Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Kuratorin: Sevin Okyay
Impressionen aus der Krimi-Landschaft

Sevin Okyay
© Kutlu SB Portre

Von Sevin Okyay

Wir sind sehr stolz auf die hiesige Krimi-Landschaft, die wir im Rahmen des Projekts „LiteraTür“ für das Goethe-Institut Istanbul vorstellen dürfen. Zwei Ziele hatten wir vor Augen: Zum einen sollten Krimiautor*innen im Vordergrund stehen, die in der Türkei bekannt und gefragt sind, die viel gelesen werden. Bis auf drei Werke von Alper Canıgüz [Söhne und siechende Seelen, Höllenblume, Secret Agency][1] wurde allerdings keines der hier präsentierten Bücher ins Deutsche übersetzt. Daher ist unser zweites Ziel, deutschsprachige Fassungen dieser Bände zu ermöglichen, um sie den Krimiliebhaber*innen in Deutschland zugänglich machen zu können. Darüber hinaus stellt uns Su Turhan deutschsprachige Kriminalromanautor*innen- und Werke vor, die noch nicht ins Türkische übersetzt wurden.
 
Zunächst war es erforderlich, die Geschichte der türkischen Kriminalliteratur zu beleuchten, die vor allem eine in Vergessenheit geratene ist. Mit der Diversifizierung der Genres nach 1980 hat die Zahl der Autor*innen und Romane stark zugenommen, sodass viele glaubten, die Geschichte der türkischen Kriminalliteratur habe erst zu diesem Zeitpunkt begonnen. Wie aus dem Text von Ömer Türkeş hervorgeht, dem vermutlich versiertesten Experten für türkische Literatur im Allgemeinen und Kriminalliteratur im Besonderen, haben Krimis hierzulande aber eine über hundertjährige Geschichte. Als nach der Republikgründung im Jahre 1928 die Umstellung von der arabischen Schrift auf die lateinische vollzogen wurde, kam es zu einer Welle von Kriminalromanen. Korkmayınız Mr. Sherlock Holmes [Sie brauchen keine Angst haben, Mr. Sherlock Holmes] von Erol Üyepazarcı – der für dieses Projekt auch einen Text über die Werke von Alper Canıgüz beigesteuert hat – klärt detailliert über die lange Tradition türkischer Kriminalliteratur auf.
 
Anhand von drei Besprechungen stellen wir dem deutschsprachigen Publikum die Werke von Krimiautor*innen der jüngeren und mittleren Generation vor. Das Besondere dabei ist, dass unsere Rezensenten selbst vom Fach sind. Armağan Tunaboylu, der Çağatay Yaşmuts Werk präsentiert, und Doruk Ateş, der über Ayfer Kafkas schreibt, sind beide Krimiautoren. Erol Üyepazarcı hat wie erwähnt ein umfassendes zweibändiges Buch über die hiesige Kriminalliteratur verfasst und ähnliche Anstrengungen für die Populärliteratur unternommen. Nach eigenen Aussagen ist er ein „Krimi-sehr-lieb-Haber“. Üyepazarcı arbeitet mit jungen Akademikerinnen zusammen und hat osmanische Kriminalwerke, insbesondere die beliebte Cingöz-Recai-Reihe, in Lateinschrift übertragen, die Aufhebung ihrer Zensur und Kürzung bewirkt und sie in eine chronologische Reihenfolge gebracht.
 
Die Hauptfigur von Çağatay Yaşmut und das Thema der ersten Besprechung ist der leitende Mordkommissar Galip, der im Istanbuler Stadtteil Kadıköy lebt. Ein jovialer Charakter, dessen Persönlichkeit mit der seines Erfinders wenig gemein hat. Galip, der nicht eher ruht, bis er einen Mordfall gelöst hat, liebt die Frauen und die Frauen lieben ihn. Er hat keinerlei Interesse an Kultur, Kunst und Literatur, sondern liest nur die Sportbeilagen der Zeitungen. Yaşmut hingegen ist ein ruhiger, eher zurückhaltender Mensch mit einer Ausbildung in Ökonometrie und seit ich ihn kenne, stets daran interessiert, seine philosophische Ausbildung auf verschiedenen Ebenen weiterzuführen. Außerdem ist er ein preisgekrönter Autor, dessen Bücher sich gut verkaufen und der seiner Romanfigur Galip überaus verbunden ist, obwohl sie sich so gar nicht ähnlich sind.
 
