Vagant.no, 30.11.2020
Ein Universum nach der Orgie

KOMMENTAR. Wenn die gesamte Kultur zwangsweise unter Quarantäne steht, erscheinen alternative Bewegungen wie Fantasiegebilde. Das Interesse an der Gegenkultur zeigt aber auch, dass diese Imaginationen gebraucht werden.

Von Joni Hyvönen auf vagant.no, veröffentlicht am 30.11.2020

Die psychedelische Revolution schien niemals weiter entfernt zu sein. Die Gegenkulturbewegung der 1960er-Jahre wurde durch einen tief greifenden Mentalitätswandel ausgelöst, bei dem sich neue künstlerische Formen mit der 68er-Revolution und der Bürgerrechtsbewegung vereinten.

Diejenigen, die sich heute gegen das Establishment auflehnen, betrachtet man normalerweise als gehirngewaschene »Rechtstrolle« (so ein Musiktitel der schwedischen Punkband KKPA) oder als Terroristen. Neue spirituelle oder hedonistische Prediger machen selten Schlagzeilen, so bereitwillig die Gesellschaft alternative Medizin und Genusstempel für jedermann anbietet. Was um alles in der Welt könnte einem noch fehlen? Es gibt doch alles. Man muss nur dafür arbeiten. Und was haben subkulturelle Bewegungen noch zu sagen, wenn so gut wie alle etablierten Kulturinstitutionen schließen müssen? Der Ruf nach Veränderung verhallt in einer Zeit, in der Repression für gut geheißen wird oder wie das derzeitige Motto lautet: »Haltet durch!« Oder ist es so, dass die emanzipatorischen Bestrebungen der sechziger Jahre plötzlich neue Bedeutung erfahren, dass erst jetzt klar wird, wie sehr die Gesellschaft durch das Wirtschaftssystem benachteiligt wird, dass die Quarantäne darauf hinweist, dass wir bereits alle unterjocht sind, dass es keiner mehr aushalten kann? 

Es gibt viele Gründe, der psychedelischen Revolution skeptisch gegenüber zu stehen. Je weiter man sich in die hedonistische Ecke der Rockmusik hineinbegibt, sieht man, dass deren »experimentelle« Phase der sechziger Jahre voller Nabelschau-Ektase und Chauvinismus steckte. Wenn es aber etwas gab, das eine Rockzeitschrift wie Creem auszeichnete, die erst kürzlich mit einem dieser dokumentarischen Denkmäler geehrt wurde, die den Blick auf das Neue ersetzen, dann war es das Aufbegehren gegen die Rahmenbedingungen des etablierten Kulturjournalismus. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Creem schlug eine Bresche für alles, was scheinbar nieder, dumm, billig, verrückt oder gefährlich schien. Personifiziert wurde es vor allem von Lester Bangs, Mittelpunkt des Films »Creem: America’s Only Rock ‘n’ Roll Magazine (2020)«, zog Creem seinen Nutzen aus der ungezügelten Do-it-yourself-Ethik, die die Gegenkultur der damaligen Zeit durchdrang. Hätte der respektlose Bangs seine Gonzo-Rock-Rezensionen woanders schreiben können? Hätte er sich mit Lou Reed in der New York Times Text für Text duellieren oder ihn dort so demütigen können? Wahrscheinlich nicht. Dafür brauchte es ein Underground-Magazin. Es erforderte ein gewisses Maß an Selbstverbrennung.

Nehmen wir mal folgende Anekdote. Iggy Pop wollte Lester Bangs eigentlich nur kurz besuchen, als er in der Stadt war. Als er aber in die Creem-Redaktion hineinging, ohne den Chefredakteur Barry Kramer zu begrüßen, dessen Schreibtisch am Eingang stand, ging Kramer voll auf ihn los, kippte eine Mülltonne über dem Herrn Popstar aus und sagte: »Hey motherfucker, did you forget your manners?« Creem war selbst mehr Rock‘n‘Roll als die Rockmusik, über die das Blatt schrieb. Keiner war sich sicher nicht einmal die Schreiber selbst. Bangs kämpfte die ganze Zeit über damit, was gut und was schlecht war, stellt Greil Marcus in der Dokumentation fest. Denn es war eine Zeit, in der über Geschmack neu verhandelt wurde – anders als heute, wo keine alternativen Ansichten mehr kultiviert werden, wo alle wahllos alles hören.

