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Heimat ist für mich der Ort, an dem man gelernt hat zu leben

Özen Yula
© Cem Türkel

Özen Yula ist sowohl auf dem Gebiet der Literatur als auch des Theaters ein ausgesprochen produktiver Autor. Seine Kindheit verbrachte er in verschiedenen Städten, auch internationale Stationen waren darunter. Her Zerre Kara, das er nach 12 Jahren Pause schrieb, erschien 2021 und hat mich stark beeindruckt. Als wir ein Interview zum Erscheinen seines Romans führten, dessen fiktionale Struktur ein Panoptikum zahlreicher Geschichten und Figuren vom konservativen Social-Media-Troll bis Frau Agavni, vom nationalistischen Rapper bis zum Büroangestellten, von den Seitenstraßen bis in die Alleen, vom Reality-TV-Sternchen bis hin zum Erpresser umfasst, sagte Yula: „Das, was wir die neue Türkei nennen, das ist auch dieser Roman.“ Als wir dieses Projekt zum Thema Heimat verwirklichten, habe ich erneut mit ihm gesprochen. Wo war „Heimat“ für Özen Yula zu verorten, den Autor des Romans über die neue Türkei, und was bedeutete sie ihm? Lesen Sie hier nun also unser Gespräch mit Özen Yula zum Thema Heimat…

Ist Heimat für Sie „die Gesamtheit des Territoriums, das unter der Herrschaft eines Staates steht“ oder „der Ort, an dem Sie geboren wurden und aufgewachsen sind?“ Wie würden Sie Heimat definieren?

Heimat ist für mich der Ort, an dem man gelernt hat zu leben. Ein Ort des Zugehörigkeitsgefühls. Bei mir beruht dies auf Gegenseitigkeit. Ein Ort eben, den ich als mir zugehörig empfinde, der mich gleichzeitig aber so empfinden lässt, als wäre ich ihm zugehörig! Früher einmal war dies eine Stadt namens Gaziantep. Als ich nach Jahren wieder dorthin zurückkehrte hatte es die Eigenschaft von Heimat verloren, hatte sich in einen gänzlich anderen Ort verwandelt. Ich wohnte in einem Hotel, das anstelle des steinernen Wohnhauses eines Freundes meiner Familie gebaut worden war, den wir dort einmal besucht hatten. Auch damals habe ich mir diese Frage gestellt. Wo ist meine Heimat? Deine Kindheit, die du längst verlassen hast und deine frühe Jugend sind leider als Heimat ungeeignet. Später dann wurde Ankara meine Heimat. Meine Jugend, meine Studentenzeit, Spaziergänge auf der Cinnah, die Sakarya Caddesi...Dann wurde Istanbul mir zur Heimat...Die Straßen, die Nächte in Beyoğlu, verschiedene Tafelrunden, Erlebnisse, Arbeitskollegen, das Berufsleben. Am Ende ist es das Zuhause, von dem man weiß, dass es auf einen wartet. Der Begriff Heimat geht in meinem Verständnis auch ein wenig mit dem Begriff Zuhause einher. Also ein Raum, in dem ich mich einrichten kann, in dem ich spüre, dass ich dort zu existieren vermag, mich dort wohlfühle.

Welchen Platz nimmt „Heimat“ von den Anfängen bis heute in der literarischen Welt des Autors Özen Yula ein? Inwiefern hat das geografische Umfeld, in dem Sie leben, das Sie beobachten, Einfluss auf Ihr Schreiben?

Heimat ist sehr deutlich ausgeprägt in dem, was ich schreibe. Ich habe immer versucht, von den Menschen dieses, meines geografischen Umfelds, von ihren positiven/negativen Seiten zu erzählen ohne dabei Partei zu ergreifen. Ich habe Eigenschaften hinzugefügt, die ich mag und welche, die mir nicht so sehr zusagen. Aber ohne dabei Attribute, Definitionen oder Worte zu verwenden, die dem Leser eine Richtung vorgeben. In einem meiner Bücher, das von Frauen und unterschiedlichen Frauentypen handelt, habe ich wiederum die Verortungen und Situationen beschrieben, die in meiner Wahrnehmung den unterschiedlichen Frauentypen von der Vergangenheit bis in die Gegenwart entsprechen. Ich vermute, dass –abgesehen von meinen Heimatgeschichten- in diesem Buch, also in Jartiyer, Kırbaç ve Baby-Doll’ün Ötesindekiler, das, was wir Heimat nennen, am deutlichsten ersichtlich wird.          
                       
In Ihrem Roman Her Zerre Kara finden sich die „neuen Geschichten“ der „neuen Türkei“. Für mich erzählt der Roman die Gesamtheit der Situation unseres Landes, sämtlicher Zustände im Land. Wie sehen Sie das? 

