Merkur #858
75 Jahre Kriegsende

Leerstellen, Deutungskämpfe und die Rolle des Antifaschismus im
europäischen Gedächtnis

Bei aller Kritik an der mit ihnen verbundenen Inflation des Gedenkens kann
man Jubiläen eines zugutehalten: 

© Goethe-Institut

Bei aller Kritik an der mit ihnen verbundenen Inflation des Gedenkens kann man Jubiläen eines zugutehalten: Sie sind ein willkommener Anlass für eine kri tische Bestandsaufnahme der eigenen Erinnerungskultur. Das gilt auch für den 75. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, der am 8. Mai dieses Jahres begangen wurde. Es dürfte das letzte runde Jubiläum dieses Ereignisses gewesen  sein,  an  dem  noch  lebende  Zeitzeugen  anwesend  sein  konnten.  Ihre Stimmen werden in Zukunft fehlen. Das wird, so ist zu befürchten, die politische Indienstnahme der Geschichte nur weiter verstärken. In diesem Jahr war zu beobachten, wie Russland und Polen darum stritten, wer für den Ausbruch des Kriegs verantwortlich sei. Der polnische Präsident Andrzej Duda  kritisierte  Yad  Vashem  für  die  Einladung  Russlands  zur  Gedenk-feier zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Bezeichnend war auch das Bild des einsamen belarussischen Botschafters am 8. Mai am Berliner Mahnmal im Tiergarten, mit dem – als einem Vertreter »der letzten Dikta-tur Europas« – kein deutscher Politiker außer Markus Meckel gemeinsam gedenken wollte. Im politischen Establishment eint das Gedenken an die Opfer oft nicht, sondern es trennt.

Was bedeuten die memory wars für Deutschland, dessen selbstkritischer Umgang mit Vergangenheit oft als »DIN-Norm« (Timothy Garton Ash) für andere Länder betrachtet wird? Anders als es oft wahrgenommen wird, ist das gesamtgesellschaftliche Gedenken an den Zweiten Weltkrieg hier-zulande in vielerlei Hinsicht lückenhaft. Ebenso fehlt es an Wissen darüber, wie im östlichen Europa des Kriegs und der Shoa gedacht wird. Wie wir der vielen Verbrechen (nicht) gedenken, steht in Verbindung mit den Dis-kussionen,  die  heute  über  Antifaschismus  und  Nationalismus  geführt  werden.

Deutsche Leerstellen der Erinnerung

Die amerikanische Philosophin Susan Neiman hat jüngst kritisiert, dass die  Deutschen  überzeugt  seien,  die  Erinnerung  an  die  Shoa  erfolgreich  abgeschlossen zu haben. Tatsächlich lässt einen beim Lesen ihres Buchs das Gefühl nicht los, dass Neiman den Titel, Von den Deutschen lernen, ironisch gemeint haben könnte. So schien ihr, einer jüdischen Amerika-nerin, der gefeierte Satz von Weizsäckers vom 8. Mai als Befreiung statt als Niederlage schon 1985 ziemlich banal. Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, ein Monument von zentraler Bedeutung für den »stabilen Grundkonsens deutscher Identität« (Aleida Assmann), gedenke des industriell durchgeführten Holocaust in den Vernichtungslagern, ließe aber außer Acht, dass mehr als die Hälfte der europäischen Juden auf  andere Art ermordet wurden: »im Holocaust by bullets«. Nicht erst in den deutschen Vernichtungslagern, sondern direkt nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begannen auf  den Straßen und Plätzen der besetzten Städte und Dörfer die Aussonderung und der Mord an den jüdischen Bürgern. Das gleiche Schicksal ereilte sowjetische Kommunisten und politische Offiziere der Roten Armee. Die deutsche Erinnerung aber ist auf  Auschwitz als Ort und Symbol des industriellen Massenmords fokussiert und vernachlässigt andere Verbrechen, die so nicht zum Teil des negativen Gedächtnisses (im Sinne Reinhart Kosellecks) werden konnten. Nach wie vor ist Auschwitz das Symbol für den Holocaust und nicht etwa die Schlucht von Babi Jar in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wo SS-Einheiten, Wehrmachtssoldaten und ukrainische Hilfspolizisten im September 1941 innerhalb weniger Tage etwa 33 000 Juden töteten.

