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Carl Gerber
Was rot war

Enrico Ippolito & Carl Gerber
© Foto: Carl Gerber: Kolya Reichart; Foto: Enrico Ippolito: Tobias Brust

Von Carl Gerber

Im Debütroman „Was Rot War“ von Enrico Ippolito setzt sich der junge Mann Rocco mit nichts Geringerem als der kommunistischen Vergangenheit seiner Mutter und deren bester Freundin Lucia auseinander. Als Lucia stirbt, spürt Rocco bei einem seiner seltenen Besuche seiner Mutter in Köln, wie bewegt diese von dem Todesfall ist. Die beiden Frauen lernten sich Ende der 70er Jahre in einer kommunistischen Schule bei Rom kennen und kämpften damals trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft für dieselben Ideale, in einer Zeit voller Umbrüche und Möglichkeiten. Ihr wichtigstes gemeinsames Anliegen war es, die „Frauenfrage“ in einem männerdominierten Umfeld so lange zu stellen, bis diese endlich nicht mehr nur als Angelegenheit der Frauen wahrgenommen wurde, sondern als etwas, das ausnahmslos alle Pateimitglieder anging. Doch Lucia und Roccos Mutter mussten miterleben, wie patriarchale Strukturen ihre Ziele und Träume von einer politischen Karriere vereitelten. Ippolito erzählt eben nicht von denen, deren Namen sich in unser kollektives Bewusstsein eingeschrieben haben, sondern schildert eindrücklich, wie systemische Ausschlüsse und Diskriminierungen Individuen in die Bedeutungslosigkeit abdrängen, unabhängig von ihrem Können oder ihren Fähigkeiten. Einmal schreibt Lucia in einem Brief an ihre beste Freundin: „Niemand interessiert sich für mich, für uns, für unsere Geschichte“.

„Was ist zwischen meiner Mutter und Lucia vorgefallen?“ Diese Frage treibt Rocco dazu, sich auf Spurensuche zu begeben, auch wenn ihn bis dahin die eigene Vergangenheit, geschweige denn die seiner Eltern, nie sonderlich interessiert hat. Rocco überredet seine Mutter, gemeinsam nach Rom, in seine Geburtsstadt, zur Lucias Beerdigung zu reisen. Immer deutlicher wird für ihn, dass die Funkstille zwischen den beiden Freundinnen, die über ein Jahrzehnt hinweg geherrscht hat, nicht nur mit politischen Differenzen zu tun hatte, sondern auch mit Gefühlen wie Missgunst und Eifersucht. Dass dafür ein Mann, Roccos Vater, der Auslöser war, ist im Laufe der Erzählung zwar etwas vorhersehbar (spätestens ab dem Versprechen der beiden Frauen, keinen Mann wichtiger zu nehmen als ihre politischen Ziele ist klar, dass genau dies passieren muss). Berührend wiederum ist jedoch der Nachhall dieses Spannungsfeldes aus großer Politik und privaten Gefühlen in Roccos Kampf mit dem eigenen Innenleben. Denn als abgeklärter Berliner Schlendrian lässt er so schnell nichts an sich heran. Und der Umgang seiner liberalen deutschen Freund*innen mit ihrem Gefühlshaushalt (Therapie, Analyse, Selbstoptimierung, etc.pp.) ist eben einfach nicht seiner. Bei Rocco und seiner Familie gelten andere Regeln, und eine davon lautet, dass es Wichtigeres und Größeres gibt als die eigenen Befindlichkeiten.

Dieser Spiegel, den der Roman einem westdeutschen Leser wie mir vorhält, aufgewachsen im Individualismus und der damit verbundenen permanenten Innenschau, ist wohltuend kritisch. Sowohl in der Schule als auch in meiner Erziehung hat der Kommunismus kaum eine Rolle gespielt. Das mag mit dem westdeutschen Verbot der Partei 1956, der amerikanischen Anti-Kommunismus-Propaganda bis über den Kalten Krieg hinaus und der immer radikaler werdenden, westlichen Abgrenzung zum deutschen Osten zu tun haben. Roccos Eltern, die als kommunistische Funktionär*innen in den 80er Jahren nach Köln gezogen sind, müssen entsprechend auf verlorenem Posten gewesen sein und aus der Distanz miterlebt haben, wie auch im Heimatland der Bedeutungsverlust ihrer Partei rapide zugenommen hat. So umweht „Was Rot War“ auch ein Hauch von Nostalgie und Ippolito schafft es nicht immer, die damit einhergehenden Untiefen zu umschiffen. Aber vielleicht sind es zum Teil auch meine eigenen, tief verwurzelten Klischeevorstellungen, welche allein schon bei der Nennung des Revolutionsliedes „Bella Ciao“ wach werden. Fest steht, dass Rocco, seine Mutter und Lucia in einer Sache eng verbunden sind: Der Sehnsucht nach einer anderen, gerechteren Gesellschaftsform. Während Rocco wehmütig zurück in die Vergangenheit schaut und ihm sein eigenes Leben marktliberal und Smartphone-diktiert vorkommt, schauen die beiden Frauen aus den 70ern hoffnungsvoll in die Zukunft, bis die große Enttäuschung nach dem Fall der Berliner Mauer endgültig eintritt. Indem es Ippolito gelingt, die hoffnungsvollen Jahre des italienischen Kommunismus wieder zu beleben, eröffnet sein Roman Raum für Alternativen, neue Möglichkeiten und Träume, die nach dem bis zur Resignation wiederholten „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) oder dem neoliberalen ThatcherSlogan „There is no Alternative“ immer wieder negiert wurden. Und er zeigt Interesse an eben diesen Geschichten und Perspektiven, für die sich viel zu lange niemand interessiert hat.

Am Ende steht Rocco zwar wieder auf der Straße und weiß wenig mehr als zu Beginn, schon gar nicht genau, wo er hingehört und was Heimat für ihn bedeuten soll. Aber warum und wozu auch? Schließlich hat Rocco zwei Männer kennen gelernt: Mit Hassan einen Anarchisten, den er endlich an sich heranlassen kann, und mit Antonio Gramsci eine zwar tote, aber gegen die typische Berliner Gleichgültigkeit anredende Galionsfigur, die (Zufall oder nicht) den gleichen Vornamen trägt wie Roccos verstorbener Vater.

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