Her Zerre Kara war für mich ein Prozess, in dem ich darüber nachgedacht habe, wie man denn in einem Roman die Gegenwart in einer heutigen Sprache erzählen könnte. Ich habe versucht, das „neue Istanbul“, das mir gegenwärtig Heimat ist, so zu erzählen, dass dabei die historische Tiefe nicht vernachlässigt wird und auch der Ordnung im „Chaos“, so sie denn existiert, Rechnung getragen wird. Ich habe dabei Denkprozesse durchlaufen, die sich damit beschäftigt haben, ob eine andere Sprache möglich ist, was für eine Entwicklung die Seele der heutigen Türkei nimmt und wie sich diese Reise gestaltet und wo ich mich eigentlich selbst als Individuum dabei befinde. Am Ende ist das Land in meinem letzten Roman so in Erscheinung getreten, wie ich es hier erzähle.
Der Zustand des Landes bedingt die Menschen; und das Werteverstädnis und die Existenzsorgen der Menschen bedingen den Zustand des Landes. Ein gegenseitiger Prozess. Alles geschieht im Lichte einer merkwürdigen Wahrscheinlichkeitsrechnung. Alles, was in der Vergangenheit als Wert verstanden wurde und gewöhnlich war, wird gegenwärtig, wenn man ihm begegnet, unter den Schirm der „Güte“, der „Gefälligkeit“ eingeordnet. Und das führt unweigerlich, wenn man damit konfrontiert ist, zu einem Brennen im Hals. Denn es hat großen Seltenheitswert. Andererseits kann sich aber niemand auf der Welt vor den Erosionen, die seine eigene Zeit mit sich bringt, beschützen. Es wäre auch entgegen der Natur der Dinge, sich vor ihr in Schutz nehmen zu können. Im Laufe der Weltgeschichte hat die menschliche Rasse zu allen Zeiten ähnliche Situationen erlebt und hat nie aus ihnen gelernt. Da wir aber in einem Spektrum von Kausalität und Logik denken, nähren wir diesen Zustand und sind sehr weit davon entfernt, eine dritte Alternative zu entdecken, die jenseits dieser Struktur funktioniert. Könnten wir doch bloß eine neue Denkpraxis etablieren! Ich persönlich habe es mir zur Regel gemacht, jeden Tag einige neue Dinge zu lernen. Unabhängig davon, ob sie mir etwas nutzen oder nicht, aber das Lernen verschafft mir, wie mir scheint, einen Bewegungsspielraum. Vielleicht wird sich auch mein Verständnis von Heimat im Licht dieser neu erworbenen Informationen verändern. Noch weiß ich es nicht.    

Sind Sie der Auffassung, dass die heutige türkische Literatur Istanbul-zentriert ist?

Eigentlich sehe ich sie als ein Gebilde, in dem auch die Provinz fortbesteht. Jedoch scheint es mir, als seien die Istanbuler Erzählungen in der überwältigenden Mehrheit. Wenn man eine Stadt mit 20 Millionen Einwohnern erschafft, eine Stadt, die mehr wie ein Land erscheint, wird ihre Vormachtstellung unvermeidbar. Aber es scheinen mir unterschiedliche Stile zu existieren zwischen denen, die Istanbul als Istanbul erzählen und denen, die die ländlichen Zustände in der Stadt behandeln.   

Auch wenn Texte zur Provinz vorhanden sind, erscheint es Ihnen dennoch so, dass die Provinz wie gewohnt an den Rand des Landes gedrängt wird?  

Die Provinz wurde immer an den Rand gedrängt. Wenn man es ganzheitlich betrachtet. Auf der anderen Seite war die Provinz bei uns immer mit einer merkwürdigen inneren Aufteilung in Dorferzählungen, Kleinstadtgeschichten und städtische Erzählungen konfrontiert. Dabei ist es so, dass Istanbul heute als die große Gesamtheit einzelner Provinz-Ghettos in Erscheinung tritt und dadurch alle Erzählungen der Provinz auch ihren Platz in den Erzählungen der riesigen Metropole finden. Das muss man sich ungefähr so vorstellen wie die Kirche, die im Mittelalter das Theater draußen verflucht und zu vernichten versucht hat, während es in ihrem Inneren durch Moralitäten am Leben gehalten und gerettet wurde. 

Die Frage nach der Heimat, der Herkunft ist ein wichtiger Bestandteil des Kennenlernens in der Türkei. Was sind Ihre Überlegungen und Beobachtungen zu dieser Frage? Warum ist sie die erste Frage, die gestellt wird, und warum ist sie so entscheidend?

Das ist interessant. Einerseits der Versuch, Nähe aufzubauen, ein gemeinsames Gefühl von Sicherheit zu bekommen, vielleicht Vertrauen und Entspannung zu schaffen. Andererseits könnte es auch gedeutet werden als Vorkehrung und Schutzmaßnahme durch das augenblickliche Thematisieren stereotyper Attribute wie „gewieft“, „geizig“, „engstirnig“, „hinterhältig“, die jeder Stadt zugeschrieben werden.

Möchten Sie noch etwas ergänzen zum Thema „Heimat?“ …

Am gelungensten wird Heimat in einem Gedicht von Bedri Rahmi Eyüboğlu definiert: „Meine Heimat, die du an der Brust eines Riesen Zwergen stillst.“ Ich glaube, diese Metapher ist bisweilen unübertroffen.

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