Junge Chöre
Mitsingen statt vorsingen

Ein spontaner Chor-Kurs mit Oliver Gies beim Branchentreff chor.com
Ein spontaner Chor-Kurs mit Oliver Gies beim Branchentreff chor.com | Foto © Reiner Engel / chor.com

Die traditionellen deutschen Männerchöre sehen im 21. Jahrhundert ziemlich alt aus. Dafür boomen Mitsingformate wie das „Rudelsingen“. Die Lust der Deutschen am Singen jedenfalls ist ungebrochen.

Eine In-Location in Darmstadt, ein langgestreckter Keller mit rauen Bruchsteinwänden und Tonnengewölbe. 200 Menschen, meist mittleren Alters, haben sich hier zum „Rudelsingen“ versammelt. Das klingt gefährlich, ist aber harmlos. Vorne steht „Rudelführer“ Jürgen Siewert, der diese Art des gemeinsamen Singens ins Leben gerufen hat. Der Erziehungswissenschaftler an der Uni Siegen und begeisterte Chorleiter bedient ein Laptop, mit dem die Liedtexte auf eine Leinwand gebeamt werden, gibt die Einsätze und animiert das Publikum, sein Kompagnon Steffen Walter bearbeitet das Keyboard.

Mit Music von John Miles legt die Gruppe los. Dann geht es weiter: Popsongs, Schlager, Hits aus den aktuellen Charts, mit Funiculi, Funiculà auch mal ein italienischer Evergreen. Und gegen Ende sogar „echt Oper“, so Siewert: der populäre Gefangenenchor aus Giuseppe Verdis „Nabucco“. Obwohl dieser Spontan-Chor nie zusammen geprobt hat, geschweige denn aufgetreten ist und keine Notenblätter ausgegeben wurden, muss man sich nicht die Ohren zuhalten. Falsche Töne gehen unter im enthusiastischen Dauer-Forte. „Die Leute wollen einfach singen, im Chor – ohne üben, machen, tun, sondern sich treffen und loslegen“, sagt Siewert. Besser in Gemeinschaft, als allein unter der Dusche.

Ein TV-Spot zum Rudelsingen

Tatsächlich gilt singen neben dem Effekt der Gemeinschaftsbildung auch medizinisch als gesundheitsfördernd. Es unterstützt Atem- und Darmtätigkeit, reguliert Herzschlag und Blutdruck, bringt den Kreislauf und die Sauerstoffsättigung des Blutes in Schwung. Neben den physischen Faktoren kann es auf psychischer Seite Selbstheilungskräfte, Konzentration, Kontaktfähigkeit unterstützen, Ärger und Stress bekämpfen, Verspannungen lösen, Aggressionen abbauen. Das hängt mit der Kontrolle des Atems zusammen, wirkt auf die körperliche und geistige Balance zurück und verstärkt damit letztlich das Gefühl von Vitalität. Kein Wunder also, dass singen als identitätsstiftende Handlung sowohl beim einzelnen wie auch in Gruppen eine positive Wirkung hinterlässt.       

Chor und Tradition

Von dem, was man sich gemeinhin unter deutscher Chortradition vorstellt, sind fröhlich-unverbindliche Events wie das „Rudelsingen" allerdings Lichtjahre entfernt. Und die überwiegend im 19. Jahrhundert im Zeichen eines erstarkenden Nationalismus gegründeten, meist sehr von Männern dominierten Liedertafeln und Gesangsvereine sehen dabei ganz schön alt aus. In der Tat kämpfen die klassischen Männerchöre, die traditionelles Liedgut pflegen, mit Nachwuchsproblemen, insbesondere auf dem Land bestätigt Nicole Eisinger vom Deutschen Chorverband, in dem rund 21.000 der etwa 60.000 Chöre in Deutschland organisiert sind.

Doch insgesamt sei die deutsche Chorszene quicklebendig. Kinder- und Jugendchöre hätten beispielsweise in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom erlebt, sagt Friederike Dahlmann, Geschäftsführerin von Pueri Cantores, der Vereinigung katholische Knaben-, Mädchen-, Kinder- und Jugendchöre. Vor zehn Jahren gab es 300 solcher Chöre, heute sind es 450 mit insgesamt 19.000 jungen Sängerinnen und Sängern. Ähnliches ist vom Chorverband der Evangelischen Kirche in Deutschland (CEK) zu hören. Summa summarum verzeichneten die 28 Deutschen Chorverbände, weltliche wie geistliche, im Jahre 2015/16 rund 2,156 Millionen Mitglieder (Quelle: statista.com).

Aufschwung, warum?

Die Gründe für den Aufschwung lassen sich nicht eindeutig nachweisen. Womöglich spielen die vor allem bei Jugendlichen beliebten Castingshows im Fernsehen eine Rolle, die seit 2002 unter dem Signum „Deutschland sucht den Superstar“ und mit darauf folgenden Konkurrenz-Formaten wie „The Voice Of Germany“ oder „Voice Kids“ Stimmnachwuchs auf die TV-Bühne locken. Gesicherte Zahlen existieren bislang nicht. Wahrscheinlich trägt neben der medial vermittelten Euphorie auch die intensivere Jugendarbeit der Chorverbände zur anhaltenden Euphorie für das Singen bei – oder schlicht der Lauf der Zeit und die Tatsache, dass sich das Chorsingen inzwischen vom Ruf der Deutschtümelei und des muffigen Ewig-Gestrigen zu befreien vermochte.