Nonkonformität war die Devise, so sehr, dass hinter der Anekdote über Iggy Pop eine rituelle Geste verborgen ist: Wer den Mülleimer über den Kopf bekommt, wird zu einem von uns gemacht. Es ist eine Einladung, ein Willkommensgruß. Es ist aber auch ein Ausdruck dafür, wie ein Underground-Magazin den größtmöglichen Respekt der etablierten Kultur erlangte, ganz im Einklang damit, wie die Gegenkultur vom Kapital aufgesaugt wurde. Jetzt ist jemand wie Bangs ja ein Dinosaurier. Herrschaftszeiten. Was ist passiert?
 

Wie die Gegenkultur das Wohlbefinden erfand

Das Naropa Institute, das 1974 von dem tibetisch-buddhistischen Mönch Chögyam Trungpa in Boulder, Colorado, gegründet wurde, war einer der vielen Rückzugsorte, die in der Nachkriegszeit entstanden. Meditationszentrum für verirrte Abendländer, Zufluchtsort für abenteuerlustige Intellektuelle. Es wurde zum Treffpunkt für die Köpfe der Gegenkultur: Allen Ginsberg, Jack Kerouac, William S. Burroughs, Gregory Corso, R.D. Laing.

Trungpa war der Ansicht, dass die Menschen im Westen sich irrten, wenn sie glaubten, ein beschädigtes Ego zerstört zu haben. Statt sich spirituell zu entwickeln, verstärke sich das Ego mitteln spiritueller Techniken – so auch die bezeichnende Haltung seines Instituts. Es war aber auch bezeichnend für das Versagen der Gegenkultur. Während der siebziger Jahre war Naropa in erster Linie ein Hippiekloster mit endlosen Orgien, bei denen Drogenpartys als spirituelle Experimente präsentiert wurden. Dazu Korruption und Übergriffe, was uns ein gutes Bild der Gedankenwelt vermittelt, die sich vervielfältigte. Die Atmosphäre in Naropa glich einer feudalen Priestertradition in kapitalistischem Gewand, wie es Peter Marin in einem frühen Artikel über das Institut beschrieb. Es erinnerte ihn an die aristokratischen Hierarchien, die die aufstrebende Mittelklasse in den Anfängen der Marktwirtschaft angesprochen hatten. Die Aufrührer wollten Konventionen sprengen, ihr Potenzial entfalten und Satori, buddhistische Erleuchtung, erlangen. Der Rückzug aus der Normalität schien aber nur die Gesellschaftsstrukturen zu stärken, die bekämpft werden sollten.

Hätte die Revolution auch anders enden können? Die Lyriker der Beat Generation, die den Grundstein für die psychodelische Welle der sechziger Jahre legten, mögen chronisch lebensuntauglich gewesen sein. Sie wollten aber auch keine Beat-Gesellschaft gründen, genauso wenig wie die Hippies Zukunftsvisionen jenseits eines losen Kollektiv von »freier« Liebe boten. Nie war die Gemeinschaft  dermaßen in einem Zustand geistiger Verwirrung wie damals. Freie Konzerte und freie Assoziation. Übungen in einer Kultur, mit der niemand seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Der romantische Geist kehrte mit voller Kraft zurück, als der Dichter zum Propheten wurde und die Kunst zu einem Konzept, das man an die Luft oder an eine Konservendose aufhängen konnte. Musik konnte genauso gern ein Phänomen der Stille sein wie Vibrationen der Äonen unter nackten Füßen, die die Erde berühren. Film: eine mentale Projektion, um durch Schneiden und Kleben einen anderen, ursprünglicheren Film aufzudecken – erreichbar durch göttliche oder synthetische Inspiration.

