Interview mit Karl Ove Knausgård
Den Wert der Welt finden

Karl Ove Knausgård
Karl Ove Knausgård | Foto: ©Thomas Wågström

"Wir sehen die Welt, die wir wissen wir sehen. Wir haben Gewohnheiten, Vorstellungen und Vorurteile. Für uns ist die Welt irgendwie schon etabliert, und so sehen wir die meiste Zeit nicht mehr so viel Anderes. Darum, glaube ich, gibt es Kunst und Literatur. Es ist ein Versuch, die Welt neu zu sehen."

Karl Ove, wir sind tatsächlich in Arendal, dem Ort deiner Kindheit. Wie würdest du diese Stadt einem Berliner beschreiben?

Das erste woran ich denke, wenn ich hierher komme ist der Schären-Garten. Es ist also eine Stadt, die sich dem Meer zuwendet und dem Torungen-Leuchtturm – also eine sehr maritime Stadt. Eine Hafenstadt, von denen es nicht so viele gibt. Daran denke ich, wenn ich her komme.

Gibt es für dich eine Verbindung zwischen trommeln und schreiben? Wenn du Trommeln als Kunst der Begrenzung bezeichnest, ist dein Schreiben wohl eher eine freie, offene Landschaft – in gewisser Weise also das Gegenteil?

Die einzige Verbindung für mich persönlich ist, dass beides mit dem Willen zu tun hat. Ich kann ja in Wirklichkeit gar nicht trommeln und bin kein Schlagzeuger. Da ist ein Wille in den Dingen…

Was deine Trommelfertigkeiten angeht, finde ich, du stellst dein Licht ganz schön unter den Scheffel.

(Lacht) Aber Musik und Schreiben hat eine Menge Verbindungen. Für mich geht es beim Schreiben darum, jenseits der Gedanken und Reflektionen zu kommen. Wenn ich gut schreibe, weiß ich nicht, was ich mache. Da geht es nur darum, darin zu bleiben.

Es absorbiert dich vollständig?

Ja. Und es ist, als ob es nichts Anderes mehr gebe. Davon hat auch die Musik sehr viel – es sind nicht die Gedanken – es sind nur Gefühle, Stimmungen und Gegenwart. Diese Gegenwart, die man in der Musik haben kann, die habe ich auch beim Schreiben. Ich glaube es war Rilke, der über die Musik gesagt hat, dass sie einen hochhebt und an anderer Stelle wieder absetzt. Das ist wahr. Das ist so, wie es sich für mich anfühlt.

Es liegt also etwas Mystisches in dieser Art des Schreibens? Du kommst in Räume, über die du dir nicht vollständig bewusst bist?

Es geht ja nur darum, an einen Ort zu kommen, wo es möglich ist zu schreiben. Dort hin komme ich nicht so oft, doch wenn es geschieht, dann passiert eine Menge. Und es ist nicht unbewusst oder unterbewusst. Es ist ganz in der Nähe davon. Selber schreibe ich immer am besten, wenn ich früh morgens aufstehe, noch nichts geschehen ist, und ich mich direkt ans Schreiben begebe.

Von der Welt der Träume aus…

Ja, so in etwa. Noch nichts ist geschehen, kein anderer ist dabei. Es gab noch nicht so viel Gehirn-Aktivität. Ich gleite einfach direkt hinein ins Schreiben.

Du hast ja gerade über alltägliche Details deines Lebens geschrieben, von Teetassen über volle Windeln, schmutziges Geschirr, bis zu klingelnden Telefonen. Wie schaffst du es, deine Faszination für die  ”kleinen Dinge” aufrecht zu erhalten? Goethe sagte mal ”Einen Regenbogen, der eine halbe Stunde steht, sieht keiner mehr an.”

An dem Regenbogen gehe ich selber auch vorbei und sehe ihn nicht. Doch wenn ich schreibe, dann mache ich es. Das ist es, was das Schreiben macht – es schafft eine Welt, die sichtbar wird – mehr sogar als im wirklichen Leben.

So wird es sichtbarer für dich?

