Über Monster und Utøya
Schreiben über das Unvorstellbare

Die Toteninsel, Arnold Böcklin
©Goethe-Institut Norwegen, Dezember 2019

Die deutsche Autorin Nora Gomringer erklärt wie das Gedicht "Versionen" entstand. Warum entschied sie sich für den norwegischen Terroristen als eines der Monster-Wesen, die sie beschreiben wollte? Der Artikel von Simon Stranger, "Versionen von Verbrechen"(im Magazin), kommentiert Gomringers Text.

Versionen
 
und
ein Boot legt an
Böcklin malt ein Boot, das anlegt,
umschattet,
soghaft.
Ein Bootsmann, namenlos,
allzu willig, sich preiszugeben.
Hitler besaß eine Version,
Utoya wurde eine
Insel
umschattet,
soghaft.
Ein Boot legt an,
an Bord ein Tod
ein Übergangsadvokat
Böcklin malt ein Boot, das anlegt.
Ein Bootsmann namenlos,
Versionen von Breivik.
An Bord ein Tod,
friedlos,
umsogen,
schattenhaft,
schemenlos,
eine Insel
und


Am 22. Juli 2011 tötete ein Mann, der viele Namen hatte und heute auf neue Namen hört, 77 Menschen in der Stadt Oslo und auf der Insel Utøya. Seine Taten haben das Land Norwegen erschüttert, ganz Europa in Trauer und Mitgefühl versetzt und unendliche Fragen in eine möbiussche Schleife gewendet: Wie konnte es soweit kommen, sah denn keiner, warum hasst ein Mensch so sehr, wie können wir uns schützen, was kann und soll Gesellschaft leisten, wollen wir integrativ aufeinander zugehen oder uns abschließen, wie trauert man um so viele Jugendliche, gibt es Vergelten, gibt es Verzeihen, wer ist dieser Mann und was war sein Motiv?

Nora Gomringer Nora Gomringer | Foto: ©Judith Kinitz Der 22. Juli 2011 war ein warmer, friedlicher Tag in meiner kleinen Stadt in Deutschland. Keiner hatte die Absicht, eine Mauer zu bauen, nur ich hatte ein Thema gewählt für meinen neuen Lyrikband, der am Entstehen war: Monster Poems.

Der Begriff „Monster“ war in aller Munde. Den Vergewaltiger und Kidnapper Josef Fritzl titulierte die österreichische und bald auch die deutsche Presse 2008 später ständig als „Monster“ und auch Natascha Kampuschs Entführung zuvor, die mit ihrer mutigen Flucht 2006 ein Ende nahm, hatte kein anderes Vokabular geweckt. Monster waren unter uns. So schloss ich den norwegischen Attentäter in die engere Wahl meiner zu beschreibenden Monster-Wesen. Der 2013 bei Voland & Quist erschienene Band enthält 25 Gedichte, die sich mit Phänomenen und „Klassikern“ der Genreliteratur und des Genrefilms auseinandersetzen, aber auch mit den Fragen der misericordia, clementia und absolutio.

Das Vorgeführt- und Gezeigt-werden gehören ebenso zur Biographie eines Monsters wie die Aufzählung der Schrecken, die es verbreitet. So wächst seine Macht, so weitet es seine dunklen Felder aus und mehr Menschen erfahren von ihm. Literatur war und ist auf diese Weise immer williger Komplize beim Aufbau von verdientem oder unverdientem Ruhm. Weil der Winkel, aus dem heraus man etwas betrachtet, mir ebenso wichtig erscheint wie der Gegenstand der Betrachtung selbst, war es mir wichtig, „meine Monster“ mitunter neu vorzuführen, ihnen nicht das gleiche Schreckensklischee anzudichten, sondern andere, die innerhalb der Sphäre des Grauens, der Schuld, der Zerstörung, die zu ihren Naturen und Legenden gehören. Der Effekt sollte nicht eine Entfremdung des altbekannten Schreckens sein, sondern Neugierde wecken, Symbiosen und Mechanismen aufzeigen.

Adolf Hitler erstand 1936 die dritte Version von Arnold Böcklins Gemälde Die Toteninsel und hängte es zunächst in den Berghof und später in die Neue Reichskanzlei. Dieses Bild sprach zu Hitler, es faszinierte und bewegte ihn. In meinen Gedanken verschmolzen diese beiden Täter, diese beiden Inseln zu einem Text. Als der Norweger sich in einem wirren ersten Interview im Rahmen seiner Verurteilung an das Gedankengut der Nazis heftete und die NSU mit ihren Verbrechen als Vorbild nannte, entstand in meinen Gedanken ein Amalgam und die grässliche Gewissheit, dass auch seine Verbrechen letztlich Versionen von Versionen anderer Verbrechen im gleichen Gedankenmuster waren und wieder sein werden.

Einer der den Tod bringt

So bezieht sich der Titel des Gedichts Versionen auf die nie beendbare Reihe der Enttäuschung über diese von der Welt Enttäuschten. Als die Journalistin Asne Seiderstad 2015 das Seelenleben eines vereinsamten und früh radikalisierten, zur Grausamkeit neigenden Jugendlichen als biographische Zeichnung des Verbrechers in vielen Details entwarf, war die Welt überfordert mit dem, was ich „richtiges Fühlen“ nennen möchte. Wir verstanden den Jungen und doch legten sich unsere Wut und Enttäuschung auf diesen Mann, der er geworden war. Die Wortwahl in meinem Gedicht, das  - nach Aussage meiner schwedischen Verlegerin Madeleine Grive von 10tal - wohl niemals in Schweden im Rahmen des Bandes aus Pietätgründen veröffentlich werden wird, soll locken und von Vers zu Vers führen, damit sich ein Bild dieser niemals abgeschlossenen Thematik ergibt.

Die Konjunktion „und“ beginnt und beschließt den Text, der keinen Anfang und kein Ende hat. Der Bootsmann in Reimar Limmers Bearbeitung des Böcklinschen Originals ist ein moderner Mann in einem Motorboot, einer der den Tod bringt. Damit ist er direkte Version des Bootsmannes Charon, der die verhüllte Leiche zur Stätte der Ruhe transportiert. Limmers Bootsmann von 2013 bringt den Tod als einen Mörder zur Insel. Die Bilder behalten Sogwirkung und Friedlosigkeit, sind voller Ahnungen, doch scheinen sie mir schemenlos, umschattet, ein Paradoxon, das für mich Atmosphäre schafft in einer allzu faktischen, klaren und kalten Katastrophe.

Mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit – wurden vom norwegischen Ministerpräsidenten Stoltenberg und dem Norwegischen König gefordert. Zu aller Verblüffung waren Trauer und Gemeinschaftsgeist Themen der Gottesdienste und Reden nach dem Grauen, nicht etwa Verdammen, Einschüchterung und Hass. Diesem Beispiel ist in jüngster Zeit die neuseeländische Premierministerin gefolgt. Sie legte fest, dass im Namen des Gedächtnisses an die Opfer der Name des Täters von Christchurch aus den Annalen zu tilgen sei, er namenlos bleiben solle für alle Berichterstattung in der Zukunft. Ein Mann ohne Namen könnte ein Mann ohne Eigenschaften sein, könnte seinen Schrecken verlieren, weil er beliebig wird, nicht infam durch seine Taten. Einmal schimmert die Vokabel „namenlos“ in meinem Gedicht auf. Auferlegte Namenlosigkeit als Folge größten Verbrechens nimmt dem Monster seine Macht.