Der rassenideologisch bedingte Raub- und Vernichtungskrieg der Deutschen konfrontierte die Menschen in der Sowjetunion mit einer beispiellosen Dimension von Grausamkeit. Es war »ein Krieg wie kein anderer« (Dieter Pohl), geleitet von extremem Antibolschewismus, Antisemitismus und dem Hass auf  die Slawen. Die Hungerpolitik gegen die sowjetische Zivil-bevölkerung erreichte ihre schlimmste Ausprägung in der Belagerung Leningrads zwischen September 1941 und Januar 1944, bei der über eine Million Menschen ums Leben kamen. Die Millionen sowjetischer und polnischer Zwangsarbeiter haben keinen festen Platz im deutschen Erinnerungsdiskurs, so wie das Gedenken an die sowjetischen Kriegsgefangenen erst allmählich darin Eingang findet. Oft sind es die Nachkommen von Opfern, die über ihr literarisches Schaffen diese Leerstellen allmählich füllen.

Die deutsch-ukrainische Autorin Katja Petrowskaja schuf  ihrer in Babi Jar ermordeten Großmutter in Vielleicht Esther (2014) ein Denkmal, Natascha Wodin zeichnete in ihrem Roman Sie kam aus Mariupol (2017) das Schicksal sowjetischer Zwangsarbeiterinnen anhand ihrer eigenen Familienbiografie nach. Diese Autorinnen finden eine Stimme für die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im Osten, die man lange Zeit in der Erinnerungskultur  vergeblich  suchte.  Zwar  werden  monumentale  KZ-Gedenkstätten wie Dachau als Bühne für staatstragende Rituale und Statements zu den Lehren aus der Geschichte genutzt, aber viele lokale Erinnerungsorte  der  Verbrechen  sind  weitgehend  in  Vergessenheit  geraten.  Besucht  man an wichtigen Gedenktagen wie dem 8. Mai etwa die zentrale Grabanlage  für  sowjetische  Kriegsgefangene  und  Zwangsarbeiter  in  Bonn  –  die Kriegsgräberstätte auf  dem Nordfriedhof –, kann man sich von dieser Leerstelle ein Bild machen. Nicht einmal am fünfundsiebzigsten Jahrestag des Kriegsendes in Europa trifft man dort auch nur einen offiziellen Vertreter der Stadt oder des Landes an. Dabei ist diese Grabanlage Teil der ehemals zentralen nationalen Mahnstätte der Bundeshauptstadt »Für Opfer von Krieg und Gewalt«. Nur die teilweise schwer leserlichen Inschriften auf  den Grabplatten weisen auf  die NS-Verbrechen hin: russische, ukrainische, polnische, südosteuropäische Namen von Männern, Frauen und Kindern. Nichts erzählt an diesem Ort ihre Geschichte. Wie aber ist zu erklären, dass fünfundsiebzig  Jahre  nach  Kriegsende  das  Wissen  um  und  das  Bewusstsein für die deutschen Verbrechen in Osteuropa nach wie vor begrenzt ist? Warum sind die Massenerschießungen von Juden nach wie vor weniger bekannt als die Vernichtungslager?

Ein Grund für diese Leerstellen in der deutschen Erinnerung ist, dass über Jahrzehnte der Mythos des deutschen Opfergangs vor Stalingrad die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im Osten überschattete. Obwohl die Wehrmacht in Polen, der Sowjetunion und in Jugoslawien eine blutige Spur hinterließ, sahen sich die meisten der 18 Millionen Kriegsteilnehmer nicht als Täter. Eben weil der Krieg mit den Lebensläufen dieser Soldaten verbunden war, wurden diese Opfer in der westdeutschen Öffentlichkeit lange Zeit vernachlässigt. Noch in den 1990er Jahren löste die Wehrmachtsausstellung einen Skandal in Deutschland aus, weil sie mit den Verbrechen der Wehrmacht einen Grundzug des Vernichtungskriegs im Osten offenlegte. Allerdings konzentrierte sich die Ausstellung aus naheliegenden Gründen eher auf  die Täterperspektive und weniger auf  die alltägliche Leidenserfahrung der Bevölkerung in den okkupierten Gebieten. Würde man jedoch allein für Stalingrad die Opfer auf  der anderen Seite in den Blick nehmen, käme man auf  fast eine halbe Million Menschen, die von der Luftwaffe zerbombt, während der Evakuierung getötet oder in der eingekesselten Stadt umge-bracht wurden.

