Stereotype
Wie sich der Blick auf Deutschland ändert - Teil 1

„Die Deutschen suchen die Stille“, erklärte ein Veranstalter des Pilegrimsleden, des Pilgerweges zum Nidarosdom, in einer Radioreportage im Sommer. „Rekdal ist typisch deutsch“, schrieb eine der großen Boulevardzeitungen in einem Kommentar über den angeblich autoritären Führungsstil des Fußballtrainers. „Die Deutschen verschwenden nicht das Geld anderer Nationen“, urteilen wiederum die Wirtschaftsredakteure von „Aftenposten“ und „Dagens Næringsliv“.

So stellt sich das moderne Deutschland in einer Auswahl von norwegischen Aussagen dar. Erzählungen, Bilder und Stereotypen, die das Typische eines Landes oder einer nationalen Mentalität verorten, begrenzen sich nicht auf Deutschland. Es dürfte aber unzweifelhaft sein, dass das norwegische Bild von Deutschland und den Deutschen in den letzten 60 bis 70 Jahren einen grundlegend anderen Charakter hatte als das von den Engländern, Italienern oder Schweden: ernster, hartnäckiger – und vor allem negativer. Gleichzeitig ist augenblicklich kaum ein Image stärkeren Veränderungen unterworfen als gerade die Vorstellungen vom „Nationalcharakter“ der Deutschen. Die Spannweite reicht von der „Stunde Null“ in den Kriegstrümmern von Berlin bis zur „Willkommenskultur“ am Münchener Hauptbahnhof siebzig Jahre später.

Die nationalsozialistische Schreckensherrschaft änderte die Haltung der Norweger gegenüber Deutschland fundamental. Für die norwegische Elite hatte Deutsch vor dem Krieg noch den Rang einer Art lingua franca. Zitate aus dem „Faust“, vorgebracht in der Originalsprache, waren Teil eines Rituals, mit dem man seine Zugehörigkeit zur gebildeten Schicht demonstrierte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterhielten auch norwegische und deutsche Akademiker auf den Gebieten der Naturwissenschaften, der Medizin und der Ingenieursfächer gute Beziehungen zueinander. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches verlor die deutsche Kultur ihre Sonderstellung in Norwegen. In den Beneluxländern, Teilen Ost- und Südeuropas und vor allem in Skandinavien übernahm das Englische die Rolle einer akademischen Leitsprache und der ersten Fremdsprache für die Nachkriegsgenerationen.
 
Das Bild vom „hässlichen Deutschen“ Die Eindrücke vom Krieg und den Massenmorden ließen ein eindeutig negativ konnotiertes Deutschlandbild entstehen. In Norwegen verstärkte der tägliche Kontakt mit der Okkupationsmacht über einen Zeitraum von fünf Jahren das Bild noch. Im Kielwasser dieser Entwicklung manifestierten sich Vorstellungen von einem deutschen Sozialcharakter, der den Gegensatz von all dem verkörperte, was eine freie und offene Gesellschaft zu ihren Idealen erklärt. Das Bild vom „hässlichen Deutschen“– ein kommandierender, autoritärer, naziähnlicher Charakter – nahm Gestalt an und lebte in den Köpfen vieler Norweger bis weit in die Nachkriegszeit hinein weiter. Dieses Bild war in ganz Europa verbreitet. Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy, der 2004 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, formulierte es in seiner Dankesrede folgendermaßen: „Der Hass gegen die Deutschen ist Europas Fundament in der Nachkriegszeit.“

Die Deutschen selbst waren in den 150 Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Großproduzenten von Mythen und Erzählungen über sich selbst. Inspiriert von der romantischen Wiederentdeckung des „deutschen Volkes“, mit Figuren wie Hermann dem Cherusker, Siegfried und Hagen als Leitsternen, wurden Wunschbilder vom heroischen, unbesiegbaren Deutschen produziert. Dieses Mythenuniversum war aus nachvollzieh­baren Gründen nach 1945 nicht mehr zu gebrauchen. Im Takt mit dem raschen Wiederaufbau nach dem Krieg wurden andere, eher funktionelle Aspekte des Mythenkatalogs aktiviert. Nationale Schwärmerei wurde durch Fleiß, Gründlichkeit und Zuverlässigkeit ersetzt. Mochten deutsche Autos auch nicht so elegant und raffiniert sein wie italienische oder französische, so erwiesen sie sich doch schnell als solide und unverwüstlich. Ordnung und Anstand entwickelten sich zu gestaltenden Prinzipien sowohl im öffent­lichen als auch im privaten Raum. Entlang der Vorortalleen standen Einfamilienhäuser in Reih und Glied, die Hecke war stets frisch geschnitten, und der Herr des Hauses nutzte den Sonntag, um sich seines liebsten Kindes anzunehmen, dem Auto. „Rasen betreten verboten! Nicht bei Rot über die Straße gehen!“ In den Stadien wurde System- oder „Maschinen­fußball“ gespielt; an die Stelle von Finesse und Spielwitz traten Disziplin, Einsatzwille und taktische Loyalität, „deutsche Tugenden“ also, die am Ende den Sieg sicherten. Dabei konvergierten die Blicke immer mehr, Fremd- und Selbstbilder widersprachen einander kaum. So wie die Deutschen sich zu den Glanzzeiten der Bundesrepublik selbst sahen, sahen sie auch die Europäer (und die Norweger).

Romantisch aufgeladene Sehnsuchtsbilder

Was als typisch „deutsch“ galt, übte dennoch eine gewisse Faszinationskraft auf die Norweger aus. Die Kulturlandschaften des Rhein- und Moseltals mit ihren Burgruinen und Weinbergen erzeugten romantisch aufgeladene Sehnsuchtsbilder, die an die norwegische Seele appellierten. Das „Gemütliche“ der Kneipen- und Wirtshauskultur ließ in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren den Ruf ertönen, dass „wir“ bei uns mehr davon haben sollten. In puncto Mentalität und Lebensart können die Unterschiede beträchtlich sein zwischen einer Frohnatur aus Köln und einer genügsamen Hausfrau aus Schwaben, zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Nord und Süd, West und Ost. Diese Unterschiede bewegen die Deutschen selbst sehr, entgehen aber dem Blick von außen. Die norwegischen stereotypen Vorstellungen über „das Deutsche“ haben regionale Besonderheiten selten berücksichtigt. Einem ikonisierten Bild des „Deutschen“ am nächsten kommt für den norwegischen Blick (wie auch für den japanischen und amerikanischen) ein festgelaunter Bayer in Lederhose auf dem Münchener Oktoberfest, mit einem federgeschmückten Hut auf dem Kopf und einem Bierkrug in der Hand: Bayern als Idealtyp und Inszenierung des Deutschen.