Stereotype
Wie sich der Blick auf Deutschland ändert - Teil 2

Alles in allem waren die Beziehungen der Norweger zu Deutschland und den Deutschen nach dem Krieg in größerem Ausmaß von Desinteresse und Kenntnislosigkeit geprägt. Die Schilderungen von Fahrten auf der deutschen Autobahn, als einem unumgänglichen Etappenabschnitt auf dem Weg in die Freiheit und zum Lebensgenuss an den Stränden des Mittelmeers, entsprachen schlicht der Realität.

In Literatur- und Kulturzeitschriften ist durchaus über Autoren wie Heinrich Böll, Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger geschrieben worden, vor allem wenn es dabei – wie beim letztgenannten Beispiel – an norwegischen Berührungspunkten nicht mangelte. Dennoch ist das Interesse für deutsche Gegenwartsliteratur und deutsche Gegenwartskunst so gut wie nicht vorhanden. Die Präsenz norwegischer Medien auf der weltgrößten Buchmesse in Frankfurt am Main tendiert gegen Null; die Preisträger des renommierten Deutschen Buchpreises werden in aller Regel nur mit kurzen Wiedergaben von Agenturmeldungen abgespeist. Auf dem populärkulturellen Feld haben Phänomene wie die Krimiserie „Derrick“ oder stupide, volkstümliche Musik im Dreivierteltakt die Vorstellungen vom „Deutschen“ aufrechterhalten, allerdings in erster Linie zu dem Zweck, um weiter über den Humor eines definitiv „uncoolen“ Landes witzeln zu können.

Die norwegische Linke brachte eigene Varianten von Erzählungen über Deutschland hervor. Zu ihren Elementen zählten „der Krieg“, „die Neonazis“, „der autoritäre Staat“, „das Berufsverbot“ – ein Mix aus unzusammen­hängen­­den Bildern und Ereignissen, der in etwa indizieren sollte, dass die Bundesrepublik als Fortsetzungsregime der NS-Diktatur aufzufassen sei oder doch dass „neue Gefahren“ in der Tiefe des Volkes schlummerten. Die Annahme einer historischen „Kontinuität“, bewerkstelligt unter anderem durch Elitenetzwerke, die den Krieg überlebt hatten und ihre verborgene Macht nun in der Nachkriegsgesellschaft ausübten, schlug sich auch in der Literatur nieder, z.B. im Werk von Kjartan Fløgstad. Natürlich zirkulierten auch im konservativ-liberalen Lager Erzählungen über Deutschland. Sie handelten beispielsweise von der Westbindung und von der NATO-Mitgliedschaft, aber auch von der Erfolgsformel des Kapitalismus und dessen Überlegenheit, gerade im direkten Vergleich mit dem Experiment des deutschen Sozialismus im Osten.

Wallfahrten in das vielfältige Berlin

Deutschland befindet sich seit vierzig, fünfzig Jahren in einem umfassenden kulturellen Modernisierungsprozess. Die Auseinandersetzung mit der historischen Vergangenheit, der ökologische Aufbruch, der Wiedervereinigungsprozess, die sich etablierende multikulturelle Gesellschaft etc. haben einem liberaleren Deutschland, mit einem zivileren Gepräge, Gestalt gegeben. Das Land verfügt heute nicht nur über die effektivste kapitalistische Wirtschaft Europas, sondern gleichzeitig über eine Bevölkerung, in der sogenannte postmaterielle Werte mit am solidesten verankert sind. Die skandinavischen Wallfahrten in das bunte, vielfältige Berlin in den letzten ca. zehn Jahren haben stark dazu beigetragen, dieses „neue Deutschland“ bekannt zu machen. Ein Haupteinwand gegen die norwegischen Standarderzählungen über Deutschland ist dennoch, dass sie die besagten Änderungsprozesse nur in begrenztem Umfang zur Kenntnis genommen haben und die Stereotypien, die sich in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren herausgebildet hatten, nicht verdrängen konnten.

Bewunderung als auch Kritik

Das Drama rund um die Rettungspakete für Griechenland und die nicht minder dramatische Flüchtlingskrise haben den Fokus der Weltöffentlichkeit auf Deutschland und Bundeskanzlerin Merkel gerichtet. Die Handhabung dieser Krisen hat Deutschland sowohl Bewunderung als auch Kritik eingetragen – je nach politischem Standort der Kommentatoren. Wer die Entwicklung des Landes seit den siebziger Jahren verfolgt hat, wird über die Richtungsentscheidungen Angela Merkels in der Flüchtlingskrise ebenso wenig überrascht sein wie über das breite Fundament, das die sogenannte Willkommenskultur in der deutschen Bevölkerung vorfindet. Auch Deutschlands vermeintlich harte Linie in der Grexit-Krise entspringt altbewährten Prinzipien deutschen nationalökonomischen Denkens: Wachstum, Sparsamkeit, Mäßigung und (Selbst-)disziplin. So unterschiedlich die beiden Herausforderungen auch sind, lässt Merkels jeweils von Prinzipien geleitetes, ganzheitliches Krisenmanagement doch gemeinsame – und vielleicht „deutsche“ -Lösungsansätze erkennen.

Die norwegischen Kommentatoren aller Lager reagierten verblüfft und verwirrt, und sie sparten weder mit Zustimmung noch mit Zurückweisung. Für konservative Beobachter hat sich die starke und selbstbewusste Nation, die während der Grexit-Krise Führungskompetenz an den Tag legte, innerhalb weniger Wochen in eine naive und moralisierende soft power verwandelt. Die norwegische Linke hat in ähnlicher Rekordzeit eine ganz andere Transformation wahrgenommen: der wichtigste Exponent eines neoliberalen Marktfundamentalismus präsentierte sich während der großen europäischen Flüchtlingskrise plötzlich als Hort der Humanität und Solidarität. Mit dem Vorschlag von CDU und CSU, Transitzonen zur Registrierung von Flüchtlingen einzurichten,  unter anderem um „chancenlose Asylbewerber“ schnell ablehnen zu können, dürfte das Pendel allerdings wieder etwas in die andere Richtung ausschlagen. Eine neue Situation ist jedoch insofern eingetreten, als Deutschland seit ein paar Jahren deutlich stärker beobachtet wird und das Image Deutschlands sich insgesamt wandelt: es ist nicht mehr überwiegend negativ, sondern vorsichtig positiv. Die Ära der Kenntnislosigkeit und des Desinteresses scheint überwunden, und Deutschland spielt keinen Maschinenfußball mehr.