Dass die sechziger Jahre als Zeitalter der Gegenkultur gelten, liegt daran, dass die damaligen Bewegungen das Establishment herausforderten, aber auch daran, dass ihre unorthodoxen Lehren und Praktiken - Makrobiotik und Zen, verwoben mit einem Aktivismus, der auf Askese und eine amnesieähnliche Verantwortung hinauslief – so schnell in das Establishment aufgenommen wurden. Für Matthew Ingram, der kürzlich das Buch »Retreat: How the Counterculture Invented Wellness (2020)« veröffentlichte, war nicht die permanente Ekstase selbst der Grund für das Scheitern der Gegenkultur. Seiner Meinung nach geht ein größeres Problem von der heutigen Unkenntnis des »Selbst«, der Einheit der Psyche, im Sinne von C. G. Jungs Terminologie aus. Durch den Rückschlag der Gegenkultur wurde deutlich, wie riskant es ist, sich mit dem Selbst zu identifizieren, was durch die psychischen Experimente entweder in Fetzen ging oder einen bereits eskalierenden Größenwahnsinn anheizte. Wohlbefinden, so Ingram, kann als eine Vereinigung von Selbst und Ego definiert werden, zwischen dem innersten Wesen und dessen bewussten Seiten. Für die Gegenkultur bestand das Ziel nie darin, sich egozentrischen Entsagungen wie in Naropa hinzugeben, sondern in sich selbst zu versenken, um sich in eine Gemeinschaft zu integrieren, wie es viele der Interviewpartner in diesem Buch betonen.

Das Interesse der Gegenkultur am Thema Gesundheit hat eine auffallende Parallele zu unserer Situation, in der die Kultur von einem Virus in Geiselhaft gehalten wird, der aller Wahrscheinlichkeit ein Nebenprodukt der industriellen Ausbeutung von Natur und Tierwelt ist. Sie war eine der Zielscheiben der revolutionären Bewegung in den 1960er-Jahren. Heute ist Wohlbefinden nicht so sehr eine Frage der Gesundheit, sondern die Abwesenheit von Krankheit, betont Ingram. Mit dem, was nicht mit Medizin und Psychopharmaka in Schach gehalten werden kann, muss man sich in einem Dasein nicht befassen, in dem man ständig eingeloggt, angetrieben, beeinflusst ist. Der Einzelne soll um jeden Preis sein Potenzial in der Wachstumsökonomie maximieren. Indem die Wellnessindustrie die Idee des Wohlbefindens übernommen hat, ist Spiritualität zur Beute einer Selbsthilfe-Ideologie geworden, die auf kurzfristige Lösungen und den Verkauf von Produkten setzt. Das buddhistisch beeinflusste Streben der Gegenkultur, nach dem Nichts zu streben, –um den Kreislauf des Leidens zu durchbrechen, – ist genau das Gegenteil der neoliberalen Zentrierung des Individuums. Hier sollen wir uns noch mehr binden, sei es an die Zerstreuung und Depression durch die (a)sozialen Medien oder an die Fast-Food-Energie der 24/7-Gesellschaft mit extremen Spitzen und jähen Tiefs.
 

Bewusstsein-Schaffen auf der Bettkante

Viele der wichtigsten Künstler und Musikbewegungen des späten 20. Jahrhunderts sind aus der psychedelischen Revolution hervorgegangen. Uns, die wir in der Zeit danach aufwuchsen, prägte man ein, dass die Kultur nach Neuem und Brüchigem streben sollte. Gleichzeitig haben uns die ausgebliebenen Innovationen mit der kalten Realität des »business as usual« konfrontiert. Wir leben in einem Zustand nach der Revolution oder mit den Worten Jean Baudrillards »ein Universum nach der Orgie«. Die großen musikalischen Ereignisse sind vorbei. Wir kratzen die Überreste des Festes eines anderen zusammen, archivieren die wichtigen Augenblicke, überarbeiten unsere eigenen Playlists der verschütteten Geschichte. Auf der einen Seite zeigt sich, dass die revolutionäre Periode innerhalb der Musik, im großen und ganzen 1950-2000, eine Ausnahme in der eher bedächtigen Zeit davor und danach war. Auf der anderen Seite ist es ein Zeugnis für die volle Reichweite der Gegenkultur, die heute genauso hörbar ist wie damals, als sie alles von Postpunk über Techno bis hin zu Acid House beeinflusste. Es ist auch der Grund, warum so viele Kritiker in den vergangenen Jahren versucht haben, die Psychedelia wieder aufleben zu lassen. Das Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft.

