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Unser Land muss das Erinnern neu erlernen: Fresko Apartmanı

Eray Ak
© Eray Ak

Von Eray Ak

Erinnern ist manchmal ein Fluch und wird manchmal zu einem Segen. Je mehr die Last des Erlebten auf die Schultern, die Seele, den Geist der Menschen drückt, öffnet sich diese Schere zwischen „Segen“ und „Fluch“ immer weiter, und die dunkle Seite gewinnt an Übermacht. Genau das ist der Grund, weshalb der Mensch erzählen möchte. Deshalb wird Schreiben zu einem Muss. Deshalb verstärkt sich bei jedem Schritt das Bedürfnis ein klein wenig weiter, das was erlebt worden ist, nicht in den Geschichtsbüchern zu belassen, sondern sich damit auseinanderzusetzen.
Und ist nicht genau das auch der Grund dafür, dass Literatur existiert?
Ist es nicht so, dass Geschichten, Romane ein wenig auch deshalb geschrieben werden?
Dienen Geschichten nicht dazu, sich an das Erinnern zu erinnern?
Es ist von einem literarischen Werk nicht zu erwarten, dass es etwas „lehrt“, aber manchmal müssen wir von neuem lernen, uns zu erinnern. Das Buch Fresko Apartmanı von Başak Baysallı, dessen Erstauflage 2020 bei Everest Yayınları erschienen ist, ist genau ein solches Buch. Die Autorin lädt mit ihrer Erzählung um die Geschehnisse des 6. und 7. September, einem der schmerzlichsten Kapitel der neueren Geschichte der Türkei, jeden dazu ein, zu erinnern, in Erinnerung zu rufen und die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen zu suchen. Im Ergebnis wird uns eine Gesamtheit an Geschichten präsentiert, die uns davon erzählt, wie und durch welche Prozesse, Erinnerungen, die ein Segen hätten sein können sich in einen Fluch verwandeln. Was Başak Baysallıs Feder entstammt, kann getrost als hervorstechend unter den Büchern bezeichnet werden, die die Form der Kurzgeschichte mit der Kunst des Geschichtenerzählens verbinden. Obgleich mit Fresko Apartmanı ein Erstlingswerk vorliegt, wird schnell klar, dass die Autorin den Lesern ihres Buches ein ausgereiftes Erzähluniversum und einen ausgefeilten Sprachcharakter vorlegt.  

