Ingrid Brekke
Die neuen Deutschen

Bundeskanzleramt
Bundeskanzleramt | DenisRozhnorskyColourbox

Die dramatische Entwicklung der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 bestimmte in ganz Europa die politische Tagesordnung. Deutschland nahm eine Führungsrolle ein – zunächst als Antwort auf die rasch steigende Zahl von Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten, die auf dem Balkan und in Ungarn festsaßen, anschließend beim Versuch, eine gesamteuropäische Lösung zu finden.

Heute ist Deutschland das einzige Land in Europa, das am Grundsatz einer liberalen Linie festhält. Kanzlerin Angela Merkel ist nach wie vor das Symbol einer humanen Flüchtlingspolitik.
 
Doch ein Resultat der Krise ist auch ein tiefer und schmerzhafter Riss in Deutschland, selbst unter Freunden oder im Familienkreis. Bei weitem nicht nur Deutsche, die dem extrem rechten Lager zuzurechnen sind, reagieren mit Unverständnis auf Merkels Politik. Über das gesamte politische Spektrum verbreitet sich große Sorge, sowohl wegen der Konsequenzen, die sich abzeichnen, als auch generell im Hinblick auf die Zukunft.  Grundlegende Fragen rund um Themen wie (innere) Sicherheit, Religion, Gleichberechtigung und Integration werden den Wahlkampf in diesem Jahr bestimmen.
 
Intelektuelle Begründung der Flüchtlingspolitik

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist „Die neuen Deutschen“ von Herfried und Marina Münkler eine bedeutende Publikation. Das Buch ist als intellektuelle Begründung der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel bezeichnet worden, als Darlegung, warum es für Deutschland richtig und wichtig ist, Menschen aus anderen Ländern aufzunehmen. Schlüsselbegriffe hier sind Ökonomie und Demografie; Deutschland hat eine rasch alternde Bevölkerung. Das Land braucht Zuwanderung, um die Balance aus alten und arbeitsfähigen Menschen stabil zu halten, die als Voraussetzung für das Fortbestehen des Wohlfahrtsstaates angesehen wird. Deutschland hat es bislang nicht ausreichend verstanden, die Arbeitskräfte anzulocken, die es am dringendsten braucht. Nun hat das Land die Chance, sich diese selbst zu schaffen, indem es Hunderttausende von Menschen ausbildet und integriert, die von einem sicheren Leben genau hier träumen.   
 
Der Titel des Buches hat eine doppelte Bedeutung: Er bezieht sich auf die neuen Menschen, die ins Land kommen, aber auch darauf, dass sich die „alten“ Deutschen allmählich verändern – oder verändern müssen, ob sie wollen oder nicht. Im Herbst 2015 wohnte ich selbst in Berlin und war beeindruckt davon, wie viele Deutsche sich von der „Willkommenskultur“ mitreißen ließen, die Zeit, Geld und Kräfte beanspruchte und einen Beitrag dazu leistete, fremden Menschen in Not zu helfen. Das war eine Volks­be­wegung, die auf die vielen rechtsextremen Anschläge auf Flüchtlingsheime reagierte – und sie war nicht staatlicherseits von oben angeordnet, wie auch die Münklers in ihrem Buch betonen. Mehrere meiner deutschen Bekannten bekannten, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben stolz darauf waren, Deutsche zu sein. Und diesmal war der Anlass für den Stolz tiefgründiger als der Gewinn einer mit Flaggen und Jubel begleiteten Fußball-Weltmeisterschaft. In diesen Herbstwochen hatte ich wirklich den Eindruck, ein Land dabei zu beobachten, wie es sich verändert, gleichsam von einem Tag zum anderen. Endlich begann Deutschland, mit all seiner grausamen Geschichte, sich in das Land zu verwandeln, das meine Bekann­ten herbeisehnten: in einen offenen, humanen Rechtsstaat. 
 
Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen

Auch wenn sich die Euphorie rasch legte und die Willkommenskultur  in der dramatischen Silvesternacht von Köln einen starken Dämpfer erhielt,  dauert der politische Prozess an. Vielleicht ist Deutschland mit seinen Erfahrungen aus Nazizeit, Wiederaufbau und dem sehr umfassenden (und kostspieligen) Wiedervereinigungsprozess besser in der Lage, tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen zu meistern als andere europäische Nationen. Gleichzeitig ist gerade wegen dieser Vergangenheit die Sehn­sucht nach Sicherheit und Stabilität groß. Denn Veränderungen ver­schlingen Geld, führen zu Konflikten und können eine harte Probe für alle Beteiligten sein.  
 
Doch letzten Endes – und auch hier sind Merkel und das Autorenpaar einer Meinung – kann am Ende des Prozesses ein besseres und stärkeres Deutschland erstehen, eine produktive und intakte Heimat für Deutsche aller Art. Der vielleicht etwas pompöse Untertitel des Buches lautet entsprechend: „Ein Land vor seiner Zukunft.“

Bahnsteig in Berlin © Colourbox
 
Marina Münkler ist Professorin für Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Dresden, während ihr Ehemann als Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt. Besonders Herfried Münkler hat sich von Beginn der Flüchtlingskrise an in gesellschaftlichen Debatten engagiert, einerseits auf einem mehr allgemeinen Niveau, andererseits in klassisch deutscher intellektueller Konfrontation gegen Widerstreiter wie die Philosophen Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski. Das Buch „Die neuen Deutschen“ ist auf der einen Seite ein politischer Beitrag, auf der anderen Seite eine umfassende Aufarbeitung der Themen Migration und Flucht im Laufe der Jahrhunderte. Am Ende stehen Fragen, die typisch sind in unserer identitätspolitischen Zeit: Was ist eine Nation? Wie macht man aus Fremden Deutsche?
 
„Die neuen Deutschen“ hat keine einhellig positive Kritik in der deutschen Presse erhalten; dafür ist das Buch zu polarisierend. Es stieß und stößt Debatten an. Abgesehen davon ist es schwierig, der Hauptprämisse des Buches nicht zuzustimmen, die es darauf absieht, die berühmte Pascalsche Wette zur Existenz Gottes auf die Flüchtlingskrise zu übertragen. Mit Blick auf den Integrationsprozess wird man die Wette garantiert verlieren, wenn man sein Leben danach einrichtet, dass der Misserfolg eintritt. Entweder verliert man, weil die Integration misslingt – oder wie man sich geirrt hat. Geht man hingegen davon aus, dass die Integration ein Erfolg wird, hat man zumindest eine Möglichkeit, zu gewinnen.