Armağan Tunaboylu, Autor des Artikels, hat selbst die Welt der Krimis um eine sehr interessante fünfbändige Serie bereichert. Seine Romanfigur, Metin Çakır, ist ein drittklassiger Schwätzer und in seiner Nachbarschaft sozusagen der Hahn im Korb, der ständig mit dem Oberkommissar Asım aneinandergerät und grundsätzlich wegrennt, wenn es darauf ankommt. Tunaboylu ist ein begabter Autor, der nicht nur bei der Presse und im Fernsehen gearbeitet, sondern auch Drehbücher verfasst hat.
 
Um noch einmal auf die Übertragung osmanischer Krimis in Lateinschrift zurückzukommen: Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Sprache hierbei zumeist vereinfacht wird, um den Leser*innen die Handlung verständlicher zu machen. Unter ihnen gibt es aber wertvolle Werke wie beispielsweise die von Zuhal Kuyaş, die bisher leider kaum Beachtung fanden. Nicht von ungefähr ist die Hauptfigur in Ayfer Kafkas‘ Romanen ein osmanischer Polizist: Eşrefzade İdris Bey aus Dersaadet[2], wird vom Sultan persönlich beauftragt, einen Mordfall im anatolischen Germiyan Sancağı[3] aufzudecken. Er ist ein akribischer, disziplinierter und gutmütiger Polizist, der sich mit dem Edikt des Sultans in der Tasche auf die Reise nach Anatolien begibt. Die Rezension dieser Reihe schrieb Doruk Ateş, Autor von zwei Kriminalromanen, der lange Zeit im öffentlichen Dienst, aber auch für private Unternehmen und bei der Arbeitergewerkschaft beschäftigt war.
 
Alper Canıgüz, über den Erol Üyepazarcı schreibt, ist der Erfinder eines hochinteressanten Charakters: Sein Detektiv ist sein noch sehr junger Namensvetter Alper Kamu. 2004 trat Kamu erstmals in Oğullar ve Rencide Ruhlar [dt. Übs. Söhne und siechende Seelen] in Erscheinung. Canıgüz stellt uns einen Jungen vor, der zwar nur fünf Jahre alt ist, aber fünfmal so alten Menschen in Bezug auf Intelligenz, Urteilsvermögen und Wissen um einiges voraus zu sein scheint. Der Kinderdetektiv, dessen Name auf Albert Camus anspielt, stellt im ersten Band dieser Reihe fest: „Mit fünf Jahren befindet sich der Mensch auf der Höhe seiner Reife, danach beginnt er zu faulen.“
 
Ein weiteres Trio bilden die Krimiautor*innen, die im Rahmen dieses Projekts für Podcasts zur Verfügung standen: Ayşe Erbulak Özgürdal, Ercan Akbay und Suat Duman. Die Gespräche mit den ersten beiden Autor*innen habe ich als Kriminalliteratur-Kritikerin sowie ehemalige Moderatorin und Redakteurin des NTV Radio-Programms Cinayet Masası [Die Mordrunde] geführt. Das Interview mit Suat Duman hat Özlem Özdemir übernommen, Redaktionsmitglied und Herausgeberin des Magazins 221B – erstes und einziges Printmagazin zum Thema Krimi in der Türkei.
 
Ayşe Erbulak liest seit ihrem 14. Lebensjahr Kriminalromane, 2012 erschien ihr Erstlingswerk Çok Şekerli Ölüm [Süßester Tod]. Dieser Roman ist der Auftakt der Trilogie Hafiye Karılar [Detektiv-Weiber]. Erbulak schickte Meral und Deniz, die geliebten Figuren dieser Serie, nach Limoni Ölüm [Saurer Tod] und Ödüllü Ölüm [Preisgekrönter Tod] in den Ruhestand, während der Vorgesetzte Deniz noch einmal einen Fall in Dokuz Oda Cinayetleri [Die 9-Raum-Morde] lösen durfte.
Die Themen ihrer nachfolgenden Werke sind weiter gefasst und tiefschürfender. Die Autorin verabschiedete sich von der Frage „Wer ist der Mörder?“, identifizierte die Verbrecher*innen bereits zu Beginn. So konnte sie die Handlung ganz auf die Ermittler*innen ausrichten. Ayşe Erbulak arbeitet übrigens auch als Theaterkünstlerin und Pädagogin.
 
Ercan Akbay ist ebenfalls ein Autor, der neben dem Schreiben von Kriminalromanen anderen Tätigkeiten nachgeht. Seit seiner Kindheit interessiert er sich neben der Literatur auch für Musik und Malerei, beherrscht zwei Musikinstrumente und zeigt seine Kunstwerke in Ausstellungen. Bei der von ihm initiierten Veranstaltungsreihe Yeraltı Hikâyeleri [Unterirdische Geschichten] liest er in Begleitung seiner Akustikgitarre finstere Geschichten über psychopathische Mörder*innen. Für ihn sind unterschiedliche Kunstformen ideale Mittel, um sich abwechslungsreich und intensiv ausdrücken zu können. Akbay schreibt und forscht zu Serienmörder*innen – ein Thema, von dem es heißt, es käme in der türkischen Kriminalliteratur zu kurz. Mit dem preisgekrönten Roman Yağmurdan Önce [Vor dem Regen], Teil der „Sami-Tuzcu“-Trilogie, hat er eine überarbeitete Fassung seines ursprünglich als Drehbuch angelegten Werkes Tilki Tilki Saat Kaç [Fuchs, Fuchs, wie spät ist es?] vorgelegt.
 