Aber nicht nur das Schweigen der Täter begründet die fehlende Auseinandersetzung mit den deutschen Mordtaten im Osten. Auch der systemische Antikommunismus im westlichen Teil Deutschlands hat seinen Teil dazu beigetragen. Hitler und seine Generäle hatten den Krieg als deutsche Mission der Rettung Europas vor dem Bolschewismus propagiert. Hass gegen Slawen,  Antisemitismus  und  Antikommunismus  verband  die  deutschen  Kriegsteilnehmer von der Führungsebene bis tief  in die deutsche Gesell-schaft hinein – und dieser Hass radikalisierte sich, wie Nicholas Stargardt aufgezeigt hat, je länger der »Blitzkrieg« sich hinzog.

Der Antikommunismus überlebte die deutsche Niederlage und war in der Bundesrepublik Teil eines gesellschaftlichen Grundkonsenses, nicht zuletzt durch die Einbindung in die westliche Allianz, und in dieser Funktion die Stütze der tradierten gesellschaftlichen Überzeugung, man habe doch für eine »gerechte Sache« gekämpft. Neiman vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass in Bezug auf  die Aufarbeitung der NS-Verbrechen das west-deutsche Überlegenheitsgefühl gegenüber Ostdeutschland nicht berechtigt sei: Im Osten wurden viel mehr Nazis verurteilt, während im Westen der Antikommunismus  die  Aufklärung  von  NS-Verbrechen  behinderte.  Der  Kampf  gegen Kommunisten wirkte sich auf  die unaufrichtige, schleppende Verfolgung der NS-Täter und die »Entnazifizierung« der westdeutschen Gesellschaft aus. Das westdeutsche Dogma bestand darin, dass »der Kommunismus, als totalitäre die Freiheit des Einzelnen unterdrückende Ideologie nicht besser [war] als Faschismus« (Neiman).

Dieser Gleichsetzung ist allerdings auch in der Bundesrepublik vehement widersprochen wurden. Immerhin löste Ernst Nolte in den achtziger Jahren mit seinen Thesen in Europäischer Bürgerkrieg (1987) noch eine kontroverse und emotionale Debatte unter Historikern und Publizisten aus, die sich um die Frage der Singularität des Holocaust drehte. Nolte hatte nicht nur eine Wesensverwandtheit von Kommunismus und Faschismus postuliert, er hatte unter der Formel des »kausalen Nexus« NS-Deutschland als logische Folge des  Bolschewismus  dargestellt  und  zudem  die  Shoa  als  »asiatische  Tat«  aus der deutschen Geschichte entfernt. Mittlerweile löst die Behauptung, Ernst Nolte könnte doch Recht gehabt haben, keine größere Debatte mehr aus.

Osteuropäische Perspektiven und die Renaissance der Totalitarismustheorie

Während die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland noch immer von einer unterschiedlichen Gewichtung der Verbrechen im Osten geprägt ist, hat sich in den vom Hitler-Stalin-Pakt betroffenen Staaten Ostmitteleuropas die Gleichsetzung der Verbrechen des Kommunismus und des Nationalsozialismus seit dem Zusammenbruch des Ostblocks als erinnerungspolitischer Commonsense durchgesetzt. 2004 sorgte die Schrift-stellerin und lettische Außenministerin Sandra Kalniete mit ihrer Rede auf  der Leipziger Buchmesse noch für Aufmerksamkeit und Widerspruch, als sie erklärte, nur wenige Leute hätten die Stärke, »der bitteren Wahrheit ins Auge zu blicken – insbesondere der Tatsache, daß der Terror in halb Europa weiterging, wo hinter dem Eisernen Vorhang das Sowjetregime weiter einen Genozid an den Völkern Osteuropas und sogar am eigenen Volk verübte. [...] Die [Quellen] bestätigen, daß beide totalitären Systeme – Nationalsozialismus und Kommunismus – gleich kriminell waren. Es darf niemals eine Abstufung zwischen diesen beiden Philosophien geben, nur weil die eine von ihnen auf  der Seite der Sieger stand. Ihr Kampf  gegen den Faschismus kann nicht als etwas betrachtet werden, das die Sünden der Sowjetunion, die zahllose Unschuldige im Namen der Klassenideologie unterdrückte, für immer entschuldigt. Ich bin fest überzeugt, daß es die Pflicht unserer Generation ist, diesen Fehler rückgängig zu machen.«