Die letzten 40 Jahre haben davon gehandelt, das Phantom einer Welt zu vertreiben, die frei hätte sein können, schrieb der britische Kritiker Mark Fisher in seinem letzten, unvollendeten Buch »Acid Communism«. (Fisher, der 2017 viel zu früh starb, war die treibende Kraft hinter der Psychedelia-Renaissance innerhalb der britischen Kulturtheorie der Gegenwart. Dazu zählen auch Kritiker wie Jeremy Gilbert und Matt Colquhoun, die Debatte ging bis hinein in die Labour-Partei mit der Parole »Acid Corbynism«.) Neoliberalismus kann laut Fisher am besten als Projekt verstanden werden, das darauf abzielt, die in den 1960er-Jahren florierenden Versuche eines demokratischen Sozialismus und des libertären Kommunismus zu zerstören. Reaktionäre Kräfte wollen daher die Potenziale unterdrücken, die noch von der psychedelischen Epoche übrig geblieben sind, nicht zuletzt in der Art und Weise, wie man ihre Ära in käufliche Produkte, »ikonische« Werke und nostalgische Freiheitsträume ummünzte.

Für Fischer schien es eine Lösung durch ein »untergeordnetes Gruppenbewusstsein« zu geben, wie er es in seinen letzten Vorlesungen an der Goldsmiths-University Ende 2016 bezeichnete. Diese wurden kürzlich in seinem Buch »Postcapitalist Desire: The Final Lectures« (2020) posthum veröffentlicht. Inspiriert von den Bewusstseinsgruppen der 60er- und 70er-Jahre wollte er die heute von vielen empfundene Frustration nutzen, indem er die Negativität gegen das System richtet. Das Klassenbewusstsein ist durch ein identitäres Ressentiment ersetzt worden, das im Grunde genommen antisolidarisch und gegen das Bewusstsein gerichtet ist, wie Fisher betont. Es verdrängt die Frage nach der Klasse, indem es seinem Glauben Raum gibt, dass ich zu immer mehr berechtigt bin und nicht, dass wir alle mehr bekommen sollten. In der Art und Weise, wie die Unterdrückten in der Gesellschaft unter Druck gesetzt werden, sich mit einer Karriere zu identifizieren, wird das Klassenbewusstsein verdrängt. Den Unterprivilegierten wird ständig eingeredet, dass sie eigentlich erfolgreich sind, oder um es mit Lady Gaga zu sagen: »Ich war schon immer berühmt, ihr wusstet es nur noch nicht.«

Eine Figur, die während der 1960er-Jahre mehr und mehr in den Vordergrund trat, war die Person, die sich ihren Lebensunterhalt nicht auf normale Art verdiente oder sogar überhaupt nicht arbeitete. In der Literaturgeschichte sind es nicht religiöse oder moralistische Figuren, die sich der bürgerlichen Gesellschaft widersetzen, wie Herbert Marcuse, der Chefideologe der Protestbewegung, einmal schrieb. Sondern es sind eher die felsenfesten Faulpelze und ausgemachten Taugenichtse; »der Künstler, die Prostituierte, die Ehebrecherin, der große Verbrecher und der Ausgestoßene, der Krieger, der rebellische Dichter, der Teufel, der Verrückte«. Es sind diese Figuren, um die herum sich Fisher und Ingram versammeln. Nichtstuer. Schlafmützen. Solche, die mit der positiven Verfremdung der Kunst auf einer Welt jenseits der Arbeit insistieren. Bewusstsein-Schaffen auf der Bettkante. Politik als Traumarbeit. (Joan Didion über die 60er-Jahre in The White Album,1979): »So viele Zusammentreffen während dieser Jahren entbehrten jeglicher Logik außer der der Traumarbeit«. Und vermutlich ist es diese Figur, die die Ordnung heute am meisten irritieren kann. Sich weigern, sich den bereits für einen abgesteckten Möglichkeiten anzupassen. Vergnügen nicht einmal zu suchen.

 

Von der Unterwelt zur Grieghalle

Aber welche Art von Gegenbewegung könnte heute entstehen, wenn Revolution zu einem Schlagwort für leicht verdauliche Tweets geworden ist? Heute, wenn die sechziger Jahre wie ein anderes Land erscheinen, eine Zeit der echten Reformen, von denen man sagen kann, dass die Menschen wirklich lebten? Aaron Sorkin bringt es in seinem letzten Film »The Trial of the Chicago 7« (2020) auf den Punkt. Es ist ein Thriller über einen Schauprozess in den späten 60ern, als das Establishment gegen die Radikalen zurückschlug. Sorkin lässt darin einen der Angeklagten darauf hinweisen, dass das Hippieleben der Gruppe mehr schadete als nutzte. Denn in Zukunft werden die Leute, wenn sie an progressive Politik denken, an die Flower-Power-Kinder denken, die Margeriten an Soldaten verteilen oder versucht haben, das Pentagon zum Schweben zu bringen. Verrückte. Aber in der Tat war so ein Großteil der radikalen Vorstellungen der 60er. Ohne den utopischen Horizont, der weit über das Denkbare hinaus ging, hätte man so weit nichts sichten können. Es war ein Zeitgeist mit fantastischen Vorzeichen und verschiedensten Gruppen, die den Blick auf eine Gesellschaft neu definierten, nicht selten auch hin zum Extremen. Auch wenn Fisher sich eine Psychedelia ohne Drogen vorstellen wollte, fällt es schwer, sich einen Kerouac ohne Speed, Ginsberg ohne LSD oder Burroughs ohne Heroin vorzustellen. Es fällt schwer, sich eine Bewusstseinsveränderung über die Kulturtheorie vorzustellen. Was es braucht, sind Lebensweisen jenseits der Norm.