Richtig. Und es ist genau darum, warum ich so viel über Details schreibe. Wir sehen die Welt, die wir wissen wir sehen. Wir haben Gewohnheiten, Vorstellungen und Vorurteile. Für uns ist die Welt irgendwie schon etabliert, und so sehen wir die meiste Zeit nicht mehr so viel Anderes. Darum, glaube ich, gibt es Kunst und Literatur. Es ist ein Versuch, die Welt neu zu sehen. Wie Ezra Pound (amerikanischer Autor) sagte - war er es nicht, der sagte ”Make it new”? Den Wert der Welt finden. Wir haben ja am Anfang schon ein wenig darüber gesprochen. Was ist das Kleine, das Nahe? Was ist das Große? Alles existiert, alles gibt es. Alles ist ein gleich wichtiger, gleich großer Teil der Welt.

Siri Hustvedt hat einmal gesagt: Ein Schriftsteller, egal, ob er publiziert hat oder nicht, muss ein Gefühl seiner eigenen Grandiosität haben. Es sieht aus, als hättest du dieses Gefühl, was dein Schreiben angeht, schon als junger 18jähriger Lehrer in Nordnorwegen gehabt, worüber man in Band vier lesen kann. Du wolltest schon damals der Welt zeigen, wer du bist als Autor. Es dauerte allerdings noch eine ganze Weile, bis sich dein Wunsch realisierte. Wie war das damals, als überhaupt nichts darauf hindeutete, dass du so erfolgreich werden würdest, wie du es heute bist?

Ich hatte damals eigentlich aufgegeben zu schreiben und hatte angefangen Kunstgeschichte zu studieren und Literatur. Ich dachte mir, ich könnte vielleicht Professor werden und mir akademische Grade erwerben.
Dann wurde ich von einem norwegischen Verleger, Geir Gulliksen, entdeckt, der etwas gelesen hatte, was ich geschrieben hatte. Er glaubte an mich und bestellte mich in sein Büro. Allein dort zu sitzen war für mich schon so fantastisch, obwohl noch nichts geschehen war. Es war genau das, was ich brauchte: Dass ein Mensch mich sah und an mich glaubte, der auch Macht hatte. Ohne das, hätte ich es nicht gekonnt. Selbst hatte ich keine Kraft mehr, ich brauchte jemanden von außen.

Was war denn geschehen, dass du so viel Kraft verloren hattest? Ich erinnere mich, dass du in Band vier ganz getrieben von dem Imperativ warst: Ich muss schreiben.

Das ist wahr, doch dann bin ich sooft vor die Wand gelaufen, dass nie etwas daraus geworden war. Ich dachte: Nun muss ich realistisch sein und Akademiker werden. Das Grandiose kommt ja auch aus seinem Gegenteil, was ein extrem niedriges Selbstbild bedeutet – das hängt sehr genau zusammen. Und so ist es nach wie vor für mich. Ich habe beide Teile. Immer.

Du musst zugleich eine enorme Fähigkeit haben, über Abgründe zu springen und davon fort zu kommen.

Schon – doch zwischen dem ersten Roman (”Ute av verden” – liegt noch nicht in deutscher Übersetzung vor) und dem zweiten Buch (”Alles hat seine Zeit”), in denen ich einfach nicht richtig schreiben konnte, ich war wie gelähmt und stand unter Leistungsdruck. Und nach dem zweiten Buch vergingen noch einmal vier bis fünf Jahre, obwohl ich jeden Tag schrieb und hoffte eines Tages würde etwas geschehen. Also ist das der Rat, den ich Nachwuchsautoren immer gebe: Es ist einfach so, dass du niemals aufgeben darfst. Wenn du zehn Jahre lang da sitzt und schreibst, unabhängig davon, wer du bist, so muss am Ende etwas Wertvolles dabei heraus kommen. Ich glaube das ist so. Doch nicht alle schaffen das.

Erinnerung und Phantasie liegen im Gehirn nahe beieinander. Wie hast du diesen Ausgleich gefunden, du schriebst ja lange Zeit nach den Ereignissen. Du musstest deinen Stoff verdichten, ein wenig erfinden und trotzdem auf deine Erinnerung bauen?

Das ist interessant. Ich wusste nicht, dass sich Erinnerung und Phantasie so nah beieinander befinden. Es ist auch meine Erfahrung beim Schreiben, dass es fast die gleiche Sache ist – etwas zu erinnern und etwas zu erschaffen. 

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