Im Fall Ostmitteleuropas ist diese Gleichsetzung in hohem Maß durch die Spezifik der postsowjetischen Nationenbildung nach 1989 zu erklären, als sich die Rede vom Sowjetregime als »Fremdherrschaft« diskursiv verfestigte. Inzwischen erfreut sich die These, Kommunismus und Faschismus seien gleichermaßen verbrecherische Regime gewesen, aber auch in Deutschland sowie auf  europäischer Ebene wachsender Beliebtheit. In Deutschland ist sie  kaum  Stoff  für  einen  erinnerungspolitischen  Skandal  und  sicherlich kein Tabu mehr. Sie wird vielmehr in der deutschen Publizistik, teilweise in der Wissenschaft und in der europäischen Politik vertreten. In seinem 2012 erschienenen Buch Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt argumentierte der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski, außer für NS-Ideologen habe Ideologie für die Gewaltexzesse im Osten keine Rolle gespielt. Vielmehr habe der Angriff NS-Deutschlands eine Gewaltspirale ausgelöst, aus der die gewalterprobte Sowjetunion nur siegreich hervorgehen konnte. In der wissenschaftlichen Debatte ist diesen Deutungen zwar dezidiert widersprochen worden, was aber dem Erfolg des preisgekrönten Buchs in der breiteren Öffentlichkeit keinen Abbruch getan hat.

Ähnliches  gilt  für  Timothy  Snyders  internationalen  Bestseller  Bloodlands, der den Zweiten Weltkrieg zwar etwas anders erklärte, aber ebenso die wechselseitige Abhängigkeit von Hitler und Stalin betonte. Bei Snyder erscheint der Krieg als Teil einer ineinandergreifenden Gewaltgeschichte zweier totalitärer Regime, die in den von den Sowjets verursachten Hungersnöten der frühen 1930er Jahre begann und mit den antisemitischen Kampagnen Stalins 1953 und seinem Tod im selben Jahr endete. Tatsächlich sind beide Lesarten des Zweiten Weltkriegs problematisch. Baberowski bleibt den Nachweis, dass Antibolschewismus, Antisemitismus und die Verachtung der Slawen bei der Ermordung der Menschen in der Sowjetunion keine Rolle gespielt hätten, letztlich schuldig. Snyder hingegen blendet die Verbrechen aus, die von Tätern in den infolge des Hitler-Stalin-Pakts besetzten Ländern verübt wurden. Dazu zählt etwa die Pogromwelle in der Westukraine im Sommer 1941, als vorwiegend Ukrainer ihre jüdischen Nachbarn, denen sie oftmals Kollaboration mit der abgezogenen Roten Armee vorwarfen, misshandelten und ermordeten.

Dazu zählen die Pogrome in Ostpolen, für die nach den wegweisenden Recherchen von Jan Gross die polnische Kleinstadt Jedwabne zum Symbol geworden ist. Dazu zählen die massen-haften Massaker in Wolhynien in der heutigen Nordwestukraine, die ukrai-nische Nationalisten zwischen 1943 und 1944 an der polnischen Zivilbevöl-kerung verübten, weil sie dieses Territorium für ihre Vision eines ethnisch homogenen ukrainischen Nationalstaats beanspruchten. Dazu zählen die zwölftausend litauischen Polizisten, die in den wenigen Monaten zwischen September und Dezember 1941 mit den Deutschen kollaborierten und sich an der Ermordung des Großteils der litauischen Juden beteiligten: mehr als 130 000 Männer, Frauen und Kinder. Dazu zählen auch die lettischen und die estnischen SS-Divisionen, die unter anderem das KZ-Lager Salaspils, in dem Tausende Kinder ermordet wurden, überwacht hatten und an Ermordung und Spurenvertuschung beteiligt waren. Dazu zählen auch die südrussischen Kosakenverbände, angeführt von Pjotr Krasnow und Andrei Schkuro, die auf  der Seite Nazideutschlands kämpften und brutal gegen südrussische Juden und »Partisanen« vorgingen.