Wenn es irgendetwas gab, dass die norwegische Black Metal-Szene möglich machte, die kürzlich in der Dokumentarserie »Helvete - die Geschichte des norwegischen Black Metal« (2020) gezeigt wurde, war es der Wunsch, einen Geschmack außerhalb des Mainstreams zu kultivieren und dabei manchmal buchstäblich das Leben aufs Spiel zu setzen. Immer wieder erzählt man sich die Geschichte und die Mythen erfreuen sich scheinbar bester Gesundheit. Mit Ausnahme des ersten Teils über Mayhem ist die Black-Metal-Sage zu einer vorzeigbaren, ordentlichen Geschichte des großen norwegischen Musikexports geworden – was Black Metal als Norwegens wichtigster Beitrag zur Musikgeschichte ohnehin ist.

Black Metal ist so ikonisch wie Grieg und Munch, was bereits in der dunklen Naturromantik des Genres sichtbar ist. Corpse Paint, gutturale Growls und schwarze Lederjacken wurden schnell zu Stilzeichen und die Aversion gegen das Bürgertum war Ehrensache. Wenn wir uns in der NRK-Dokumentation von der Unterwelt zur Grieghalle bewegen, will sagen, vom Kellerlokal zur großen modernen Festhalle der Stadt Bergen, stellt dies auch den Punkt dar, an dem sich das lebensverachtende Genre erstmals der breiten Öffentlichkeit annäherte. Denn dies war nicht für alle Ohren bestimmt Black Metal richtete sich nicht an jeden beliebigen. Der Dokumentarfilm erzählt, dass nur ein bestimmter Typ von Besucher in dem schwarz gestrichenen Laden »Helvete« (Hölle) willkommen war, den der Vordenker von Mayhem, Øystein Aarseth, 1991 eröffnete. Kam jemand in weißen Turnschuhen herein, dann zeigte Aarseth auf ihn und schrie: »Du! Raus!«

Ist es nicht das, was Alternativbewegungen zustande bringt? Man macht sich gern lustig über die Kleidungsstücke, die Subkulturen oder revolutionäre Randorganisationen definieren. Indem man aber eine Art Uniform anzieht, tritt man aus sich selbst heraus, wird eins mit dem Kollektiv und der Berufung. Nie kann es nur eine Frage der Musik sein, so sehr ihr unzugänglicher Lärm auch versucht, das Publikum versucht aufzuwiegeln. Jedes Detail zählt für die Subkultur zur indirekten Kriegsführung mit der Vorstellungswelt anderer, ein Störfeuer, das sich nicht unmittelbar im kulturellen Kreislauf etablieren lässt. Solange die kulturelle Gegenbewegung am Rande des Erträglichen bleibt, an der Grenze zum Wahnsinn und scheinbar unmöglich zu kontrollieren, besitzt die Musik die destabilisierende Energie, die »noise« (Lärm) in Jacques Attalis oder Michel Serres französischem Vokabular innehat: »noise« als »nausea« (Lärm als Übelkeit), Musik als Schwindel, Information als Störung. Das ist der Moment, bevor die Subkultur oder die Musikbewegung vom Markt übernommen wird. Nach Attali macht Lärm es immer, denn alle revolutionären Formen tragen prophetische Qualitäten in sich. Die Subkulturen umreißen die neuen Linien. Dann folgt das Kapital.
 

