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Tanja Dückers
Formen des Verschwindens

„Staub“ heißt der vierte Roman von Svenja Leiber, und so ungreifbar wie der Titel erscheint das neue Land, in das eine fünfköpfige Familie Mitte der 80er Jahre aus Norddeutschland aufbricht. Von Saudi Arabien hat sie wenig und eher naive Vorstellungen. Den Vater, einen Mediziner, treiben hohe ethische Ideale an, bald holt er seine Familie nach. Über die Mutter heißt es, als sie im Jahr 1984 als sehr große weißblonde Frau mit einem Koffer voller Weihnachtsschmuck in Riad, dem „politischen Zentrum des wahhabitischen Königreichs, regiert von König Fahd aus dem Haus Al Saud“ landet, sie hätte „keinen Schimmer, was das bedeutet“ . Die Fremden bleiben die Fremden, und eine Rückkehr ist nicht ohne Weiteres möglich.  Irgendwann, Inshallah, sagt der Scheich, der den Vater aus Deutschland geholt hat, der Vertrag muss erst erfüllt werden...  Die Pässe der Familie hat er in seinem Tresor eingeschlossen. Für die Kinder ist die Zeit zu lang. Das dritte und jüngste Kind der Blaums ist sehr eigen und forderte die Eltern schon in Deutschland heraus... 

Von Tanja Dückers

30 Jahre später reist der zweite Sohn des Arztes – der Erzähler - , nun erwachsen und selber Arzt, nochmal zurück in den Orient, nach Amman und Jerusalem. Er wird länger bleiben als geplant, und der Versuch, das als Kind Erlebte in ein begreifbares Koordinatensystem einzurücken, mündet in ein erneutes, umfassenderes Scheitern... Auf tragische Weise wird sich ein früheres Trauma wiederholen, wieder wird es um ein körperliches Anders-Sein gehen, wieder ein Mensch verschwinden - . Bleiben wird die Wanderdüne.

Das Kafkaesk-Beklemmende bestimmt nicht nur den äußeren Rahmen des Romans. Nichts in „Staub“ kann vorausgesetzt werden, weder das Normativ der Zweigeschlechtlichkeit  oder der Schulmedizin noch festlegende Begriffe und Vorstellungen von „Orient“ und „Okzident“. Wer ein Reisebuch über Saudi Arabien lesen möchte, ist mit „Staub“ falsch beraten. Svenja Leiber ist so klug, weder zu urteilen noch zu glauben, sich dem anderen Land mit Deskriptionswut nähern zu können. Ihr Ansatz ist nicht journalistisch, sondern poetisch und philosophisch. Während der journalistische Ansatz auch im literarischen Werk immer eine Distanz, einen beschreibenden Beobachter voraussetzt, der sein Hirn wie seine Kamera staubfrei und fern hält von seiner Umgebung, so taucht Svenja Leiber ihre Figuren gleichsam in die flirrende Hitze der Wüste ein und lässt sie von dort heraus, aus der Müdigkeit, der Irritation, dem Staub, dem Nicht-Sehen-Können, dem Heim- und Fernweh und der Melancholie der Unbehausten her sprechen und agieren – ob es um „westlichen“ Aberglauben wie um die Zahl 13 geht oder um starre soziale Hierarchien in Saudi Arabien („Er hat, wie viele Bewohner von Riad, sehr bald durch seinen Reichtum die Banken in Griff und kann herrschen, wie er will. Ein Imperialismus, der ohne Kriege auskommt“). Viele Schriftsteller und noch mehr Journalisten versuchen derzeit, sich „dem“ Orient schreibend und beschreibend anzunähern, doch Svenja Leiber, die selber als Kind eine Zeitlang mit ihrer Familie in Saudi Arabien gelebt hat, geht nicht in die Falle des Erklären-Wollens. So finden sich in „Staub“ keine langen Abhandlungen über religiöse Strömungen, stattdessen hat sie Aspekte des „universellen Sufismus“ in ihre Sprache verwoben, in die Struktur des Romans. Ein wichtiger Aspekt der sufistischen Lehre ist, dass die Weisheit erfahren und nicht nur intellektuell erfasst wird. Der Weg der Sufis folgt im Allgemeinen vier Stufen, Auslöschen der Wahrnehmung, Aufgabe des Verhaftetseins an individuelle Eigenschaften, Sterben des Ego, Auflösung in das „göttliche Prinzip“. Durch diese vier Stufen führt der Roman seine Hauptfiguren, ohne dass dies direkt benannt wird. Zwei Kinder, die aus dem Rahmen fallen, die auf ihre Weise jeweils Grenzen zwischen Geschlechtern und zwischen verschiedenen Altersstufen ignorieren, verschwinden. Über ihren genauen Tod erfahren wir nicht viel. Wenn Svenja Leiber etwas vermeidet, ist es Effekthascherei. Voyeurismus bedient dieser Roman, der so viel vom Körperlichen erzählt, nicht. Die Körper werden wieder geheimnisvoll, auch: bedrohlich. Eine Suchterkrankung wird ausgerechnet vom Arzt Jonas Blaum immer stärker Besitz ergreifen. War sein Vater noch vom romantischen Optimismus der späten Siebziger und frühen Achtziger Jahre ergriffen, so verkörpert Jonas Blaum nur noch eine schwermütige Dekadenz. Über seine Vergangenheit, den frühen Tod seiner Schwester und die Desillusionierung der Eltern sagt er über sich: „Ich verstaue mein weniges Gepäck. Was habe ich noch! Gar nichts! Außer Schäden und Zigaretten. Und im  Koffer eine zerbrochene Familie aus Tabletten“. So verkehrt sich der lebensbejahende Materialismusverzicht der Sufis („Sufismus bedeutet, nichts zu besitzen und von nichts besessen zu werden“ – Abu Nasras-Sarradsch) nun in sein Gegenteil, Sucht und Obsession, statt Freiheit Verlustgefühle. Was die Handlung angeht, so findet sich in „Staub“ der ebenso programmatische wie an Märchen erinnernde Satz: „So oder anders ist die Sache vielleicht gewesen“.

Immer wieder finden sich Bilder von ganz eigener sprachlicher Schönheit, die das Saudi Arabien der damaligen Zeit sowie die heutigen Städte Amman und Jerusalem erfahrbar werden lassen. So heißt es über Amman, mit einer augenzwinkernden Kritik an westlichen Subjektvorstellungen: „Draußen singt ein einzelner Vogel, vielleicht eine Nachtigall. Ich habe noch nie eine Nachtigall gehört, oder ich weiß nichts davon. Aber falls es eine ist, dann singt sie sehr schön. Ich lausche so lange auf ihr Lied, bis ich die Schönheit beinahe für mein eigenes Verdienst halte.“ Und über Riad: „Der Gouverneur lebt, wie alle, von Mauern umgeben. Als das Tor sich öffnet, blicken wir in einen großen, für meinen Geschmack etwas theoretischen Garten“.

Svenja Leiber: Staub, Roman, 243 Seiten,  Suhrkamp Berlin 2018
 
© Tanja Dückers, Berlin, im September 2018

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