Snyder fügt sich mit seiner Darstellung in einen Opfer- und Heldendis-kurs in Ostmitteleuropa ein, wo diese Taten – falls sie überhaupt thema-tisiert werden – in der Regel als Teil einer Gemengelage erscheinen, in der es vermeintlich keine Wahl gab. Tatsächlich aber hatten nichtjüdische Polen und Sowjetbürger eine Wahl. Sie konnten sich der Mobilisierung in die Po-lizeibataillone oder der Rekrutierung in die SS-Divisionen widersetzen, sie mussten keine Pogrome gegen jüdische Nachbarn verüben, sie mussten sich nicht an jüdischem Hab und Gut bereichern, sie mussten ihre jüdischen Nachbarn nicht denunzieren. Freilich sind es nicht nur die Taten, die bei Snyder keine Erwähnung finden, sondern auch deren Vorgeschichte. Zwar hätten diese Gewalttaten ohne den Zweiten Weltkrieg und den schnellen Wechsel zweier Okkupationsregime wohl nicht in dieser Form stattgefun-den, aber es spielte eben auch der Antisemitismus eine Rolle, der, wie in fast allen Ländern Europas, auch in den ostmitteleuropäischen Nationen schon lange vor 1941 kultiviert wurde und etwa in Polen in den 1930er Jahren längst zum Alltag der jüdischen Minderheit gehörte.

Dennoch sind Baberowskis und Snyders Deutungen des Zweiten Welt-kriegs etwa von Aleida Assmann und Claus Leggewie mit Zustimmung auf-gegriffen worden.13 Leggewie vertrat 2011 die These, dass »Russifizierung und Lebensraum-Projekte« zwar »höchst verschieden« gewesen seien, aber »in tödlicher Perfektion ineinander [griffen], und auch der Judenhass ver-einte beide Diktatoren und Systeme«. Zweifelsohne gab es in der Sowjet-union inoffiziellen Antisemitismus, aber anders als in Deutschland gab es selbst während der stalinistischen antisemitischen Kampagne von 1948 bis 1952 niemals die Absicht, das europäische Judentum in Gänze zu vernich-ten. Gerade in Bezug auf  den Zweiten Weltkrieg ist dieser Unterschied ent-scheidend, wird aber durch die Konzeption eines doppelten Totalitarismus nivelliert.

Das soll nicht heißen, dass prinzipiell keine Vergleiche zwischen natio-nalsozialistischen und stalinistischen Herrschaftssystemen und Verbrechen möglich wären. Der Vergleich erfüllt in der Geschichtswissenschaft die heu-ristische Funktion, Ähnlichkeiten, aber eben auch Unterschiede herauszuar-beiten.14 Erinnerungspolitisch problematisch wird es jedoch, wenn aus der Gleichsetzung der Sowjetunion und NS-Deutschlands die These abgeleitet wird, dass die beiden Regime gleichermaßen für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verantwortlich gewesen seien. Genau dieser Interpretation folgte im letzten Jahr die »European Parliament resolution of  19 September 2019 on the importance of  European rememberance for the future of  Europe«.15Sie sieht die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg gleichermaßen bei der Sowjetunion und NS-Deutschland und vertritt die These, dass die im Hitler-Stalin-Pakt aufgeteilten Länder sowohl unter den Sowjets als auch unter den Nationalsozialisten in gleichem Maß gelitten hätten.

Damit wird die gewaltsame Sowjetisierung mit dem systematischen Mas-senmord gleichgestellt und außerdem die These vertreten, das Leiden unter den Sowjets habe länger gedauert, da der Krieg erst 1989 mit der deutschen Einigung und dem Zusammenbruch des Kommunismus zu Ende gegangen sei. Der deutsche Angriffskrieg von 1941 auf  die Sowjetunion, der auf  sow-jetischer Seite 27 Millionen Opfer forderte, bleibt unerwähnt, lediglich in sehr allgemeinen Formulierungen fordert die Resolution das Gedenken an die Opfer der totalitären Regime der Sowjetunion und NS-Deutschlands. Russland, als Nachfolgestaat der Sowjetunion, wird zwar als »greatest vic-tim of  communist totalitarianism« bezeichnet, tritt aber nicht explizit als Opfer nationalsozialistischer Politik in Erscheinung.

