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Hüseyin Kıran
Wo ist der Ort des Menschen?

Über Ayhan Geçgin und Der Letzte Schritt...

Von Hüseyin Kıran

"Du sagst Zuhause so vor dich hin, aber ich habe kein Zuhause... Im Grunde gab es nie eine Zeit, in der ich mir ein Zuhause, das mir das Gefühl von Zugehörigkeit geben könnte, vorstellen konnte." [Aus dem Türkischen: “Ev, diyorsun kendi kendine, ama bir evim yok… Aslında hiçbir zaman bir ev, kendimi ait hissedeceğim bir evi hayal edemedim." Son Adım, S. 231]

Ayhan Geçgin scheint in seinem Roman folgende Frage zu stellen: Wo ist der Ort des Menschen?

Natürlicherweise fällt einem gleich ein Name ein, sowohl eine Sprache als auch ein Fundament an zwischenmenschlichen Beziehungen, unsere erotisch-sentimentalen Beziehungen und auch ein Ort.

Der Mensch sollte ein Teil seines Zuhauses, seiner Nachbarschaft – der Menschen, die ihn umgeben, und der Beziehungen, die er zu ihnen aufbaut –, und des Heute und unserer Vergangenheit und der möglichen Zukunft sein. Die Ergründung als auch der Aufbau unseres Ortes, unseres Zuhauses und unserer erlebbaren Welt, dessen, was unser Dasein ermöglicht und stabilisiert, ist eine Angelegenheit, die uns alle unmittelbar beschäftigt.

Ohne Frage zeigt der Roman Der Letzte Schritt wie der Autor selbst die Welt und die Menschen wahrnimmt.

In dieser Hinsicht funktioniert Alisan als das Bewusstsein des Autors, jedoch spricht der Autor seinen Protagonisten in den Momenten, in denen nicht Alisans erotische Beziehung zu Kader verhandelt wird, mit "du" an. Indem der Autor auf diese Weise eine seltsame Distanz zwischen sich und seinen Protagonisten legt, scheint er darauf hinweisen zu wollen, dass er nicht dafür verantwortlich ist, wie sich ein bestimmtes Bewusstseins positioniert, und dass ihm und Alisan außer der ästhetischen Funktion keine anderweitige Verbindung zugeschrieben werden soll.

Ist es möglich, ein Leben zu finden? Dies ist eine Frage, die man aus zweierlei Sicht stellen kann: Ist Alisans Bewusstsein dazu fähig, sich für ein Leben zu entscheiden? Eine Lebensgrundlage, ein Gemüt, das es ihm ermöglichen würde, sich niederzulassen, ein Untergrund, ein Fundament an Beziehungen oder eine Vergangenheit, alles, was es ihm möglich machen könnte, sich bedeutsam zu fühlen, scheint es für Alisan nicht zu geben: "Mein Leben, sagst du... das hat vor langer Zeit stattgefunden und bereits sein Ende gefunden. [...] Zukunft, sagst du, eine Zukunft, in der es mich nicht gibt, in der ich niemals sein kann; eine Zukunft, die niemals zu mir kommen wird." [Aus dem Türkischen: “Yaşamım diyorsun… çok önce olup sona ermiş. [...] Gelecek, diyorsun, içinde benim olmadığım, asla olamayacağım, bana asla gelmeyecek olan gelecek." Son Adım, S. 19-20]

Aus der Sicht von Geçgin ist die Sesshaftigkeit genauso unmöglich wie die Flucht. Nachdem Alisan seinen Job verloren hat, reist er an einen Urlaubsort, um abzuschalten und nachdenken zu können. Eigentlich evoziert dieser Umstand das Motiv des in der Natur-Unterschlupf-Findens, jedoch wird sich Alisan dort so sehr langweilen, dass er es nicht abwenden kann, sich in seinem Hotelzimmer wie ein Gefangener zu fühlen. Schließlich können wir die Frage stellen: Gibt es überhaupt die Natur, in der man Zuflucht finden kann? "[...] – Nacht, die Strandküste – das weckt gar nichts in dir. Du frierst bloß." [Aus dem Türkischen: "[...] - gece, deniz kenarı- sende hiçbir şey uyandırmıyor. Yalnızca üşüyorsun." Son Adım, S. 47]

