Berliner Theatertreffen 2017
Prä-eskalative Atmosphären

„Die Vernichtung“ von Olga Bach und Ersan Mondtag am Konzert Theater Bern, Uraufführung 15. Oktober 2016
„Die Vernichtung“ von Olga Bach und Ersan Mondtag am Konzert Theater Bern, Uraufführung 15. Oktober 2016 | © Birgit Hupfeld

Dorothea Marcus und Till Briegleb, zwei Jurymitglieder des Berliner Theatertreffens, über den Stand der deutschsprachigen Bühnen, die Sinnhaftigkeit von Quoten, Jurydiskussionen und Hotelzimmer.
 

Frau Marcus, Herr Briegleb: 377 Inszenierungen in 63 verschiedenen Städten haben Sie und Ihre Jurykolleginnen und -kollegen in den vergangenen zwölf Monaten insgesamt gesehen. Wie viele Nächte haben Sie in Hotelzimmern verbracht?
 
Dorothea Marcus: Ich habe extra für Sie nachgezählt: etwa 20, aber dazu kommen noch fünf Nächte im Nachtzug und 12 Privatübernachtungen bei Freunden, die in diesem Fall zum Glück in diversen Städten verteilt sind. Auf jeden Fall: rund 40 Nächte nicht zu Hause.
 
Till Briegleb: Meine letzte Dienstreisen-Aufstellung für die Steuer stammt aus 2015 und besagt, dass ich 162 Reisetage absolviert habe. Dreiviertel davon bin ich circa für das Theatertreffen gereist. Das dürfte 2016 ähnlich gewesen sein.

Kaum jemand hat also die Theaterszene derart gut im Blick wie Sie. Welche Entwicklungen sind Ihnen aufgefallen?
 
Briegleb: Die Weltpolitik ist prägend im Theater angekommen und verursacht dort so ein vernehmliches Unbehagen, dass Themen und Inszenierungskonzepte ausdrücklicher werden. Als Profis in der Bewertung von Sprache – verbaler und nonverbaler – fühlen sich Regisseure und Schauspieler offensichtlich besonders provoziert vom Versagen vernünftiger Verständigung, wie es durch den irritierenden Siegeszug des Populismus global zu einem dominanten Kommunikationsakt wurde.
 
Wie äußert sich das?
 
Briegleb: Dieser erdrutschartige Abgang gewohnter Formen des konsensorientierten Dialogs und die fast dämonische Attraktivität neuer Führergestalten, die vor allem ihre schamlos zur Schau gestellte Ignoranz gegenüber Wahrheit, Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Kausalität auszeichnet, bildet sich in vielen der eingeladenen Inszenierungen symbolisch ab: Brüche und Schleifen sind wiederkehrende Metaphern und Themen mit einem durchaus ermahnenden Unterton, dass Geschichte sich strukturell wiederholen kann. Fatale Gruppendynamiken und neue Lust an Uniformität beschäftigen die Regisseure in vielen der eingeladenen Stücke. Und die Momente, in denen Angst und Dummheit sich zu Macht verbinden, sind auch in zahlreichen Arbeiten zentrales Anliegen, die in der Diskussion standen, aber dann nicht eingeladen wurden.
 