Auch der Autor unseres dritten Podcasts, Suat Duman, hat vielseitige Interessen: Er ist Anwalt, Schriftsteller und Verleger. Seine erste Romanfigur als Krimiautor ist Mehmet Cemil, der nach seinem Jurastudium als Assistent in einer Kanzlei angestellt wird. Die Geschichte spielt in Ankara, während sein zweites Buch in Istanbul verortet ist. Die Romane Cinayet Mevsimi [Die Säson des Mordes] und Müruruzaman Cinayetleri [Verjährte Morde] verhalfen ihm zu dem Ruf, einer der besten Krimiautor*innen der Türkei zu sein. Im Anschluss an den „schnellen, düsteren und scharlachroten Krimi“ Dünyanın Leşleri [Der Abschaum der Welt], schrieb er Rakun [Der Waschbär], das ebenfalls temporeich ist und fast schon cineastisch anmutet. Weitere Werke sind die ersten beiden Bände der Krimireihe 1918, die sich mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und der Besetzung Istanbuls befasst. Die Hauptfiguren sind zwei selbstbewusste Frauen, die in Frankreich studiert haben: Ferda und Miette. Suat Duman arbeitet außerdem auch an Serien- und Filmdrehbüchern.
 
Mit dem Krimiautoren, Übersetzer und Lektor Algan Sezgintüredi habe ich ein schriftliches Interview geführt. Da er seinen Lebensunterhalt größtenteils als Lektor verdient, kommen seine schriftstellerischen und übersetzerischen Tätigkeiten oft zu kurz. Sezgintüredi begann seine Karriere mit einem Science-Fiction-Roman und auch sein jüngstes Werk ist in diesem Genre beheimatet. Dazwischen hat er neben zahlreichen Übersetzungen insgesamt fünf eigene Kriminalromane verfasst: Katilin Şeyi [Die Sache des Mörders], Katilin Meselesi [Die Angelegenheit des Mörders], Katilin Uşağı [Der Lakai des Mörders], Katilin Şahidi [Der Zeuge des Mörders] und Maktulün Şansı [Die Chance des Ermordeten]. Sezgintüredi hat sich im Rahmen seiner Krimikarriere ebenfalls mit Serientaten auseinandergesetzt, die wie erwähnt in der Türkei eher stiefmütterlich behandelt werden. Im ersten Band seiner Reihe begegnen die beiden Protagonisten Vedat und Tefo einem Serienmörder. Diese beiden jungen Männer sind Kinder traditioneller türkischer Familien, die im Istanbuler Stadtteil Kadıköy leben und ein Detektivbüro unter der Aufsicht von Tefos Vater, einem pensionierten Polizeibeamten, eröffnen. Anstelle einer einzelnen Hauptfigur, entschied sich der Autor für zwei, was die Arbeit nicht unbedingt vereinfacht hat. Eine Herausforderung, die Algan Sezgintüredi mühelos meistert, ist er doch ein Schriftsteller, dessen Handlungsstränge solide sind, der die Sprache hervorragend beherrscht und das Lesevergnügen mit einer guten Dosis Humor würzt.
 
Obwohl ich persönlich keine Kriminalromane schreibe oder schreiben kann, habe ich mich diesem Genre mit Leib und Seele verschrieben, sodass ich keiner anderen Tätigkeit nachgehen kann. Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist es für Autor*innen in der Türkei sehr schwierig, ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit dem Schreiben von Kriminalliteratur zu verdienen. Der Grund, warum wir uns von diesem Genre dennoch nicht lösen können, ist Leidenschaft. Alle Autor*innen, die wir hier vorstellen, sind sehr gute Schriftsteller*innen, die ihre Arbeit lieben. Wir laden Sie herzlich dazu sein, diese Autor*innen kennenzulernen.

[1] Die deutschen Fassungen sind im Binooki-Verlag erschienen, der im März 2020 leider in die Insolvenz geriet. Von den Printausgaben der erwähnten Werke sind nur noch Restexemplare verfügbar.
[2] Das heutige Istanbul.
[3] Die heutige Provinz Kütahya.

Top