Vielleicht kann nur Kader als Frau – aufgrund ihres weiblichen Körpers das unmittelbare Objekt erotischer Sehnsucht – eine Lebensgrundlage, ein Ort der Sesshaftigkeit, ein Zuhause sein. Jedoch hat sich Alisan gänzlich in seine Innenwelt zurückgezogen; er ist durch die Beschäftigung mit seiner Seelenwelt und der Reflexion über seine Verortung in der Welt nicht in der Lage, Verständnis für einen anderen Menschen aufzubringen. Selbst wenn dieser Mensch die Frau ist, mit der er ein Liebesverhältnis eingeht – was diese Person fühlt, wie sie die Welt wahrnimmt und welchen Wert sie dieser Beziehung zuschreibt, all das kann Alisan in seiner derzeitigen Lage nicht begreifen: "Woher sollte man auch den Anderen verstehen können?" [Aus dem Türkischen: “Başkalarını nereden bileceksin?” Son Adım, S. 107]

Lediglich als Alisan für die Beerdigung in das weit entfernte Heimatdorf seiner verstorbenen Großmutter reist, in dem der Ausnahmezustand herrscht, dort gefangen genommen wird und schließlich an den Folgen von Folter sterben muss, dient ihm der Gedanke an Kader als Halt und lässt ihn die Qualen so lange wie möglich durchstehen.

Besitzen wir eine Sprache, in der wir Zuflucht finden können? Eine Sprache als Indikator dafür, dass wir eine Gemeinschaft sind, die uns mit anderen in Beziehung setzt, uns an sie bindet und uns somit zum Teil eines Ganzen macht: "Eine tote Sprache... eine Sprache, die sich in eine tote Sprache verwandelt, sobald man anfängt, sie zu benutzen; eine Welt, in der Worte nichts lebendig machen – eine trockene Welt, eine trockene Sprache." [Aus dem Türkischen: “Ölü bir dil… konuşur konuşmaz ölü bir dile dönüşen dil, sözcüklerin hiçbir şeyi canlandırmadığı bir dünya; kuru bir dünya, kuru bir dil." Son Adım, S. 197]

Zudem befindet sich Alisan in einem Zustand, in dem er die Sprache seiner eigenen Gemeinschaft immer weniger und nur noch in Bruchstücken versteht. Kurdisch ist eine Sprache, die vom alltäglichen Sprachgebrauch in den Großstädten ausgegrenzt ist – oder um genau zu sein, niemals akzeptiert wurde –, und genau aus diesem Grund wird Alisan auch niemals in den Genuss kommen, in dem warmen Schoß seiner Muttersprache Unterschlupf zu finden.

Wenn der Hauptcharakter Alisan in Der Letzte Schritt eine Allegorie für das Bewusstsein des Autors ist, was hier wohl tatsächlich zutrifft, scheint es für den Autor unmöglich zu sein, einen anderen – imaginären oder konkreten – Ort als das eigene Zuhause zu finden, an dem man sich niederlassen und die gleiche Harmonie und Ruhe finden kann.

Weder das Selbst, die Sprache, die Vergangenheit oder die Zukunft, die Natur oder die Anderen sind dem Zuhause des Autors gleichgestellt. Möglicherweise kann nur die Beziehung mit Kader dem im tödlichen Maße entfremdeten Alisan/Autor eine Lebensgrundlage bieten.

Jedoch reicht es nicht, dies bloß zu erleben, man muss es auch erklären können. Man muss es verständlich machen. Selbst wenn der Autor Einspruch erheben sollte, kann das Einspruchsmittel die Sprache sein. Alisan, der zum Ende des Romans vom Staat verhört und der Folter unterzogen wird, leistet einen im Roman bisher nicht vorgekommenen Widerstand und erhebt Widerspruch. Der Protagonist, der bisher nur in der Beziehung zu Kader seine Existenz anerkannte, belegt mit folgendem Einwand gegenüber seinen Folterern die Tatsache, dass das Leben etwas Verteidigungswürdiges ist: "In dem Menschen gibt es etwas, das unsterblich ist. In dem Menschen gibt es etwas, das man nicht verschwinden machen kann." [Aus dem Türkischen: “İnsanın içinde ölümsüz bir şey vardır. İnsanın içinde yok edilemez bir şey vardır." Son Adım, S. 247]

Alisan, der in seiner Beziehung zu Kader von sich als ein "Ich" spricht, zweifelt ab dem Zeitpunkt, von dem an er sich gegen seine Folterer auflehnt, nicht mehr. Genauso wie in seiner Beziehung zu Kader spricht er, die Verantwortung für seine Sprache und Worte übernehmend, mit der Gewissheit, dass ihm geantwortet wird; und das, was während der Folter ausgesprochen wird und zum Vorschein kommt, sind die unzerstörbaren Lebenskräfte des Menschen.

Wo lässt sich eine Sprache nun nieder? Selbstverständlich im Geist. Das Zuhause des Autors ist allen Einwänden zum Trotz notwendigerweise seine Sprache und sein Geist.

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