Über das Theaterstück "Terror"
Wie viel ist ein Menschenleben wert?

Die norwegische Schauspiel-Studentin Isabel Toming erzählt von ihrer Studienreise nach Berlin. Schon der Hinflug erweist sich als dramatisch.

 Isabel Toming Isabel Toming | Foto: ©Janecke Ramstad
Am Deutschen Theater besuchen die norwegischen Studenten die Aufführung des Stücks „Terror“, Regie: Hasko Weber.
Es muss etwas geben, was wir tun können, das einen direkten Einfluss auf das Leben der Flüchtlinge hat. Etwas mehr, als leidenschaftlich Asylpolitik beim Nachspiel zu diskutieren. Manische Schreie eines Mannes, der zwischen zwei Polizisten sitzt und von einem dritten festgehalten wird, erschallen durch das ganze Flugzeug. Ist das eine Person mit psychischen Problemen? Was geht hier vor sich?
 
Die Schreie sind so herzzerreißend und schmerzhaft zu hören, dass jemand schließlich die Stewardess fragt. Wir erfahren, dass der Mann aus Norwegen abgeschoben wird. Sein Weinen dauert den ganzen Flug an. Manche Passagiere fragen sich, ob man den Mann nicht dazu bringen kann aufzuhören zu heulen, sie fahren ja schließlich in den Urlaub, und haben für ihr Flugticket bezahlt. Andere werden wütend über Staat und System. Was kann man tun, um diesem Mann zu helfen? Kann man Flüchtlinge heiraten, so dass sie eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen? Ein Mensch braucht Hilfe, und man versteht, dass man keine Hilfe anzubieten hat. Man diskutiert nur noch leidenschaftlicher beim nächsten Nachspiel und der abgeschobene Mann landet im Niemandsland. Der Abgeschobene Mann stirbt vielleicht. Wir anderen verlassen das Flugzeug und tun das, wofür wir nach Berlin gekommen sind. Und wir, von der ersten Klasse der Theaterhochschule, werden in Berlin Theater sehen.
 
Kann man Menschenleben gegeneinander aufwiegen?
 
Die erste Vorstellung, die wir sehen, ist „Terror“ von Ferdinand von Schirach, am Deutschen Theater Berlin, Regie führte Hasko Weber. Das Stück handelt von einem Dilemma. Ein Jagdflieger muss alleine eine Entscheidung treffen. Soll er ein Flugzeug mit 164 Menschen abschießen, um 7000 andere zu retten? Ein Terrorist hat nämlich das Flugzeug mit 164 Passagieren gekapert und ist im Begriff, es in ein Fußballstadion mit 7000 anderen Menschen zu steuern. Der Jagdflieger entscheidet sich, das Flugzeug mit 164 Menschen abzuschießen. Und wir kommen in den Gerichtssaal, wo entschieden werden soll, ob die Hauptperson ein Massenmörder ist oder ein Held. Wie viel ist ein Menschenleben wert? Ich erlebe die mir nahe stehenden Menschen als unschätzbar wertvoll. Wären sie unter den 164 Passagieren im abgeschossenen Flugzeug, würde ich mir eine andere Lösung wünschen. Kann man eigentlich Menschenleben gegeneinander aufwiegen? Ist es richtig einen Menschen zu töten, um fünf zu retten? Im Stück wird uns erzählt, dass die gültige Idee laut Menschenrechtskonventionen die ist, dass ein Menschenleben unendlich viel Wert ist und nicht in Zahlen gemessen oder gegeneinander aufgewogen werden kann. Doch was, wenn du dich selbst in einer Situation befinden würdest, wo du viele Menschen retten könntest, aber im Gegenzug einige umbringen müsstest? Was würdest du tun?
 
Deutsches Theater "Terror" Foto: ©Deutsches Theater Berlin
Glücklicherweise bekommen wir eine Pause von all den Fragen, als Montagen animierter Figuren, untermalt von Technomusik, in Gang gesetzt. Die animierten Figuren sind Flugtickets, die im Moment des Flugzeugabsturz zu Menschen werden. Gras wird zu scharfen Messerschneiden. Blumen. Wassertropfen. Die Gedanken schweifen ab. Sieben Milliarden Menschen auf der Welt, und alle empfinden ihr Leben als lebenswichtig. Das ist merkwürdig. So viele verschiedene Menschen in einer Welt. Eine verrückte Welt. Plötzlich knallt ein Aktenordner hart auf den Tisch auf der Bühne, und die Montage ist vorbei. Wir sind zurück im Gerichtssaal. Und wir werden gebeten zu antworten. Wir müssen entscheiden, ob wir entweder durch die Tür mit der Überschrift „schuldig“, oder der mit „unschuldig“ gehen wollen. Der Mann im Stück hat 164 Menschen getötet und 7000 gerettet. Ist er schuldig oder unschuldig? Das Theaterstück ist frei von anderen Geschichten, und wir lernen die Charaktere auf der Bühne nicht weiter kennen, als durch ihr Verhalten im Gerichtsprozess. Schließlich distanziere ich mich. Zu guter Letzt ist es eine Frage auf die es keine Antwort gibt. Ich gehe durch die Tür auf der „schuldig“ steht, weil ich meine, dass ein Menschenleben unendlich viel Wert ist. Aber ich hätte aller Wahrscheinlichkeit nach dasselbe getan, wie die Hauptperson des Stückes.
 
Das eigene Leben wichtiger
 
An diesem Abend diskutierten wir leidenschaftlich beim Nachspiel. Unsere erste Begegnung mit deutschem Theater war mit anderen Worten eine heftige Konfrontation mit den eigenen Moral- und Wertvorstellungen. Als wäre man mit seinen Werten in einer Waschmaschine. Nichts ist nach dieser Vorstellung mehr ganz da, wo es mal war. Was ist eigentlich der Platz des Einzelnen in großen Menschengruppen, in der Gesellschaft? Was sind wir wert? Vielleicht sollte diese Frage öfter gestellt werden. Das Einzige, worin wir uns alle einig sind, ist, dass ein Menschenleben unendlich viel wert ist. Aber dieses Argument bestärkt beide Seiten. Es kann bedeuten, dass ein Menschenleben gegen Andere aufgewogen werden sollte oder das Gegenteil. Sobald man das Flugzeug verlässt und sein eigenes Leben weiterlebt, wohlwissend das eines anderen Mannes Leben zerstört ist, hat man sich dann nicht entschieden? Man hat auf jeden Fall entschieden, dass einem das eigene Leben wichtiger ist, als das Anderer. Und vielleicht ist es einfach so, dass wir einen Überlebensinstinkt haben. Wir, die auf die Theaterhochschule gehen, sprechen oft darüber. Die Liebe zu Menschen lässt uns Theater spielen. Als Schauspieler möchte man Geschichten erzählen die wichtig sind. Wir wollen erzählen, dass alle Menschen gleich viel wert sind.  Und wir wollen von dem Mann erzählen, der uns im Flugzeug begegnete, und der abgeschoben wurde.