Kultur als Respekt vor den Toten

Wenn eine Lektion der Gegenkultur darin besteht, dass alle Alternativen vom Markt aufgesaugt werden, dann ist diese Einsicht von den post-psychedelischen subkulturellen Bewegungen aufgegriffen worden, und zwar eindeutig in dem Informationskrieg, von dem in Punk, Industrial und Jungle Music so viel die Rede ist. Live by the image, die by the image. So wie Throbbing Gristle und Crass die Bedeutung des Plattenlabels als Sammelpunkt für den Informationskrieg verstanden, erkannte eine Band wie Swans den Wert eines Images und eines Logos voller Widersprüche: ein Image, das COMMERCE vermittelt, aber ALTERNATIVE predigt, Texte, die SLAVERY vermitteln, aber FREEDOM predige. Die Swans-Dokumentation »Where Does a Body End?« (2019), kürzlich in einer erweiterten Blu-ray-Ausgabe veröffentlicht, ist in vielerlei Hinsicht die Geschichte einer Musikkultur, die jetzt hinter uns liegt. Swans war von Anfang an eine extreme Band. Extreme Lautstärken, extreme Texte, extreme Wendungen. Angeführt von Michael Gira, dem einzigen ständigen Mitglied seit den frühen 80ern, waren die Swans auf einer einzigen langen Reise. Vom jugendlichen Exzess bis zur reifen Introspektion, vom experimentellen Symphony Rock bis zum transzendentalen Alt-Herren-Krautrock. Es war nur nach einem langen Leben am Rande der Gesellschaft möglich.

Gira ist ein Kind der Hippie-Ära. Schon als Teenager flüchtete er und trampte per Anhalter quer durch Europa, ging auf Konzerte von Pink Floyd, verkaufte Haschisch und verbrachte einige Zeit in Jerusalem hinter Gittern. Und er stieg im damals verarmten, aber aufstrebenden Postpunk-Milieu der 80er in New York wie ein Phönix aus der Asche, zu einer Zeit, als die Stadt noch immer eine Keimzelle für Neues und Radikales zu sein schien – insbesondere in der Kunstszene, in der Gira erstmals seine angeschlagenen Flügel ausprobierte. Swans ist eine Gruppe, die mehr als viele andere zu emanzipatorischen, kollektiven Ausschweifungen einlädt. Im tiefsten Inneren spricht diese Art von Gemeinschaft dieselbe rohe Energie an, wie es Black Metal und der Rock anfangs taten. Sie aber macht es von ganz unten, über die grundlegendsten und untergeordneten Bereiche der Lebensformen. Warum sollten sonst Songs wie »Raping a Slave« oder »I Crawled« so starke Gefühle von Befreiung und Emanzipation hervorrufen, obwohl sie vom genauen Gegenteil zu sprechen scheinen?

Es hat etwas Hinterhältiges, die Gegenkultur aus dem Blickwinkel der etablierten Kultur heraus zu betrachten; die Sicht durch den gefilterten Rückspiegel macht alles etwas verschwommen. Musikdokumentationen beschwören gut das Gefühl einer vergangenen Zeit herauf. Ist das Thema einen Film wert, dann ist es höchstwahrscheinlich aus der Vergangenheit und alles, was sich weit von der unübersichtlichen Gegenwart befindet, ist leichter zu fassen, leichter zu romantisieren. Wie war das möglich? Und wie konnte ich das übersehen? Genau das ist der Trick: Der Zuschauer soll mit Schuldgefühlen über die vergangene Zeit belastet werden, darüber, dass man dem, was wichtig war, keinen Wert beigemessen hat. Musikdokumentationen sind somit eines der besten Instrumente für die Umsetzung der Idee, dass es in der Kultur um den Respekt vor den Toten geht. Es ist wahr, dass Kunstwerke Abkopplungen von der Welt der Lebenden sind. Aber aktive Kultur darf so nicht sein. Die Kunstschaffenden selbst sind von einem lebendigen Umfeld abhängig, in dem sie ihre Ideen und Erfahrungen austauschen können. Für sie ist das Werk oft ein Nebenprodukt der sozialen Welt, in die sie mindestens genauso viel Energie stecken. Lenkt man den Blick zu sehr auf die Produkte, dann gibt man einer Kulturerbe-Industrie nach, die sich in erster Linie die (rechts orientieren) Schwedendemokraten unter den Nagel gerissen haben. Kultur als ein verlorenes Paradies. Kunstwerke als Gedenkstätten und antike Denkmäler. Kein Bedarf an neuen Talenten oder neuen Werken.
 