Was bedeutet es für die sowjetischen Kriegsopfer, wenn die Sowjetunion lediglich als eine Spielart des Totalitarismus gedeutet wird? Wie können wir bei einer solchen Lesart im Sinne des »dialogischen Erinnerns« (Aleida Ass-mann) zum Beispiel der jüdisch-sowjetischen Partisanen gedenken, denen die Flucht in die Sowjetunion nicht nur das Leben rettete, sondern denen es die Rote Armee ermöglichte, von Opfern zu Helden zu werden? Das Holocaust Museum in Odessa etwa widmet diesen Menschen einen ganzen Raum und feiert den Einzug der Roten Armee in die Stadt als Befreiung. Solche Erinnerungen an den Krieg als einen gerechten Kampf  gegen den Faschismus findet man nicht nur in Teilen der Ukraine, sondern auch in Belarus und Russland. Wie kann eine gemeinsame europäische Erinnerung aussehen, die dieser Deutung des Kriegs Rechnung trägt? Einen wichtigen Schritt haben der deutsche Außenminister Heiko Maas und der Historiker Andreas Wirsching getan, als sie dieses Jahr auf  der deutschen Verantwortung für den Kriegsausbruch bestanden, ohne dabei die spezifische Leidensgeschichte der ostmitteleuropäischen Staaten in Abrede zu stellen.

In der Tat wurden sehr viele Menschen in Ostmitteleuropa zu Opfern beider Regime. In Polen etwa hielten im September 1939 die Wehrmacht und die Rote Armee eine gemeinsame Siegesparade ab, nachdem sie jeweils im Westen und im Osten in das Land eingefallen waren und die polnischen Gebiete nach den geheimen Zusatzprotokollen des Molotow-Ribbentrop-Pakts  besetzt  hatten.  Die  Ermordung  Tausender  polnischer  Offiziere  in  Katyn durch den sowjetischen NKWD ist bis heute eines der größten natio-nalen Traumata. Im Warschauer Aufstand erhoben sich im Sommer 1944 die Polen letztlich vergeblich gegen die deutsche Besatzungsmacht, ohne dass die auf  dem anderen Ufer der Weichsel stationierte Rote Armee ihnen zur Hilfe gekommen wäre. Dass dabei die NS-Politik der grausame Höhepunkt einer langen Tradition deutscher antipolnischer Politik gewesen ist, hat mit guten Argumenten zur Forderung eines eigenen Denkmals in der deutschen Hauptstadt geführt.

Allerdings  birgt  eine  Nationalisierung  des  Gedenkens  auch  Gefahren.  Hier  steht  die  berechtigte  Forderung  nach  Anerkennung  des  polnischen  Leids in Deutschland gegen die mögliche politische Indienstnahme des Projekts durch die nationalkonservative Regierung in Polen. Wenn es jedoch um Wissensvermittlung zur komplexen Besatzungserfahrung geht, wäre zum Beispiel ein Dokumentations- und Begegnungszentrum für junge Menschen aus Osteuropa und Deutschland genauso denkbar. Trotzdem besteht besonders, aber nicht nur im Fall der sowjetischen Opfer, die Gefahr einer rückwirkenden Nationalisierung ihrer Identitäten zu politischen Zwecken.18So konkurrieren derzeit die ukrainische und die russische Regierung um die sowjetischen Opfer des Kriegs. Eine solche Opferarithmetik und die gegenseitige Aufrechnung von Leid sind ethisch fragwürdig und zudem historisch falsch, denn sie übergehen die historischen Gegebenheiten der Zeit und des Raums. Die ostmitteleuropäischen Staaten und die sowjetischen Republiken waren bis zum deutschen Überfall multinationale Staaten. Erst mit der Vernichtung sowjetischer und ostmitteleuropäischer Juden und dem rassenideologisch bedingten Terror an den »Slawen« wurde diese Multi-nationalität  zerstört.  Weder  waren  die  Ukraine,  Belarus,  Russland  oder  Litauen ethnisch homogene Gebiete, noch wurden sie überfallen, weil man eben diese Nationalitäten vernichten wollte.

