Über Nora Gomringers Text
Versionen von anderen Verbrechen

Die Toteninsel, Arnold Böcklin
Die Toteninsel, Arnold Böcklin | Foto: © Wikimedia Commons

In ihrem Gedicht „Versionen“ nimmt die deutsche Lyrikerin Nora Gomringer ihren Ausgangspunkt im Gemälde "Die Toteninsel", von Arnold Böcklin, und verwandelt den namenlosen Mann im Boot zu einer Version des norwegischen Terroristen. Die mystische Insel des Gemäldes wird dabei auch zu Utøya. Ihren Text kommentiert hier der norwegische Autor Simon Stranger:

Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem mir zum ersten Mal wirklich klar wurde, dass sich die Inseln, die ich im Sommer von der westnorwegischen Küste aus betrachten konnte, nicht wie lose Farbtupfer ausbreiteten, sondern mit der übrigen Landmasse zusammenhingen. Das wusste ich ja eigentlich, aber ich hatte nie zuvor darüber nachgedacht, dass diese Felsen und Kuppen, die sich da mit ihren Grasbüscheln und verstreuten Bäumen aus dem Meer erhoben, nicht auf andere Weise voneinander getrennt waren, als es meine Knie vom Rest meines Körpers waren, wenn sie aus dem Badewannenwasser herausragten. Dass jede Landfläche auf der Welt mit unterirdischen Bergen verbunden war, mit Tälern und Ebenen, die unsere Augen aber nicht sahen, weil sich diese Landschaften unter Wasser befanden.
 
Vor allem zu einer kleinen Insel hin schaute ich immer wieder, wenn ich bei Ebbe am Wasser spielte. Eine winzige Insel, die ganz für sich allein lag, zwei Kilometer vom Land entfernt, mit nur einem einzigen kleinen Haus, das verborgen  unter einem Gestrüpp aus dünnen und unansehnlichen Kiefern hervorstach wie die Haarbüschel auf dem Kopf eines Märchenriesen, der aus dem Meer auftauchte. 

Die mystische Insel des Gemäldes wird zu Utoya

In einem der Zimmer von Adolf Hitler hing ein Gemälde des Schweizer Malers Arnold Böcklin. Das Gemälde zeigt eine steil aus dem Meer emporragende Felseninsel, die den Charakter einer Festung annimmt. Auf dem Weg zu dieser Insel befindet sich eine einzelne Gestalt in einem Boot, in Weiß gekleidet, mit einem Sarg an Bord. Der Titel des Gemäldes ist „Die Toteninsel“. In ihrem Gedicht „Versionen“ nimmt die deutsche Lyrikerin Nora Gomringer ihren Ausgangspunkt in diesem Gemälde und verwandelt den namenlosen Mann im Boot zu einer Version des norwegischen Terroristen. Die mystische Insel des Gemäldes wird dabei auch zu Utøya.
 
Auf diese Weise werden Verbindungslinien gezogen. Das alte Gedankengut, das zum Dritten Reich führte, hat überlebt und manifestiert sich in den Handlungen des Terroristen, schreibt Nora Gomringer in einem Text über das Gedicht:

Adolf Hitler erstand 1936 die dritte Version von Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“ und hängte es zunächst in den Berghof und später in die Neue Reichskanzlei. Dieses Bild sprach zu Hitler, es faszinierte und bewegte ihn. In meinen Gedanken verschmolzen diese beiden Täter, diese beiden Inseln zu einem Text. Als der Norweger sich in einem wirren ersten Interview im Rahmen seiner Verurteilung an das Gedankengut der Nazis heftete und die NSU mit ihren Verbrechen als Vorbild nannte, entstand in meinen Gedanken ein Amalgam und die grässliche Gewissheit, dass auch seine Verbrechen letztlich Versionen von Versionen anderer Verbrechen im gleichen Gedankenmuster waren und wieder sein werden.

Simon Stranger Simon Stranger | Foto: ©Aschehoug forlag Einige Menschen sind wie Inseln. Sie bleiben allein zurück, sie verlieren oder vergessen ihre Beziehungen zu allen anderen Menschen, mit denen sie dort unten in der Tiefe verbunden sind. Und die Tiefe – die Berge unter der Oberfläche, die Sandflächen auf dem Meeresboden, die plötzlichen Furchen und Senken – bildet die Gesellschaft, die unter uns liegt, die uns zusammenhält.
 
