuterten Sie.  Gehen sie oft so vor?
 
Zwei Sachen: Ich habe A wenig Berührungsängste, es ist mir überhaupt nicht peinlich über einen Kinderfilm zu reden in diesem Zusammenhang. Ich hatte dann in Frankfurt eine Unterhaltung mit einem männlichen Kollegen, der der Meinung war, das käme nicht gut an, wenn man über sein Kind und über den Film reden würde. Da habe ich gesagt: Na gut, wenn du es nicht machen willst, mach´s nicht.
Das Auditorium in Frankfurt war übrigens sehr zauberhaft. Das ist ja eine offene Veranstaltung. Da sitzen Studenten, Universitätsmitarbeiter, ein paar Journalisten und Leser, also Stadtbevölkerung. Die sind toll. 
 
Keine Berührungsängste zu haben, das ist das eine. Das andere ist, dass ich die Erfahrung gemacht haben, dass man als offener Mensch einfach niemals ohne Thema sein wird. Sie gehen einkaufen, das sind 300 Meter, und Ihnen begegnet soviel, wozu Ihnen etwas einfällt. Das kann anfangs erschreckend sein. Was ich gelernt habe, ist,  mich zu freuen, dass es so ist, dass ich sage: Und sollte mir mal das Thema ausgehen, dann gehe ich einkaufen. Junge Autoren fühlen sich davon häufig bedrängt, dass so vieles da ist und wie man das ordnet, was wählt man aus, wie macht man daraus ein Werk. Das ist tatsächlich auch schwierig, aber als Trost sei gesagt, dass man das lernt mit der Zeit – selektieren und zusammen fügen.
 
Das ist ganz fantastisch, dass sie das nun schon wieder sagen, nämlich Antwort auf etwas geben, was ich als nächstes fragen will. Ich wollte sie nämlich nun nach einem essenziellen Rat für Nachwuchsautoren fragen und das brauche ich nun nicht mehr. Dann gehe ich gleich zur nächsten Frage.
Sie sind Mutter einer sechsjährigen Tochter. In Deutschland ist oft vom Spagat zwischen Mutterdasein und Beruf die Rede,wo von man in Norwegen eher selten spricht. Wie ist Ihrer Erfahrung nach die aktuelle Situation der Mütter in Deutschland?
 

Diesen Spagat gibt es tatsächlich, und der ist beileibe größer auf dem bayerischen Land als in Berlin. Auf dem Land sind die Frauen komplett allein gelassen. Ich kenne keine Schriftstellerin, die auf dem bayerischen Land mit einem kleinen Kind lebt und schreibt. Und das ist kein Zufall, dass das so ist. Mein Rat: In eine Gegend mit guter Infrastruktur zur Kinderbetreuung zu ziehen, und sich bei der Partnerwahl sehr gute Gedanken zu machen. Selber habe ich wirklich alles von vorne herein geplant. Mir war klar, dass es tatsächlich ein Dorf braucht, um ein Kind groß zu ziehen.
 
Haben sie das denn in Berlin, Prenzlauer Berg?
 
Ja, meine Mutter lebt zwar in Ungarn, aber als ich den ersten Darius Kopp geschrieben habe, hat sie einen Monat bei uns verbracht und einen Monat bei ihren Eltern in Ungarn. Meine Mutter pflegt in zwei Richtungen – einmal bei uns zur jüngeren und einmal daheim die Älteren. Meine Mutter ist eine wahre Heldin des Alltags, sie ist z.B. in Frührente gegangen, um das tun zu können. Sie hat gesagt: Ok, ich verliere soundso viel Geld, aber ich helfe meiner Tochter, einen Roman zu schreiben.
Deutsche Paare haben da ja, z.B. verglichen mit Norwegen, noch sehr anachronistische Vorstellungen zur Kinderbetreuung. Flora präsentiert in ihrer sanften Passivität nicht zuletzt den Prototyp einer traditionellen Frau.
Ja, und Darius Kopp sagt auch mehrfach, dass er sich total freut, so eine Frau abgekriegt zu haben.
 
Motiviert Sie als Schriftstellerin Emanzipation und Gleichberechtigung?
 
Total. Und ich halte im übrigen ”Das Ungeheuer” für ein feministisches Werk. Ich stelle das natürlich nicht in den Vordergrund, doch es gibt so Andeutungen in die Richtung, z.B. Frauen sind Menschen. Der Feminismus sagt nämlich im Grunde nicht mehr, als folgende Ungeheuerlichkeit: Alle Menschen sind gleich und Frauen sind Menschen. Das ist, auf zwei Sätze gebracht, der Kern des Feminismus,  und die Wahrheit darin würde heutzutage kaum mehr einer bestreiten.  Meiner Meinung nach ist das Leben in Deutschland ziemlich konservativ und wir können uns nicht darauf heraus reden, dass das in manchen anderen Ländern viel schlimmer ist. Das sind nicht die Länder, mit denen wir uns messen sollten.
 
Bleiben Ihre Romanfiguren nach ihrem Tagespensum in ihrem Arbeitszimmer zurück, während Sie an einem Roman schreiben, oder verfolgen sie diese in Ihre privaten Räume und das Familienleben?

Das genau ist das Schwierige, das man umsschalten muss. Das sie am Vormittag ein Stück Text geschrieben haben über die negative Gedankenspirale bei Flora. Dafür haben sie sich an das Schlimmste, was sie sich vorstellen können, gewagt, nämlich über Folter nachgedacht. Sie sind am Ende ihrer Kräfte, und dann holen sie ein vierjähriges Kind vom Kindergarten ab, das damit nichts zu schaffen hat und deswegen – im Grunde ist das Schauspielerei – müssen sie ein paar Stunden lang so tun, als wären Sie nicht vollständig verzweifelt und möchten nicht irgendwo in einer Ecke heulen. Das Kind hat nichts damit zu tun, es bleibt Ihnen also nichts anderes übrig, als eine Mutter dazustellen, die nicht gerade durch die Hölle geht, und irgendwann lässt der Schmerz dann auch nach und der Tag geht zu Ende, dann ist es wieder ok. Aber es gibt tatsächlich diese sehr schwere Phase des Übergangs zwischen der Versenkung in die Arbeit und dann wieder auftauchen, um für jemanden da zu sein.
 
Was würden sie eigentlich sagen, was so emotional ihre Muttersprache ist – das Deutsche oder das Ungarische?
 
Das kann ich eigentlich gar nicht so sagen. Ich mache da nicht so einen Unterschied.
 
Was sind Ihre weiteren Pläne für Ihre gemeinsamen Sommerferien mit der Familie in Ungarn?
 
Ach Gott, ich mache folgendes, dass ist ja auch ein sehr schönes Bild: In dem Thermalbad meines Heimatdorfs stehen zwei große Trauerweiden. Ich sitze entweder unter der einen oder der anderen, und die meiste Zeit lese ich, was die ungarischen Schriftsteller in diesem Jahr geschrieben haben. Die neuen Bücher dort erscheinen immer im April und im Juni. Dann komme ich im Juli und kaufe mir die, die mich am meisten interessieren. Dann sitze ich unter diesem Baum, meine Tochter badet, und ich lese diese Bücher von A bis Z.  Wenn ich genug gelesen habe, dann gehe ich schwimmen und dann lese ich wieder. Etwas anderes brauche ich überhaupt nicht.