Der Schnittpunkt der Geschichten

Die Autorin erzählt die Geschichten von Kirkor, Rüya, Eleni, Ani, Nadia, Ali Turhan, Bora und Ismail, die in einem Wohnhaus in Kuzguncuk, dem Fresko Apartmanı, gegenseitig in ihren Leben Zuflucht finden. Das Wohnhaus ist nicht nur der Treffpunkt der Figuren ihrer Geschichten. Es steht auch genau im Zentrum der Schnittpunkte der Erzählung. Baysallı versammelt nicht nur alle Figuren in einem Wohnhaus, sie verknüpft auch ihre Geschichten sehr gekonnt miteinander. Somit entsteht zwar einerseits ein Kurzgeschichtenband, der auf soliden Fundamenten fußt, andererseits zwinkert die Struktur des Buches aber auch der Form des Romans durchaus zu. Diejenigen, die Fresko Apartmanı zur Hand nehmen und sagen, dass sie einen Roman neuer Form gelesen haben, tuen daher dem Buch sicher nicht Unrecht. In kurzen, harmonischen Sätzen und in Begleitung eines im Hintergrund wahrnehmbaren musikalischen Rhythmus ziehen sich die Kurzgeschichten über die Seiten des Buches. Wen man das Buch liest, möchte man nicht zwischen den Geschichten anhalten und durchatmen, man hat das Bedürfnis mit der nächsten Geschichte fortzufahren. Denn ab der ersten Seite wissen wir, wir werden in der Wohnung von jemand anderem im Fresko Apartmanı zu Gast sein, wenn wir weiterlesen. Von Kirkor zu Rüya, von Eleni zu Ani...werden wir mit jedem Satz das Wohnhaus vervollständigen und jede Wohnung im Gebäude einzeln besuchen. Wir werden die Geschichten aneinanderreihen und unterschiedlicher Seiten einer Gesamtheit gewahr werden. Aus jeder Wohnung werden wir mit einer anderen Geschichte und einer anderen Figur wieder heraustreten und somit das Erzählte zu einem Buch werden lassen. So wie Başak Baysallı die Wohnungstüren nie ganz verschließt, wenn sie sich durch die unterschiedlichen Wohnungen im Fresko Apartmanı bewegt, so verbindet sie auch jede der Geschichten sorgfältig mit den anderen. Genau aufgrund dieses Gefühls der Gemeinsamkeit, der Verknüpfung der Geschichten, weil sich die Geschichten in Fresko Apartmanı ergänzen und vervollständigen, gelingt es ihnen, sowohl einzeln, Geschichte für Geschichte, als auch als Gesamtheit unter einem narrativen Dach unterschiedliche Bedeutungen zu transportieren. Die Figuren halten das Fresko Apartmanı selbst, das Gebäude wiederum hält das Buch unter einem Dach zusammen. Auf der anderen Seite muss man zu den Figuren der Geschichten auch das Gebäude selbst als eigenständige Figur hinzuzählen. Jede Freude und jedes Leid, durch das die Autorin ihre Figuren hindurchmanövriert, wird auch durch das Wohnhaus erlebt. Wie ein Abbild der Türkei jener Jahre steht das Fresko Apartmanı aufrecht vor uns. Wir erleben eine Welt, die beseelt ist vom Istanbul der 1950’er Jahre, von Ausblicken und Momentaufnahmen aus Kuzguncuk und den Bewohnern des Viertels. Die Sätze, die Başak Baysallı schreibt, liegen vor uns wie ein Bildnis einer Traumvorstellung, nach der wir uns sehnen. Eine andere Seite der Zeit, die die Autorin in ihren Geschichten erzählt, sind die Ereignisse vom 6. und 7. September. Auch sie finden Eingang in Baysallıs Welt als eine bedeutende Bruchstelle, ein Wendepunkt im Leben jener Menschen, die in Kuzguncuk Freude und Leid miteinander teilen und leben.    


Große Wellen der Migration

Der Hintergrund der Ereignisse vom 6. und 7. September 1955, die mittlerweile als „geteilter, gemeinsamer Schmerz“ erinnert werden, ist heute noch immer aktuell und wird diskutiert. Was dabei allerdings häufig übergangen wird, ist die Tiefe der Enttäuschungen in jenen Lebensgeschichten, die – wie in Baysallıs Fresko Apartmanı beschrieben – ineinander verwoben und von gegenseitiger Zuneigung gekrönt waren. In Verbindung mit der vorausgegangenen Propaganda, haben die Ereignisse vom 6. und 7. September 1955 dafür gesorgt, dass die griechische Bevölkerung in großen Migrationswellen das Land verlassen hat. Geblieben ist der Bodensatz von Trennungen und unbenannten Verletzungen. Başak Baysallı entfernt nun genau jenen Bodensatz von dem Erlebten und überlässt ihre Geschichten der Aktualität einer Jahre späteren Gegenwart. Sie erinnert an die Freundschaften und bildet erneut einen Ring der Liebe um den gemeinsamen Schmerz. Die Gefühlswelt der Kurzgeschichten von Baysallı wird neben der die allgemeine Atmosphäre prägenden Freude und Wehmut, auch und vor allem durch „Liebe” geprägt. Genau wie bei der Auswahl der Form und des sprachlichen Charakters dient der Autorin auch hier als wichtigster Orientierungspunkt die Suche nach Gleichgewicht, nach Balance. Die erzählte Gefühls- und Ereigniswelt, die das Potenzial zu großer Agitation und Stimmungsmache in sich trägt, so man sie denn zu sehr betont, rückverwandelt sich aus der Feder von Başak Baysallı – so man das denn sagen kann – in ihre ursprüngliche Wirklichkeit. 

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