Während der Buchmesse in Frankfurt hatte ich Gelegenheit, mich mit der norwegischen Autorin Åsne Seierstad zu unterhalten, die über ihr Buch „Einer von uns“ sprach. Es handelt vom norwegischen Terroristen, der im Osloer Regierungsviertel und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete.

Sie erzählte von einem jungen Mann, der zufälligerweise auch Simon hieß und an jenem fatalen Tag im Juli 2011 anderen Menschen dabei half, ein Versteck vor dem Terroristen zu finden. Nicht, um zu zeigen, wie mutig er ist, sondern, wie andere berichteten, mit einer ganz selbstverständlichen Natürlichkeit, die davon lebte, wie er selbst einst behandelt wurde.

So war er einfach erzogen worden. Seine Familie und seine Freunde beschreiben ihn als einen Menschen, der immer allen helfen wollte, der sich um andere kümmerte – wie aus einem Reflex heraus.  „Schaut man sich seinen Hintergrund an“, sagte Seierstad an diesem Vormittag, „dann sieht man, dass dieser Junge erwünscht war, dass man ihn liebte, sich um ihn kümmerte, und diese Freundlichkeit füllte seine ganze Existenz aus, wie das Natürlichste der Welt.“ Wie eine stabile Grundlage. Wie ein Berg.

Mit dem Terroristen von Utøya verhält es sich völlig anders. Schon in seiner frühesten Kindheit wurde er von seinem Vater verlassen. Seine Mutter zog den Verdacht des Jugendamtes auf sich. Der Junge war schnell ein Außenseiter, eine Insel, allein und isoliert. Wir Menschen wollen vor allem geliebt werden. Gelingt dies nicht, wollen wir bewundert werden. Gelingt auch das nicht, wollen wir gefürchtet werden.       Diese psychologischen Mechanismen lassen sich beunruhigend genau an diesem norwegischen Terroristen beobachten, der selbst zu einer Insel wurde, außerhalb jeder Gemeinschaft.
 
Manchmal frage ich mich, ob er wohl jemals verstehen wird, was er getan hat.

Das Licht in ihren Augen entzünden

Wird irgendwann der Augenblick kommen, wo alle Schichten des Hasses und der Konspiration von seinen Schultern und von seinen Augen fallen, sodass er sieht, wirklich sieht, was er getan hat? Wird irgendwann der Augenblick kommen, wo dieser Mensch in seiner Zelle erwacht und sich wirklich darüber im Klaren ist, wie viel Schmerz er verursacht hat, wie viele Leben er beendet, verändert, zerstört hat. Und für was?
 
Wie hätte das Leben des norwegischen Terroristen aussehen können, wenn er mehr gewagt hätte? Wenn er sich nicht versteckt hätte, allem ausgewichen wäre, was uns Menschen wirklich etwas abverlangt, sich nicht eingeschlossen hätte, um im Netz Computerspiele zu spielen, sich nicht durch Bücher Gefahren einreden lassen hätte, wenn er seine eigene Rolle, sein Ego nicht aufblasen hätte müssen, um dem Schmerz standhalten zu können, das seinem eigenen Spiegelbild innewohnte, dem Schweigen der Anderen und der mangelnden Aufmerksamkeit der Frauen? Wird er jemals einsehen, wie viel Leid er zugefügt hat –  sich selbst und so vielen anderen? Dieselben Fragen kann man auch Adolf Hitler stellen. In den Biografien über ihn wird er als schüchterner und unbeholfener junger Mann geschildert, der sich in Gesellschaft unwohl fühlte und den Monolog dem Dialog vorzog. Eine Insel.
 
 
Böcklin malt ein Boot, das anlegt,
umschattet,
soghaft.
Ein Bootsmann, namenlos,
allzu willig, sich preiszugeben.
 
 
Allzu willig, sich preiszugeben, schreibt Nora Gomringer. Allzu willig, sich preiszugeben.
 
Einige Menschen sind wie Inseln. Vielleicht ist es die Aufgabe der Gesellschaft, sie zu sehen. Zu ihnen hinüber zu rudern, das Licht in ihren Augen zu entzünden. So wie ich mich daran erinnern kann, dass ich zu dieser Insel schaute, mitten im Fjord in Westnorwegen, abends, wenn die Dunkelheit Fjord und Himmel zusammenwachsen ließ, sodass die Insel wie eine Silhouette anmutete. Da konnte ich manchmal Licht an den Fenstern des kleinen Hauses aufscheinen sehen, und ich wusste, dass jemand zu Hause war. Dann wollte ich immer zum Lagerfeuer zurückkehren, wo die ganze Familie versammelt war. Zurück zur Gemeinschaft.