Wenn Fremde miteinander diskutieren
Sich für andere Meinungen öffnen

Fremde diskutieren
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Wo ist der ”öffentliche Raum” – unser moderner Marktplatz? Und wie kommunizieren wir dort? Verwandeln wir alle uns hinter Bildschirmen zu kleinen Trollen? Ist die Entwicklung von News-Feeds in tabloiden Nachrichtenportalen repräsentativ für die Richtung, in die wir uns als Mitmenschen bewegen?

Nämlich rückwärts – jeder in seine Filterblase hinein, wo wir aus Mücken Elefanten machen und Pranger aufstellen – oder eine Kultur erschaffen, in der wir hinter dem Schutz von Masken ein fremdenfeindliches, kränkendes und hetzendes Verhalten an den Tag legen.
 
Wird die Zuspitzung von Kommunikation im öffentlichen Raum von Algorithmen generiert, deren Grundlage unser Sensationshunger und unser Blutdurst sind? Und ist diese affektive Polarisierung auf dem besten Weg, echte Haltungen zu etablieren? Haben wir keine Toleranz mehr für Meinungsäußerungen, die unserer eigenen Lebensanschauung nicht entsprechen? In den gleichen Foren, in denen polarisierende Diskussionen stattfinden, wird die öffentliche Gesprächskultur thematisiert. Auch Kunst und Literatur widmen sich dem Phänomen. Der dänische Schriftsteller Carsten Jensen fragt in seinem neuen Buch „Kjellermennesker“ (Kellermenschen), ob der Populismus nicht eine Art der Psychotherapie für gefährdete Menschen ist, die von ihrer Unsicherheit und ihrem Selbsthass befreit werden wollen, um ihre Verachtung auf andere richten zu können. Aber sind wir wirklich so feindlich gegeneinander eingestellt?

Initiative "Deutschland spricht"

Die Forschung zeigt, dass wir Fürsorge und Empathie nur für uns schon Bekanntes aufbringen können. Was unsere Fürsorge anzieht, wollen wir verstehen und bewahren. Was passiert nun, wenn wir dem Anderen begegnen, um sozusagen ohne Schild und Maske Meinungen mit ihm auszutauschen? Dies versucht die Initiative „Deutschland spricht“ herauszufinden und darzulegen. Am Sonntag, dem 16. September luden die Zeit und zehn weitere Medienhäuser Menschen in ganz Deutschland mit unterschiedlicher Meinung zu einem Zwiegespräch ein. Von Angesicht zu Angesicht. Die Veranstalter hatten den Wunsch, ans Licht zu bringen, was uns verbindet – nicht so sehr, was uns unterscheidet.
 
Während des Auswahlprozesses im Vorfeld der Gesprächsaktion wurden potenzielle Teilnehmer gebeten, Fragen zu ihren politischen Standpunkten zu beantworten. Unter anderem sollten sie Stellung dazu beziehen, ob sie Grenzkontrollen verschärfen würden, ob Donald Trump gut für die USA ist, ob die Innenstädte in Deutschland autofrei sein sollten, ob es richtig wäre, für Fleisch eine höhere Mehrwertsteuer zu erheben. Eine Frage bezog sich auch auf die Metoo-Kampagne.

 28.000 Deutsche beantworteten Fragen dieser Art auf digitalen Plattformen, die die elf Medienhäuser zur Verfügung gestellt hatten. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz wurden nun „passende“ Partner zugeordnet, die sich zu einem Gespräch treffen sollten. „Passend“ hieß in diesem Fall zwei Menschen, deren politische Ansichten so weit wie möglich auseinandergingen, die aber doch in der Nähe voneinander wohnten, sodass es mögliche andere Bezugspunkte gab.
 
Das Ergebnis dieser Vermittlung waren 10.000 Paare, die miteinander diskutieren wollten. Am Tag der Gesprächsaktion saßen sich zwei Menschen unterschiedlicher Meinung gegenüber, entweder an einem öffentlichen Ort, auf den sie sich zuvor geeinigt hatten, z.B. in einem Café ihrer Umgebung, oder auch an einem Ort, den die Veranstalter vorher festgelegt hatten. Alle Teilnehmer der Aktion begegneten sich zum selben Zeitpunkt.

Menschen in ein Gespräch bringen

Schon bevor die erste Ausgabe von „Deutschland spricht“ über die Bühne ging, bemühten sich Medien an verschiedenen Orten der Welt darum, Menschen in ein Gespräch zu bringen, darunter die dänische Zeitung Politiken, La Repubblica aus Italien und Globe and Mail aus Kanada. Auch in Norwegen gibt es Anstrengungen, das Konzept zu etablieren. Auf Initiative der Zeitungen Morgenbladet und Dagens Næringsliv sowie des Norwegischen Rundfunks (NRK) soll im Frühjahr 2019 landesweit die erste Ausgabe von „Hele Norge Snakker“ (Ganz Norwegen spricht) stattfinden.
 
Sten Inge Jørgensen, Journalist beim Morgenbladet, erklärt, welche Intentionen er mit dem Projekt verbindet:
„Das Ziel ist nicht unbedingt, dass die Leute einer Meinung werden. Wir sind nun mal verschieden und haben völlig unterschiedliche Anschauungen – wir sind alle Teil einer Dissensgemeinschaft, und so soll es auch sein. Genau aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir miteinander sprechen. Und wir in Europa sind nicht so polarisiert in unseren Meinungen, wie es die Medien gerne hätten. Ganz im Gegenteil. Dieses Projekt ist auch als prophylaktische Maßnahme gedacht, um Tendenzen entgegenzuwirken, wie wir sie in den USA und Großbritannien beobachten können, wo die Fronten verhärtet sind und großen Einfluss auf die Bevölkerung haben.“
 
Dass sich die Situation weltweit so unterschiedlich darstellt, schreibt Jørgensen in erster Linie den enormen sozialen und ökonomischen Ungleichheiten in Klassegesellschaften wie den USA und Großbritannien zu. Er weist darauf hin, dass es sich bei diesen Ländern um weniger ausgebaute Wohlfahrtsstaaten handelt, mit weniger Vertrauen zu den Eliten, den Politikern und dem System als solchem. Auch die Analyse der (anonymisierten) Daten in Zusammenhang mit „Deutschland spricht“ legt nahe, dass das Phänomen der Polarisierung eher als mediengeschaffene Bestie zu interpretieren ist und mit den faktischen Verhältnissen in den meisten Ländern Europas wenig zu tun hat. Die Evaluierung des Aktionstages bestätigte, was sich die Veranstalter erhofft hatten – nämlich dass Menschen mit unterschiedlicher Meinung im Gespräch von Angesicht zu Angesicht weitaus zivilisierter, toleranter und einfühlsamer miteinander umgingen, als es die Kommentarflächen im Cyberspace vermuten lassen.   

Im letzten Abschnitt von Carsten Jensens erwähntem Buch „Kjellermennesker“ heißt es: „Der populistisch inszenierte Gegensatz zwischen dem „Volk“ und der „Elite“ ist nichts anderes als eine Wirtshausrauferei im Vorgarten der Katastrophe.“ Das Rezept für unseren eigenen Untergang bestehe darin, den Gedanken eines Wir versus Ihr aufrechtzuerhalten. So verstanden leuchtet der Nutzen eines Konzepts ”Die ganze Welt spricht (miteiannder)“ unmittelbar ein.