Psychedelischer Dissens

Es scheint, als ob Horace Engdahl, der schwedische Literaturwissenschaftler und ehemalige Sekretär der Schwedischen Akademie, recht bekommen hat: Die subversive Kultur ist ans Licht gekommen und die Hochkultur erscheint nun als die neue Subkultur, was durch die Corona-Pandemie immer offensichtlicher wird, wenn von Staaten und Institutionen erwartet wird, im Sinne aller zu handeln. Nun sind es die Kulturelite und die gebildeten Schichten der Gesellschaft, die in den Augen der Bevölkerung sind, nicht irgendeine marginalisierte Kulturbewegung mit nebulösen Ideen. Niemand ist über Schriftsteller wie Burroughs, Ginsberg oder Kerouac entsetzt, sie scheinen mit den Jahren immer mehr zu Reliquien zu werden. Lebendige Kultur wird auch direkt gefährlich, wenn Volksmassen zu potenziellen Ansteckungsquellen werden, sodass die gesamte aktuelle Kulturarbeit in digitale Formate verbannt wird, die im 21. Jahrhundert mehr und mehr die Oberhand gewonnen haben. Alle Träume einer Veränderung, mit denen die Gegenkultur gelockt hat, haben sich verflüchtigt.

Das war nicht immer so. Das 20. Jahrhundert war geprägt von einer verstärkten Feindseligkeit gegenüber dem Erstarrten. Die Kunst sollte vorgegebene Vorstellungen niederreißen. Neue Gemeinschaften etablieren. Aber es passte nicht in eine Zeit der Krisen und Katastrophen, nicht in eine Zeit, in der von jedem erwartet wird, dass er sich um das war von Vergangenheit nicht länger feindlich gesinnt sein, weil wir heutzutage keinen wirklichen Sinn für die Zukunft haben. Für die Gegenkultur war die soziale Bedeutung der Kultur am wichtigsten. Die Gruppen mussten sich gegen die bestehende Norm richten, aber nur, weil sie eine Alternative suchten. Die Avantgarde als sich erneuernde und vergängliche Vortruppe ruht daher schwer auf der Gegenkultur, die sich durch soziale Entfremdung definiert, die mit der immer schneller werdenden Entwicklung der Kultur Gefahr läuft, schnell zu etwas längst Bekanntem zu verkommen. Das Paradoxon der Avantgarde zeigt, warum das Soziale so leicht zum Problem wird, warum das Neue sich selten von einer Gruppe über die Zeit suchen lässt. 

Aber das Temporäre ist eine Ressource. Um nicht in die Fußstapfen des homo normalis zu treten oder eine neue Norm zu etablieren, müssen die Neulinge nicht nur mit »ihnen«, sondern auch mit »uns« brechen. Antinomie ist unvermeidlich. Der Wert der Gegenkultur liegt in diesem paradoxalen »wir gegen uns«, wobei das, was die Bewegung vereint, der Optimismus der Kritik ist. Wenn heute alle Kulturschaffenden in den Untergrund gedrängt werden, scheint es vielleicht sinnlos, sich den experimentellen Ideen der psychedelischen Revolution zu zuzuwenden. Aber die Kultur profitierte von den Mikrofraktionen, die untereinander stritten. Es braucht Uneinigkeit, damit die kritischen Ideen in Bewegung bleiben und nicht nach Einigkeit oder einem harmonischen Ganzen streben – kein versöhnlicher Konsens, sondern eher ein psychedelischer Dissens. Ein Kollektiv bei der Arbeit. Die Gegenkultur bestand nicht aus einer bereits existierenden Gemeinschaft, sondern war eher eine zukünftige Gemeinschaft, deren utopischer Entwurf der Gruppe erlaubte, im Fluss zu bleiben: Ein »wir«, das Alternative bot, unbeeinflusst von realistischen Forderungen und Vorurteilen, ein »wir«, für das die Welt veränderbar ist oder, was häufiger der Fall war, sie kritisch zu untersuchen: Das hier taugt nicht. Aber mit der von allen Seiten des Spektrums verankerten Kritik, der Hochkultur als letztem radikalen Außenposten, stellt sich die Frage, ob der Kampf nun offen geführt wird, ob es so ist, dass gegenkulturelle Akteure damit spielen, sich die Maske des Durchschnittsmenschen überzuziehen, und ob Normalität zu einer subversiven Hieroglyphe geworden ist?

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