„Das größte Nazi-Trauma dürften wir heute überwunden haben“, sagt Michael Betzner-Brandt, Musikpädagoge in Berlin und Organisator diverser „Mitsingformate“ nach dem Muster des Rudelsingens. Immerhin hatte die von den Nationalsozialisten genährte Begeisterung für monumentales Singen und der propagandistisch missbrauchten Einsatz von deutschem Liedgut für eine lang anhaltende Skepsis gegenüber allen Liedern und Singformen gesorgt, die sich auch nur entfernt mit den Aktivitäten der damaligen Jahre hätten in Verbindung bringen lassen können.
Ein Chor-Flashmob in Mainz

Die Lust am gemeinsamen Singen jedenfalls scheint heute wieder ungebrochen, trotz ablenkender digitaler Verführungen und mündet sogar in einen zunehmenden Trend vor allem bei jüngeren Leuten, sich längerfristig in Vereinsstrukturen einzubinden. Und die digitale Welt bietet überdies auch für das Chorsingen neue Möglichkeiten. Hippe Chor-Flashmobs finden auf Internetplattformen wie Youtube eine mit analogen Zeiten kaum vergleichbare Aufmerksamkeit. Flashmobs wie im Sommer 2013 in der Hamburger Europa-Passage oder auch im September 2017, als im Mainzer Kirschgarten Passanten Stairway To Heaven anstimmten, entwickeln sich zu viel geklickten Online-Ereignissen, die das Gefühl vom gemeinsamen Singen noch vervielfältigen.

Neue Formate, neue Medien

„Chorsingen als Kult, das scheint im 21. Jahrhundert wieder denkbar zu sein“, heißt es in einer 2014 vom Deutschen Musikrat und dem Deutschen Musikinformationszentrum veröffentlichten Studie über das „Laienmusizieren“. Dabei differenziert sich die Chorlandschaft, dem Trend zur Individualisierung folgend, immer weiter aus. Immer mehr Chöre spezialisieren sich auf ausgewählte Stilrichtungen, wie die Jazz- und Gospelchöre. Von letzteren gibt es der Studie zufolge bundesweit schon rund 3.000 mit 100.000 Mitgliedern. Andere Chöre konzentrieren sich auf Zielgruppen, wie die Schwulen- und Lesbenchöre, die auch in ihrem Repertoire ihre sexuelle Identität zum Thema machen, oft mit einer Prise Ironie. Wieder andere setzen auf Leistung und hohe künstlerische Qualität, wie die aus einer oberbayerischen Liedertafel hervorgegangene Chorgemeinschaft Neubeuern, die unter Leitung ihres Dirigenten Enoch zu Guttenberg schon in der New Yorker Carnegie Hall auftrat.

Aktuelle Renner aber sind die Mitsingformate. Neben den bereits erwähnten Chor-Flashmobs und dem „Rudelsingen“, gibt es die sogenannten Kneipenchöre, die „Sing de la sing“-Events oder die „Ich-kann-nicht-singen-Chöre“. Hier fehlen der Zwang zur Homogenität, zum Perfektionismus und der Konkurrenzgedanke, wie er in professionellen oder semi-professionellen Ensembles spürbar ist. Nach dem Motto „Mitmachen ist alles“ geht es in erster Linie um Spaß am Singen und ein Gemeinschaftsgefühl. Man verabredet sich, oft übers Internet, spontan ohne verbindliche Probentermine und Vereinsformalitäten. Ideal für eine schnelllebige, mobile Gesellschaft.
Der Berliner Kneipenchor in Aktion

Singen ohne Publikum

Man singt gewissermaßen für sich selbst, nicht für ein Publikum. „Es geht bei uns auch darum, sich beim Singen selbst zu spüren, in Kontakt mit den eigenen Stimmungen und Emotionen zu kommen“, sagt Betzner-Brandt, der den Berliner „Ich-kann-nicht-singen-Chor" leitet. Dabei treffen sich bis zu 100 sangesfreudige Menschen, um unter seiner Anleitung für einen Abend ein kleines Programm zu erarbeiten. Auch hier ohne Noten und feste Stimmgruppen in Form einer „Riesen-Karaoke“. Dabei stellte Betzner-Brandt fest, dass selbst mehrstimmiges Singen in diesem spontanen Setting nicht wie Katzenmusik klingen muss. „Statt des befürchteten Chaos ordnen sich die Töne wundersamer Weise zu Dreiklängen und komplexeren Akkorden. Es gibt durchaus so etwas wie ein natürliches Harmonieempfinden.“

Auf dem Höhepunkt der Migrationskrise gründete Betzner-Brandt in Berlin nach gleichem Muster einen interkulturellen Begegnungschor, in dem sich Flüchtlinge, ehrenamtliche Helfer und angestammte Berliner beim gemeinsamen Singen näherkommen können. „Singen ist die eigentliche Muttersprache der Menschen“. Dieser berühmte Satz aus dem Munde des großen Musikers Sir Yehudi Menuhin wurde und wird hier lebendig. Zumindest für ein paar Stunden.