Die vielen Verschiebungen im Raum, die Deportationen und Verschleppungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs lassen eine nationale Kategori-sierung der Opfer fragwürdig erscheinen. Nimmt man wieder das Beispiel des lettischen Lagers Salaspils, in dem Tausende Säuglinge und Kleinkinder ermordet wurden – in den Dokumenten finden sich vor allem russische und jüdische Namen. Will man dieser Opfer als Letten gedenken? Vor allem vor dem Hintergrund, dass die offizielle lettische Geschichtspolitik die sowje-tische Zeit als das »größere Übel« verstanden wissen will. Ein eindrückliches Beispiel ist Wassili Grossman, Autor des antitotalitären Romans Le-ben und Schicksal (deutsch 2007): In der Ukraine als Jude geboren, war er als sowjetischer Soldat an der Front und ist als sowjetischer Schriftsteller bekannt geworden. Seine Mutter wurde im Ghetto von Berditschew von Deutschen und Ukrainern ermordet. Wissen wir, welcher nationalen Iden-tität er sich zugehörig fühlte? War es für ihn überhaupt wichtig? Würde er sich in einem ukrainischen oder russischen Denkmal wiederfinden? Fühlte er sich überhaupt als Opfer? Oder war es ihm wichtiger, sich als Teil einer Befreiungsarmee zu sehen? Sein Werk lässt darauf  schließen, dass Letzteres der Fall war. Diese Multinationalität droht in der Gedenkpolitik nivelliert zu werden. Ein rein national orientiertes Gedenken übergeht jedoch die Komplexität und die Multidimension der Kriegsgeschichte, es drängt den Toten eine Identität auf, der sie sich nicht widersetzen können.

Das Erbe des Antifaschismus und die neue Nationalisierung in Osteuropa

Susan Neiman beleuchtet in ihrem Buch auch das Erbe des Antifaschismus, den sie aktuell durch die ausschließliche Betonung seiner staatstragenden Funktion in der untergegangenen DDR diskreditiert sieht.19 In einem In-terview erklärte sie ihr Unbehagen an dieser Diffamierung mit ihrer bio-grafischen Erfahrung: »Seit ich in Berlin lebe und in Brandenburg arbeite, wuchs sukzessive meine Wut darüber, was im Westen über die DDR erzählt wird und einfach nicht stimmt, vor allem die Infragestellung ihres Anti-faschismus.«  Gleichzeitig  verband  sie  die  westdeutsche  nationalkonser-vative Kritik am Antifaschismus mit der Doppelbödigkeit der Aufarbeitung in  der  BRD:  »Der  Vorwurf   des  ›verordneten  Antifaschismus‹  entspringt  eigenem schlechten Gewissen und bedeutet zugleich die Aufkündigung des Konsens, den man nach dem Historikerstreit in der zweiten Hälfte der 80er Jahre erreicht hat.«

Über eine positive Rolle des Antifaschismus in der Geschichte der gegen-wartskritischen  Oppositionsbewegungen  liest  man  vor  allem  bei  linken  Autoren. So hat Enzo Traverso in seinem Buch Linke Melancholie gezeigt, wie im westlichen Europa der 1970er Jahre das Motto »Nie wieder Krieg« keine leere Floskel, sondern fest in die Auseinandersetzung mit der Gegen-wart integriert war.21 Die Erinnerung an Orte der Vernichtung in Frank-reich beispielsweise spielte eine bedeutende Rolle im antikolonialen Engage-ment, zahlreiche Intellektuelle sahen ihren Kampf  in der antifaschistischen Tradition der Jahre 1933 bis 1945. »Die Erinnerung an die Naziverbrechen diente nicht dazu, den Opfern der Vergangenheit zu gedenken, sondern um die Ungerechtigkeiten der Gegenwart zu bekämpfen.« Nicht von ungefähr sei mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Kommunismus der Antifaschismus marginalisiert worden. Traverso: »Die Erinnerung an die Kämpfe hat den Platz den Zeugnissen und Gedenkfeiern überlassen, die die Menschenrechte zelebrieren.« Diese Einsicht ist umso bedeutender, wenn man sich die heutige Rhetorik der Reden vornimmt, in denen Antifaschis-mus, Antikolonialismus, Feminismus und Sozialismus kaum mehr präsent sind.