  • „Drei Schwestern“ von Simon Stone nach Anton Tschechow, Regie Simon Stone, Theater Basel, Uraufführung 10. Dezember 2016 © Sandra Then
    „Drei Schwestern“ von Simon Stone nach Anton Tschechow, Regie Simon Stone, Theater Basel, Uraufführung 10. Dezember 2016
  • „Schimmelreiter“ von Theodor Storm, Regie Johan Simons,  Thalia Theater Hamburg, Premiere 25. November 2016 © Krafft Angerer
    „Schimmelreiter“ von Theodor Storm, Regie Johan Simons, Thalia Theater Hamburg, Premiere 25. November 2016
  • Die Jury 2017: Stephan Reuter, Till Briegleb, Dorothea Marcus, Christian Rakow, Eva Behrendt, Shirin Sojitrawalla, Margarete Affenzeller (v.l.n.r.) © Piero Chiussi
    Die Jury 2017: Stephan Reuter, Till Briegleb, Dorothea Marcus, Christian Rakow, Eva Behrendt, Shirin Sojitrawalla, Margarete Affenzeller (v.l.n.r.)
  • „Five Easy Pieces“ von Milo Rau, Eine Produktion des International Institute of Political Murder und CAMPO Gent. In Koproduktion mit Sophiensaele, Berlin / Kunstenfestivaldesarts Brussels 2016 / Münchner Kammerspiele / La Bâtie – Festival de Genève / Kaserne Basel / Gessnerallee Zürich / Singapore International Festival of Arts (SIFA) / SICK! Festival UK / Le phénix scène nationale Valenciennes pôle européen de création. Uraufführung 14. Mai 2016 Kunstenfestivaldesartes Brüssel © Phile Deprez
    „Five Easy Pieces“ von Milo Rau, Eine Produktion des International Institute of Political Murder und CAMPO Gent. In Koproduktion mit Sophiensaele, Berlin / Kunstenfestivaldesarts Brussels 2016 / Münchner Kammerspiele / La Bâtie – Festival de Genève / Kaserne Basel / Gessnerallee Zürich / Singapore International Festival of Arts (SIFA) / SICK! Festival UK / Le phénix scène nationale Valenciennes pôle européen de création. Uraufführung 14. Mai 2016 Kunstenfestivaldesartes Brüssel
Haben Sie Ähnliches beobachtet, Frau Marcus?
 
Marcus: Mir ist vor allem das Erzählen von Atmosphären aufgefallen, die man vielleicht als „prä-eskalativ“ bezeichnen könnte: eine tiefgreifende Veränderung der Welt vorausahnend, aber sie nicht konkret benennend. Die stylisch überstilisiert Verzweiflung der „Drei Schwestern“ bei Simon Stone am Theater Basel, die sehnsüchtige Coolness der verlorenen Hipster bei „Die Vernichtung“ von Olga Bach und Ersan Mondtag am Konzert Theater Bern, die abgrundtiefe Einsamkeit des Vernünftigen beim Johan Simons „Schimmelreiter“ von Theodor Storm am Thalia Theater Hamburg passen für mich in dieses Bild. Aufgefallen ist mir auch die immer größer werdende Rolle des Installativen, die Querbezüge zur Bildenden Kunst.
 
Für Sie, Frau Marcus, war es auch das erste Jury-Jahr. Was hat Sie am meisten überrascht?
 
Marcus: Dass die vielen Reisen durchaus mit meinem Alltag zu verbinden sind, und dass es bei weitem weniger einsam und anstrengend ist, als ich befürchtet habe. Sondern: inspirierend, bereichernd, ein Privileg.
 
Herr Briegleb, Sie sind dagegen schon seit 2015 in der Jury und haben dieses Jahr  turnusmäßig fünf neue Kolleginnen und Kollegen bekommen. Der Altersdurchschnitt ist jetzt niedriger und der Männer-Frauen-Anteil ausgeglichener. Hat das tatsächlich nennenswerte Konsequenzen für die Auswahl, oder werden die Auswirkungen der Jurystruktur allgemein überschätzt?
 
Briegleb: Im Jahr davor hat eine Jury mit einer Frau und sechs Männern mit einem „höheren Altersdurchschnitt“ sechs Regisseurinnen und fünf Debütanten eingeladen. In diesem Jahr saßen vier Frauen und drei Männer mit weniger Gesamtlebensjahren zusammen und fanden nur noch eine Regisseurin und vier Debütanten (die aber alle um die Fünfzig sind). Wie herrlich, dass diese Entscheidungen nicht steuerbar sind.
 
Mit dem Münchner Residenztheater, der Berliner Volksbühne und dem Thalia Theater Hamburg sind „nur“ drei Metropolen-Flaggschiffe dabei; ansonsten viele kleinere Häuser und zwei freie Produktionen: Ist das Zufall oder ein belastbarer Trend?
 
Briegleb: Ich halte das ein wenig für zufällig, denn dieselben Regisseure, die in Bern, Mainz, Leipzig oder Basel ihre Einladung erhalten haben, arbeiten auch an den Stadttheatern in Berlin, Hamburg, Wien oder München. Die schöne Aussage, die man damit vielleicht verbinden kann, ist, dass jedes Haus eine theatertreffenreife Inszenierung auf die Beine stellen kann, wenn die künstlerische Leitung bereit ist, wirklich etwas zu wagen.
 
