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Dana Buchzik
Dystopien, Parabeln und männliche Beißreflexe

Dana Buchzik
Dana Buchzik | Fotograf: Pierre Horn (Schall und Schnabel)

Wer die deutsche Gegenwartsliteratur verstehen will, muss auch reflektieren, wie über diese Literatur gesprochen und geschrieben wird. Deutsche Literaturkritik beweist auch und gerade in Zeiten der Krise, dass der Betrieb allem postulierten Idealismus zum Trotz von der Gleichbehandlung weiblicher und männlicher Autoren noch weit entfernt ist.

Die Angst, dass die Menschheit sich selbst vernichten wird, hob zu Zeiten des Kalten Krieges das Endzeitgenre aus der Wiege; jetzt hat sie Konjunktur - in der Welt wie in der Literatur. Im Feuilleton erfreuen sich apokalyptische Szenarien großer Beliebtheit, die entweder ironisch gut durchgekühlt sind (etwa Juan S. Guses innere wie äußere postkapitalistische Wüstenlandschaft in „Miami Punk“) oder die nur als Folie für Gemeinplätze und Technikpessimismus dienen (wie in Emma Braslavskys halbwissengespicktem Roman „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“, in dem ein perfekt getunter Roboter von der Sehnsucht nach Menschlichkeit umgetrieben wird). Auch konsequent männliche Nabelschau (wie in Eckhart Nickels Debüt „Himbeeren“, in dem der Protagonist von künstlichen Früchten in schier Pascal’sches Erschrecken versetzt wird) und Fokus auf zwischenmenschlichen Konflikten (wie die Mutter-Tochter-Problematik in Helene Bukowskis Roman „Milchzähne“) wurden wohlwollend aufgenommen. Eine drastische Schilderung von systemisch verwurzelter Gewalt gegen Frauen und, mehr noch, die Selbstermächtigung unterdrückter Frauen scheint für die konservative Riege des deutschsprachigen Feuilletons jedoch eine Provokation darzustellen.

Karen Köhlers heiß bis erbittert diskutierter Roman „Miroloi“ erzählt von einer Parallelgesellschaft, die sich auf einer Insel immer weiter in sich selbst verkapselt. Die Regeln werden von einem religiösen Werk namens „Khorabel“ und dem Ältestenrat vorgegeben: Frauen dürfen weder lesen noch schreiben, sie haben kein Recht auf Teilhabe an Entscheidungsprozessen und kein Recht auf Schutz vor körperlicher oder sexueller Gewalt. Die eltern- und namenlose Protagonistin ist eine Außenseiterin, sinnlos gestraft und geächtet. Sie beschließt, sich selbst ein Miroloi, ein Klagelied für Verstorbene, zu erdichten: „Mein Miroloi muss ich mir selber singen, damit kann ich nicht warten, bis ich gestorben bin, sonst wird es mich nicht gegeben haben.“ Sie erlernt heimlich das Lesen und erobert sich im Druckkammerszenario ihres Alltags Raum für eine eigene Sprache. Dass der Roman einige Kürzungen vertragen hätte und es manchen Nebenfiguren an Plastizität fehlt: Geschenkt. Miroloi ist ein besonderes, ein wichtiges Buch. Es erzählt eindrücklich von einem Spiel, das sich nicht gewinnen lässt, von Solidarität, Liebe und Verzweiflung. Es kehrt erzählerisch an den Ursprung zurück, ruft die orale Tradition der Literatur wach; seine Szenerie versetzt uns ins antike Griechenland und hält uns gleichzeitig schmerzhaft in der Gegenwart.

Es spricht für sich selbst, dass die konservativen Akteure des deutschsprachigen Feuilletons Miroloi weniger als Roman betrachten denn als unliebsamen Diskussionsbeitrag zum, wie Jan Drees es so interessant formuliert, „Trend-Thema“ Feminismus. Entsprechend fallen ihre Rezensionen aus: Jan Küveler behauptet in seiner wutschnaubenden Besprechung gleich zu Beginn, es sei nach Karen Köhlers 2014 erschienenem Erzählband ja „ziemlich still um sie gewesen“[1]. Es wird also still um eine Autorin, wenn sie in fünf Jahren drei Theaterstücke und ein für den Deutschen Drehbuchpreis nominiertes Drehbuch verfasst, nebenher als Übersetzerin und Herausgeberin tätig ist, mit Preisen überhäuft wird und einen 463 Seiten starken Roman schreibt? Bevor er sich der leider wenig profunden Textanalyse widmet („Die Sprache tut bescheiden, ist aber in Wahrheit angeberisch pseudopoetisch“), behauptet Küveler schlankerhand, dass alle, die diesen Roman nicht verreißen, nur feige oder fremdgesteuert seien: „Es war, als habe eine unsichtbare Macht ihnen den Mund verschlossen, als gehorchten ihre Finger, die die Texte schrieben, einem fremden Willen, der sie einfach nicht sagen ließ, was sie wollten (…) Genau diese Verzagtheit ist so symptomatisch für die Gegenwart.“ Dem aktuellen öffentlichen Diskurs ironiefrei Verzagtheit unterstellen - das kann wohl nur ein Springer-Journalist.