Dies konnte man während der offiziellen Gedenkfeier zum siebzigsten Jahrestag  der  Befreiung  des  Konzentrationslagers  Dachau  beobachten.  Die Gedenkstätte Hebertshausen, wo an viertausend erschossene sowje-tische Kriegsgefangene erinnert wird,22 schien etwa bei der offiziellen Be-freiungsfeier am 3. Mai 2015 kaum in das feierliche Geschehen integriert zu sein. Kein offizieller Vertreter der Politik war hier anwesend, und nur etwa vierzig Menschen, meist höheren Alters – unter ihnen Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), des Vereins der Verfolgten des Naziregimes /   Bund der deutschen Antifaschisten (VVN /   BdA) und des Ver-eins »Europäische Linke« – hatten sich eingefunden. Seit 1985 versammeln sich hier Linke aus München und Umgebung, um der sowjetischen Opfer zu gedenken. Was bedeutet es für die Gegenwart, wenn das Gedenken an die sowjetischen Opfer vor allem von Linken getragen wird und nicht zum gesamtgesellschaftlichen Projekt geworden ist?

In den ehemaligen Sowjetrepubliken lassen sich beunruhigende Tendenzen beobachten, die mit der ideologischen Abkehr vom Sozialismus einhergehen. Unter  dem  Schlagwort  der  Dekommunisierung  werden  profaschis  tische,  extrem nationalistische und antisemitische Figuren zu Namensgebern von Straßen und Plätzen und im Baltikum und der Ukraine als Helden geehrt. Zugleich werden diejenigen, die gegen die Nazis kämpften, entweder igno-riert oder als »Okkupantenhelfer« stigmatisiert. Im Unterschied übrigens zu  Russland,  wo  eine  offizielle  Ehrung  von  NS-Kollaborateuren  wie  des  Kosakenanführers Krasnow undenkbar wäre. In Rumänien, das während des Krieges auf  der Seite Nazideutschlands stand, ist die Heroisierung der Kriegsverbrecher gar per Gesetz verboten.

Was geschieht mit den Veteranen der Sowjetarmee im Zuge dieser na-tionalisierenden Gedenkpolitik? In den baltischen Staaten mussten sie sich eine  Opferidentität  zulegen,  um  in  der  Öffentlichkeit  überhaupt  Gehör  zu finden. Aber die Deutung von NS-Gegnern als Opfer des deutsch-sow-jetischen Kriegs drängte diese Menschen in eine passive Rolle, die ihrem Selbstverständnis nicht entsprach. Erst in den 2000er Jahren trauten sich die Veteranen aus dieser Opferrolle heraus und identifizierten sich bezeichnen-derweise als »Antifaschisten«. Selbst unter diesem Vorzeichen mussten sie beobachten, wie die Gegner, gegen die sie gekämpft hatten, finanzielle Leis-tungen vom Staat bekamen und mit Denkmälern geehrt wurden, während sie selbst keine Stimme mehr hatten. In Vilnius etwa, wo der jüdische Wider-stand, angeführt von Abba Kovner und Vulf  Vilenski, seinen Ausgang nahm (die internationale Partisanenhymne Zog nit keyn mol, az du geyst den letstn veg entstand im Ghetto von Vilnius), sucht man vergeblich Ausstel-lungen oder ein Denkmal für die jüdischen Partisanen.23 Denn sie haben auf  der sowjetischen Seite gekämpft, und ihre Koexistenz im öffentlichen Raum mit den als Helden verehrten antisowjetischen Partisanen, von denen viele NS-Kollaborateure waren, ist unvorstellbar. Indem man den Antifaschismus heute auf  das Projekt der Sowjetpropaganda reduziert, beraubt man nicht nur die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus ihrer Identität, man versagt ihnen auch eine würdevolle Erinnerung ihrer Taten.

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