Marcus: Wenn es einen Trend gibt, dann am eindeutigsten diesen: Es wird immer mehr international koproduziert, mit immer mehr größeren Partner. Demzufolge steckt mehr Geld in den Produktionen. Die Grenzen von Stadttheater, Freier Szene und auch den Gattungen verwischen immer stärker – das sieht man nicht zuletzt daran, dass eine Arbeit wie „Five Easy Pieces“ von Milo Rau auch zum Festival Impulse eingeladen ist. Die Theaterlandschaft wird hybrider, durchlässiger, internationaler.
 
Worüber haben Sie am intensivsten gestritten in der Jury?
 
Briegleb: Über diverse Produktionen, die dann nicht eingeladen wurden. Die schließlich beschlossene Auswahl ist die mit weitem Abstand konfliktfreieste, die ich in meinem Jurydasein erlebt habe. Das betrifft nicht alle Produktionen, aber die Menge der einstimmig gewählten.
 
Haben Sie die Diskussionen auch so harmonisch empfunden, Frau Marcus?
 
Marcus: Es wurde durchaus gestritten, allerdings bei weitem weniger, als ich erwartet hatte. Das konnte sich an Detailfragen entzünden: Wie hybrid und durchlässig darf eine Kunstform sein, um relevant fürs Theatertreffen zu sein? Wo verlaufen die Grenzen zwischen den Genres, ab wann ist etwas etwa nur dem Tanz zuzuordnen? Was bedeutet „beliebig“ als künstlerisches Werturteil und was „eitel“? Wir haben aber auch darüber gestritten, wie Kolonialismus und Populismus abbildbar sind. In jedem Fall war es spannend.
 
Es ist ein eingespieltes Ritual: Kaum erscheint die Auswahl fürs Theatertreffen, wird Kritik laut. Zu wenig „Provinz“, zu wenig Osten oder – wie in diesem Jahr – zu wenig Regisseurinnen, lauten wechselweise die Vorwürfe. Haben Sie darüber in der Jury diskutiert – und wären Quoten überhaupt ein sinnvolles Instrument in der Kunst?
 
Marcus: Quoten sind sicher kein sinnvolles Instrument, aber, wie meine Kollegin Margarete Affenzeller einmal gesagt hat: Man muss die Frauen dort aufsuchen, wo man sie versteckt hat – also eher auf Hinterbühnen, in Provinztheatern, in kleinen Formaten. Das haben wir versucht. Da wir trotzdem nur eine weibliche Regiehandschrift fanden, die wir einladen wollten – Claudia Bauer mit ihrer Leipziger Inszenierung „89/90“ –   haben wir über die Frauenfrage sehr intensiv diskutiert. Von 377 gesichteten Inszenierungen waren eben doch nur ein Viertel von Frauen: Ich hätte nie gedacht, dass dies in der Saison 2016/17 immer noch der Fall ist. Sie sind einfach dramatisch unterrepräsentiert.
 
Briegleb: Ich kenne keine Jury, egal ob beim Theatertreffen oder sonstwo, in der Ressentiments gegen Frauen, Provinz oder den Osten auch nur die winzigste Rolle spielen würden. Ganz ehrlich, dieser Verdacht hinter so mancher Kritik ist komplett haltlos. Diskutiert werden Kunstwerke der performativen Art, die für sich und in Konkurrenz zu den anderen Stücken mehrheitlich überzeugen müssen. Ob die von zehn Männern, zehn Frauen oder zehn Robotern inszeniert wurden oder zufällig alle aus Aachen, Anklam oder Ausgsburg kommen, darf meiner Meinung nach in einer offenen Konkurrenz keine Rolle spielen. Dass es in den Jurys immer wieder Wünsche gibt, ein Thema wie die „Flüchtlinge“ oder bestimmte Landesteile mit geringerer Präsenz in der Vergangenheit strategisch nach vorne zu bringen, ist wahr, aber es führt meiner Erfahrung nach nur zu einer schwächeren Auswahl – die der Idee dieses Festivals, eine Stärkung der Theater als wichtige Plattform für Gegenwartskultur zu bewirken, eher abträglich ist.