Burkhard Müller fällt in seiner Rezension für die ZEIT gar nicht erst auf, dass die „Korabel“ aus Koran, Thora und Bibel zusammengesetzt ist, sondern kann im rigiden Gesetzestext der sektiererischen Parallelgesellschaft nur den Koran erkennen. Auch die zahlreichen Referenzen an antike Literatur (Homer, Euripides, Sophokles) scheint er, obschon von Haus aus Latinist, nicht zu bemerken. Stattdessen fragt er: „Wo genau in Zeit, Raum und Mentalität wäre ein solches Gemeinwesen zu verorten? Ist das glaubhaft?“[2] (Gern würde ich wissen, was er von „Dantes Inferno“ hält!) Auch Carsten Otte beklagt im Tagesspiegel: „Das ist alles so unwahrscheinlich.“[3] Zählt es also neuerdings zu den qualitativen Anforderungen an einen Roman, die Realität 1:1 abzubilden und jede Fantasie strikt zu vermeiden?

Jan Drees fragt sich im Deutschlandfunk, ob „Miroloi“ „als Parabel auf die Unterdrückung von Frauen im Niger, im Chad oder Burkina Faso“ gelesen werden könne. Warum aber, fragt er, „haben die Figuren dann skandinavische Namen wie Jakup Jakupsohn?“[4] Dass Frauen von europäischstämmigen Männern Gewalt erfahren könnten: Undenkbar! Dafür, dass Jan Drees „Miroloi“ als „Easy Read“ einstuft, tut er sich mit der Dechiffrierung einer Parabel reichlich schwer. Im Roman dürften Frauen nicht studieren, hält er irritiert fest, aber im Jahr 2019 schon! „Seit über zehn Jahren beginnen in Deutschland mehr Frauen als Männer ein Medizinstudium“, teilt er mit. Am bemerkenswertesten aber ist seine These, die Bücher mancher Autorinnen würden nur publiziert, damit Verlage auch anspruchsvolle Literatur finanzieren könnten. Wahre und schützenswerte Literatur, so zeigt sich in Drees’ folgenden Beispielen, wird von weißen Männern geschrieben, und zwar ausschließlich.

Diese Meinung scheint im Literaturbetrieb weit verbreitet zu sein: In allen Medien (mit Ausnahme von Frauenzeitschriften) werden männliche Autoren häufiger (Verhältnis 2:1) und ausführlicher besprochen. Kritiken werden überwiegend von Männern (Verhältnis 4:3) verfasst[5]; Männer schreiben überwiegend über Männer - und bekommen dafür auch deutlich mehr Platz.[6] Bei Besprechungen von Büchern männlicher Künstler wird deutlich häufiger zwischen Person und Werk differenziert.[7] Frauen haben weniger Chancen auf Preise (mit der Ausnahme des Deutschen Buchpreises), Stipendien, Podiumsplätze und Führungsfunktionen.[8] (Und noch seltener haben sie Chancen auf Führungspositionen, ohne sich öffentlich als „Hexe“, „schwarze Witwe“ u.ä. bezeichnen lassen zu müssen[9] oder trotz herausragender Arbeit plötzlich geschasst zu werden.[10]) Dass mit Miroloi ein Roman, der von einer Autorin geschrieben wurde und sich mit weiblicher Selbstermächtigung auseinandersetzt, als Spitzentitel platziert wurde, ist im Jahr 2019 ein ebenso erfreuliches wie überfälliges Signal.

[1]„Die Zeit“ zum Roman „Miroloi“ von Karen Köhler

[2]„Die Zeit“ zum Roman „Miroloi“ von Karen Köhler

[3]Der Tagesspiegel zum Roman „Miroloi“ von Karen Köhler

[4]Der Deutschlandfunk zum Roman „Miroloi“ von Karen Köhler

[5]Studie „Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb“ (PDF)

[6]Studie „Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb“ (PDF)

[7]„Oben ist die Luft für Frauen dünn: Im Literaturbetrieb liegt die Macht noch immer bei Männern“ (Aargauer Zeitung) 

[8]„Über die Freiheit zur Geschlechtergerechtigkeit - Frauen in Kultur und Medien (buecherfrauen.de)

[9]„Standfestigkeit ist alles (Der Tagesspiegel)

[10]„Schon wieder eine Frau rausgekippt wie Abfall“ (Süddeutsche Zeitung)

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