Hege Randi Tørressen
Jugendroman wird Theater

„Bilder deiner großen Liebe"
„Bilder deiner großen Liebe" | Foto: ©Conny Mirbach

Ich wurde eingeladen, mir im Schauspiel Stuttgart eine Inszenierung von Wolfgang Herrndorfs Roman“ „Bilder deiner großen Liebe anzusehen. Bei dem Buch handelt es sich um die Fortsetzung des unterhaltsamen und gleichzeitig tiefgreifenden Jugendromans „Tschick“, der mit 2,4 Millionen verkauften Exemplaren zu einem Bestseller in Deutschland geworden war.


 

„Tschick“ erzählt von zwei 14 Jahre alten Jungen. Der eine von ihnen, Maik, ist ein Außenseiter in der Schule, der nicht zum Geburtstag von Tatjana eingeladen wird, in die er heimlich verliebt ist. Er kommt aus einer wohlhabenden Mittelklassefamilie mit großen Problemen. In den Sommerferien begibt sich seine Mutter in eine Entzugsklinik, die sie „Beautyfarm“ nennt. Gleichzeitig ist sein Vater auf „Geschäftsreise“, doch eigentlich macht er Urlaub mit seiner jungen Assistentin.
 
Der andere, Tschick, ist ein junger russischer Einwanderer, der ebenfalls nirgendwohin zu passen scheint. Am ersten Ferientag taucht er mit einem gestohlenen Lada bei Maik auf und überredet ihn, gemeinsam zu seinem Großvater zu fahren. Ohne Karte und Kompass fahren sie über die Dörfer Ostdeutschlands. Verschiedene Menschen helfen ihnen weiter.
 
An einer Müllkippe treffen sie Isa, ein herumstreunendes Mädchen in ihrem Alter. Sie zeigt ihnen, wo sie einen Gummischlauch finden können, mit dem sie Benzin aus anderen Autos absaugen. Isa darf mit den Jungs mitfahren; und als Maik fast einen Kuss von ihr bekommt, ist Tatjana schnell vergessen.

Gemeinsam besteigen die drei Jugendlichen einen Berg, wo sie ihre Initialen in einen Baum ritzen und einander versprechen, sich in fünfzig Jahren wieder an diesem Ort zu treffen. Die Fahrt endet mit einem Verkehrsunfall und anschließendem Gerichtsverfahren, in dem die beiden Jungen ihre Schuld bekennen.
 
„Tschick“ ist ein unterhaltsamer und doch auch tiefgreifender Roman. Angelegt als Roadmovie für Jugendliche, behandelt er wichtige Themen wie Einsamkeit, Minderwertigkeitskomplexe, Freundschaft, Homosexualität und Liebe. Außerdem zeigt er seinen jungen Lesern, dass man wie Espen Askeladd aus den norwegischen Volksmärchen bereit sein muss, ein Risiko einzugehen, aber auch Menschen zu vertrauen, wenn man etwas erreichen will.
 
Wer ist der Autor?

Das Buch machte mich neugierig auf den Autor, Wolfgang Herrndorf (1965-2013). 2010 startete er einen Blog namens „Arbeit und Struktur“, nachdem ihm ein unheilbarer Hirntumor diagnostiziert worden war. In Form eines Tagebuchs beschrieb er, wie ihm seine schriftstellerische Tätigkeit Kraft gab.
 
Als ihm klar wurde, dass er noch kurze Zeit zu leben hat, intensivierte er sein Schreiben. Er begann den Roman „Bilder einer großen Liebe“ - eine Art Fortsetzung von „Tschick“, allerdings diesmal mit Isa als Hauptperson. Ihm gelang es nicht mehr, das Buch fertigzustellen. Da die Folgen der Krankheit sein Bewusstsein massiv zu stören drohten, beschloss er, sich das Leben zu nehmen.
 
Die Fortsetzung
„Bilder deiner großen Liebe“ erschien 2014 und erhielt den Untertitel „Ein unvollendeter Roman“. Das Buch handelt von einer jungen Frau, die völlig verloren wirkt. Es ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob ihre Erzählungen auf wirklichen Begebenheiten beruhen oder Resultat von Wahnvorstellungen sind. Die Sprache ist poetisch, kräftig und wortreich.
 
Wie schon ”Tschick” ist ”Bilder deiner großen Liebe” eine Art Stationendrama. Die Hauptfigur bewegt sich von Ort zu Ort und begegnet ständig neuen Männern. Die Leser fühlen sich schnell mit Isa verbunden und hoffen, dass ihr nichts Schlimmes passiert. Denn im Gegensatz zu Maik und Tschick trifft sie keine Menschen, denen sie vertrauen kann; sie ist ganz auf sich allein angewiesen. Das macht sie viel einsamer als die beiden Jungen.
 
Bearbeitungen für Theater und Film
Ich habe selten Jugendbücher gelesen, die mich so stark ergriffen haben. Deshalb wundert es mich nicht, dass diese Romane für das Theater und den Film bearbeitet wurden.
 
Im Herbst 2011wurde Robert Koalls Dramatisierung von „Tschick“ in der Regie von Jan Gehler am Staatsschauspiel Dresden inszeniert. In der Spielzeit 2012/13 gehörte diese Bearbeitung zu den meistgespielten Stücken an deutschen Theatern.
 
Als die Vorstellung „Bilder deiner großen Liebe“ im Herbst 2016 in Stuttgart Premiere hatte, war das erprobte Duo Robert Koall und Jan Gehler erneut für Dramatisierung bzw. Regie verantwortlich. Isa wurde von der jungen Schauspielerin Lea Ruckpaul gespielt. Sie vollbrachte den schwierigen Balanceakt, ihre verletzbare und verzweifelte Figur mit genug Humor und Leichtigkeit aufzuladen. Das Publikum konnte sich dem Schicksal des jungen Mädchens öffnen und war gerührt. Alle Männerfiguren waren zu einer einzigen verschmolzen, dargestellt von Wolfgang Michalek. Er schafft es immer wieder, auf Isas Gefühle einzugehen und sie in eine positive Richtung zu lenken.
 
Das Bühnenbild bestand aus einer einfachen schwarzen Schräge mit einer Falltür und einer von hinten angeleuchteten Leinwand. Dieses Szenario funktionierte ausgezeichnet als Schiff, Wiese, Autobahn und Müllhalde.
 
Am Tag nach der Erstaufführung am Schauspiel Stuttgart hatte die Verfilmung von „Tschick“ Premiere in Deutschland. Um das Kinopublikum ins Theater, zur Fortsetzung des Stoffes, zu locken, gewährte das Schauspiel Stuttgart 20 Prozent Rabatt auf alle Theaterkarten.
 
Der Roman „Tschick“ erschien 2013 mit dem Untertitel „Adieu Berlin“ in norwegischer Übersetzung. Ich hoffe, dass auch der Film in Norwegen gezeigt wird. Und wer weiß – vielleicht sehen wir „Tschick“ und „Bilder deiner großen Liebe“ bald auf norwegischen Bühnen?